Der größte Lump im ganzen Land, …

Das Jahr 2010 wird möglicherweise als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die Arroganz der Macht ihr Ende erlebte. In dem Wikileaks die Möglichkeiten, die das Internet bietet, erstmals ausschöpfte und die Supermacht USA an ihre Grenzen trieb – vielleicht auch darüber hinaus. In dem sich abzeichnet, dass nichts mehr mit Sicherheit geheim sein kann. Die Auswirkungen der Wikileaks-Veröffentlichungen dieses Jahres – im Sommer Afghanistan-Kriegsberichte, im Oktober Irak-Kriegsberichte und jetzt, Ende November, die geheimen Depeschen, die US-Botschaften über Politiker der jeweiligen Länder angefertigt haben -, diese Auswirkungen zeichnen sich gerade erst ab. Hauptsächlich dürften sie in einem gewaltigen Vertrauensverlust bestehen. Der größte anzunehmende Unfall für die US-Diplomatie.

Unfall? Eher wohl Katastrophe. Dabei ist das, was US-Diplomaten über deutsche Politiker aufgezeichnet haben, vergleichsweise läppisch. Teflon-Merkel, Seehofer unberechenbar, Westerwelle arrogant und Schmalspur-Außenminister – das wissen wir eigentlich längst alles. Größere Tragweite dürften die Dokumente für den arabischen Raum haben, denn sie verzeichnen unter anderem, dass etwa saudi-arabische Politiker die USA zu einem Militärschlag gegen Iran aufforderten, um zu verhindern, dass Teheran die Bombe baut. Offiziell vertraten diese Politiker genau das Gegenteil. Offiziell heißt hier auch: gegenüber ihren Bevölkerungen. Die erfahren jetzt, dass ihre islamischen Politiker eine Intervention gegen den islamischen Iran wünschten. Die Wikileaks-Veröffentlichungen treiben damit einen Spaltpilz zwischen diese Regierungen und ihre Regierten. Man wird abwarten müssen, welche Folgen das haben wird.

Man erfährt so einiges aus diesen Dokumenten. Auch hier ist manches wenig überraschend (Putin – ein „Alpha-Rüde“), aber die Hemdsärmligkeit, mit der es niedergeschrieben wurde – wenn auch nur für den internen Gebrauch – überrascht dann doch. Die Dokumente gewähren einen Einblick in die Art, wie die USA ihre Gesprächspartner auffassen. Da ist wenig Respekt zu spüren; die Depeschen sind teils gar in schnoddrigem Ton verfasst.

Spannend und wiederum möglicherweise fatal wird es, was China und sein Verhältnis zu Nordkorea betrifft. Da heißt es, China strebe insgeheim eine Wiedervereinigung der beiden Koreas an. Offiziell jedoch stützt das Reich der Mitte den nordkoreanischen Diktator. Wie wird dieser Kriegstreiber reagieren, wenn er bei Wikileaks liest, was die Chinesen für die Zukunft seines Landes planen? Die Wikileaks-Veröffentlichung könnte unmittelbar zu einem neuen Korea-Krieg beitragen.

Musste das also sein, Wikileaks?  Seid ihr zu weit gegangen, wie FR-Kommentator Christoph Albrecht-Heider meint: „Das Siegel der Verschwiegenheit bricht Wikileaks offenbar auch bei Korrespondenzen, die aus nachvollziehbarem Grund geheim bleiben sollten. Ein Diplomat muss in vertraulichen Depeschen an seine Regierung undiplomatisch sein können. Und er kann es nur sein, wenn er nicht befürchten muss, zitiert zu werden. Es gibt Dinge, die der Geheimhaltung unterliegen müssen. Da unterscheidet sich die politische Diplomatie nicht von anderen Betrieben.“ Oder habt ihr der Welt einen Dienst erwiesen, wie Arno Widmann im Leitartikel meint: „Es ist gut, dass diese Geheimräume immer wieder aufgebrochen werden. In den seltensten Fällen haben wir den Regierenden dann dabei zusehen können, wie sie Gutes taten, ohne darüber zu sprechen. (…) Hätte Wikileaks im März 2003 die geheimen Unterlagen der Bush-Regierung veröffentlicht, hätte der britische Premier Tony Blair sich im Kabinett nicht gegen den starken Widerstand durchsetzen können.“

Wo liegt die Verantwortung für diese Katastrophe? Bei den US-Diplomaten, die jene Dokumente anfertigten – so wie wohl alle Diplomaten aller Länder das tun? Oder bei Wikileaks, das diese Dokumente weitgehend ungefiltert publiziert? Bei den US-Sicherheitsleuten, diese Daten nicht sicher speichern konnten? Oder bei dem, der diese Daten gestohlen und Wikileaks zugespielt hat?  Wie wird diese Veröffentlichung die Welt verändern?

Sebastian Neuber aus Gelnhausen meint:

„Die Geister, die ich rief – anders kann man diesen Umstand wohl kaum betiteln. Der aufgeblähte Geheimdiesnt der USA sammelt Daten weltweit und unternimmt alles um möglichst geheime Strategien für die Zukunft der USA und den Rest der Welt zu entwerfen – und nun droht ihnen das Schicksal mit der Wahrheit über das, was so im stillen Kämmerlein entschieden wird. Ob es richtig ist, es zu veröffentlichen oder nicht, darüber kann ich selbstverständlich nicht urteilen – doch selbst ich habe in meiner Kindheit gelernt – „Ehrlich währt am längsten“ und „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ – ich bin ernsthaft gespannt, wie sich „God’s own country“ da wieder rauswinden will. „Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit sind die Eltern der Geschwister Frieden und Freiheit!“ – In diesem Sinne – an die Arbeit!“

Florian Gils aus Frankfurt:

„Alleine schon daß Wikileaks´ Ankündigung bereits solch hysterische Reaktionen zur Folge hat, ist der beste Beleg, wieviel Dreck die internationale Diplomatie am Stecken hat. Umsomehr ist Wikileaks´ Vorgehen zu begrüßen. Wenn künftig Regierungen und Politiker jederzeit damit rechnen müssen, daß ihre Tricksereien, Lügen, Übervorteilungen, national(istisch)e Egoismen und sonstige widerrechtliche Handlungen vor den Augen der Weltöffentlichkeit ausgebreitet werden könnten, überlegen sie sich ja vielleicht künftig besser, wie sie miteinander umgehen. Das wäre zweifellos der erste Schritt zu dem ehrlichen, offenen und konstruktiven Miteinander, das auf diesem Planeten so dringend notwendig ist, um seine Probleme zu lösen! Zugegeben, das ist ein Traum – aber wo wäre der Mensch heute ohne seine Träume, die ihn immer wieder vorangebracht haben?“

Wolfram Mertin aus Diessen:

„Warum diese ganze Aufregung um diese „Enthüllungen“? Die amerikanischen Einschätzungen der deutschen Regierungsmitglieder, ist für uns doch nichts neues. Das herr Westerwelle ein Dampfplauderer ist und Frau Merkel das gute Sitzfleisch und die mangelnde Kreativität von Herrn Kohl geerbt hat weiss doch jedes Kind. Und wo ist das neue „neue Denken“ von Herrn Westerwelle, was er versprochen hat?“

Werner B. Fitzner aus Schöneck:

„Nun ist es wieder soweit und es werden, dank Wikileaks, geheime Dokumente sowie Einschätzungen über Persönlichkeits-Profile ausländischer Politiker, durch US-Botschaften, der Öffentlichkeit  zugänglich. Offensichtlich sind diese brisanten Dokumente einem Datenleck in der US-Administration geschuldet, bedenkt man, wie viele Personen auf  die z. T. geheimen Informationen zugreifen können.
Dessen ungeachtet kann man derartige „Enthüllungen“ fast täglich in den  Printmedien lesen. Darüber hinaus soll es auch in der Bundesregierung genügend „Plaudertaschen“ und Wichtigtuer geben, die vertrauliche Gesprächsprotokolle direkt an die US-Botschaft „frei Haus“ liefern.
In dem jüngst erschienen Buch „Obamas Wars“, vom Watergate-Journalist der Washington Post, Bob Woodward, kann man authentische vertrauliche Gesprächsprotokolle  des Nationalen Sicherheitsrates der USA nachlesen. So sind herab würdigende Äußerungen über den afghanischen Präsidenten Hamid Karzai sowie den pakistanischen General Ashfaq Kavani zu erfahren. Auf Seite 135 äußert sich der Nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, General Jim Jones, abfällig über die Truppen-Entsender:  „Wir, die Amerikaner und Briten machen die Arbeit, die Franzosen stehen herum, die Deutschen wollen nicht kämpfen, aus diesem Grund brauchen wir sie nicht“.
Schließlich und endlich, nicht die brisante Veröffentlichung vertraulicher Dokumente ist das Problem, sondern der Umgang mit diesen. Frei nach Bert Brecht: „Also ist der Vorhang  zu und alle Fragen offen“.“

Albert Alten aus Wernigerode:

„„Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der  Denunziant“, merkte einst der deutsche Dichter Hoffmann von Fallersleben treffend an.  Dennoch sollte sich die Empörung über die Internet-Plattform WikiLeaks, auf der anonym Dokumente veröffentlicht werden, bei denen ein öffentliches Interesse existiert, in Grenzen halten. Die Einschätzungen zu Bundeskanzlerin Merkel (CDU) und ihren Vize-Kanzler Außenminister Westerwelle (FDP) in den Depechen sind kritisch und dennoch zutreffend:  FDP-Chef Westerwelle wird keine bleibenden Spuren als Außenminister hinterlassen und seinen Parteikollegen und Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher nicht überholen, weil er nicht in seine Fußstapfen treten kann – die sind ihm einfach zu groß.  Bundeskanzlerin Merkel hingegen macht seit Jahren von ihrer im Grundgesetz verbrieften Richtlinienkompetenz keinen Gebrauch. Sie sitzt die politischen Probleme wie ihr großes Vorbild Ex-Kanzler Helmut Kohl einfach aus.“

Hans C. Frank aus Teófilo Otoni, Brasilien:

„Bisher war ich durchaus ein Fan der „Wikileaks-Bewegung“, nach diesem Vorgehen muss ich jedoch davor warnen alles als gut zu bewerten, was dort getan wird. Diplomatie ist ein schweres und schwerwiegendes Geschaeft. Wir alle lernen es bereits in userer Jugend in schwierigen Verhandlungen mit unseren Eltern. Diplomatie verhindert die Krise. Hier werden Worte gesagt, die nur selten etwas mit dem Gedachten ingemein haben. Worte, die gesagt werden duerfen. Was sich gehoert und was man zu gegebenem Zeitpunkt sagen kann und sollte liegt sehr oft sehr weit von dem entfernt, was man gerne sagen wuerde. Diplomatie ist ein Spiel – ein Spiel das sehr oft zu ungeahnten und positiven Erfolgen fuehrt. Wir sehen im Moment den Konflikt auf der koeranischen Halbinsel – dieser kann und muss nur auf diplomatischem Wege geloest werden. Jede andere Alternative waere fatal. Ich halte die Veroeffentlichungen in Wikileaks nicht fuer erschreckend, vielmehr erzeugen sie ein Grinsen, denn Neuheiten bringen sie auch nicht. Ich halte sie aber durchaus fuer unerhoert – es darf nicht passieren, dass das, was aus diplomatischen Gruenden nicht gesagt wird, auf solch falsche Weise (und vielfach auch falsch interpraetiert) an die Oeffentlichkeit geraet. Demokratie und Ueberschaubarkeit der Politik, die wir alle wollen und verdienen, duerfen oder sollten nicht derart falsch verstanden werden. Diese Veroeffentlichungen werden ganz ohne Zweifel jede Art diplomatischer Verhandlungen in Zukunft erschweren. Ob das das erklaerte Ziel Wikileaks‘ ist, wage ich im Moment noch zu bezweifeln. Im Moment.“

Angela Scherer aus Mainz:

„Infos vom Typ der Beurteilungen irgendwelcher PolitikerInnen, die da jetzt mit Riesenbohei in die Weltgeschichte gelangen, sind ja eher läppisch. Was ist noch drin, was mehr Substanz hat? Wie wäre es mal mit der Offenlegung von Verträgen in den weltweit verbreiteten sog. Public Private Partnerschips, in denen ParlamentarierInnen und sonstige BürgerInnen hintersLicht geführt wurden und werden, weil es sich beim Verscherbeln von Ressourcen und Gemeingütern angeblich um Geschäftsgeheimnisse (natürlich der beteiligten Konzerne) handelt?“

Georg Grimm aus Groß-Umstadt:

„Die Enthüllungen über die US-Diplomatie zeigen meiner Ansicht nach eines: Unsere deutsche Regierung ist im Grunde unfähig, aber dafür eitel und arrogant. Nichts neues also bezüglich deutscher Regierungen der letzten einhundert Jahre. Die Amerikaner haben es immer gewusst und jetzt weiß es auch der blödeste Deutsche. Aber warum regen wir uns darüber so auf ? Wer sich die Bilanz dieser Bundesregierung seit der Bundestagswahl vor Augen führt, hat es doch wissen müssen. Dazu brauchen wir eigentlich kein Wikileaks.“

Otto Bronnert aus Bielefeld:

„Da sage noch einer, die Arbeit vor allem der Stasi und anderer wie der KGB ist nicht zu toppen. Haben sich die Amis nach Wegfall der Mauer bei Ausbildern von Stasi und KGB bedient, um u.a. das diplomartische Personal in den USA zu schulen? Und da lamentiert man über die illegalität der Veröffentlichung. Hat nicht gerade eine US Aussenminsterin verfügt, die UNO Führung illegal auszuspähen. Das reiht sich nahtlos darin ein, das Bush seinerzeit Foltermethoden für legitim hält, nur dürfen sie nicht auf dem Boden der USA stattfinden. Wie war das noch mit Herrn Kohl, seinerzeit Bundeskanzler, er hat bis heute sein Ehrenwort über das Grundgesetz gestellt. Was soll es, wenn über die derzeiten schwatzkopfgeld Sumpfpolitiker wenig schmeichelhaftes zu lesen ist. Die Reaktion dieser „politischen Elite“ (igitt) zeigt ja in die richtige Richtung: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.“

Stefan Vollmershausen aus Dreieich:

„Zu dem neuesten Wikileaks Coup meine ich, dass dabei die Wut der angelsächsischen Welt auf die gesellschaftliche Hierarchie in den USA eine Rolle spielt. Der amerikanische Wähler hat gerade einmal die Auswahl zwischen zwei Übeln, Republikaner oder Demokraten, und ohne eigenes Geld ist man chancenlos. Der Niedergang der demokratischen Kultur war ja in den Bush-Jahren besonders deutlich und frappierend. Der Irakkrieg wurde durchgepeitscht gegen die UN und die allgemeine Stimmung auch der Verbündeten  wie Deutschland und Frankreich. Die Geheimdossiers der diplomatischen Vertretungen über die jeweiligen Regierungen der Gastländer stellen einen Wissensvorsprung der US Regierung gegenüber  dem eigenem  Volk dar. Das ist basisdemokratisch gedacht von Wikileaks, dies dem amerikanischen Bürger zugänglich zu machen. Sicherlich besteht Bedarf an Basisdemokratie besonders in den USA, aber ich halte diese Veröffentlichung für den falschen Weg. Ich persönlich hätte auch etwas dagegen, dass Vertraulichkeiten ohne mein Einverständniss im Internet veröffentlicht werden.“

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17 Kommentare zu “Der größte Lump im ganzen Land, …

  1. Wieder mal musste ich über Bronskis Einleitung stellenweise herzlich lachen. „Wenig Respekt“ gegenüber unseren Politikern, aha. Bloß gut, daß die deutschen Medien, wie z.B. die FR, sich im Gegensatz dazu größte Mühe geben, den Respekt gegenüber unseren Politikern zu kultivieren und jegliche Schnoddrigkeit stets zu vermeiden.

    Die weiteren Einschätzungen teile ich überhaupt nicht. Wie weit Schiiten und Sunniten sich als „Brüder im Islam“ verstehen können, zeigt der Irak. Man geht sich gegenseitig an die Gurgel. Die sunnitischen Moslembrüder, um eine wichtige islamistische Organisation zu nennen, bezeichnen die Schiiten als „Glaubensabtrünnige“, und das ist unter Islamisten keine Schmeichelei. Auch jenseits der Religion haben Araber und Perser sich nicht unbedingt als Brüder empfunden, weder in der Vergangenheit, noch heute. Als Gemeinsamkeit bleibt im Grunde nur die geteilte Abneigung gegen Israel. Wenn also Regierungsmitglieder arabischer Länder sich gegen den Iran positionieren, so ist die Frage, ob sie dies in den Augen des sunnitischen Bürgers kritikwürdig macht oder ob nicht doch eher das Gegenteil der Fall ist.

    Auch bzgl. Nordkorea sehe ich die Sache völlig anders. Würde sich Nordkorea Illusionen machen bzgl. der Festigkeit, mit der China auf ihrer Seite steht, würde das einen militärischen Konflikt viel wahrscheinlicher machen. Ohne China im Rücken zu haben hingegen einen militärischen Konflikt zu beginnen, das wird doch der „Geliebte Führer“ nur in einem Fall wagen… wenn er völlig den Verstand verloren hätte. Auch wenn man manchmal den Eindruck gewinnen könnte… soweit ist er noch nicht. Die Desillusionierung Kim Jong-Ils bzgl. China ist also eher ein Dienst für den Frieden als seine Gefährdung.

    Zur Schuldfrage: Um eine Mitschuld kommen die technischen Betreiber der geplünderten Datenbanken nicht herum. Man hätte es einrichten können, daß ein „User“, d.h. eine konkrete Person, die sich dem System gegenüber identifizieren muß, nur eine bestimmte Maximalzahl von Depeschen pro Tag abfragen kann, sagen wir 25. Um 250.000 Depeschen zusammen zu bekommen, hätte der Betreffende dann 10.000 Tage (= 27 Jahre) diese Daten sammeln müssen, Tag für Tag ohne jemals krank zu werden die maximalen 25, 27 Jahre lang… Eine solche Abfragebegrenzungsmaßnahme hätte den Klau von Daten natürlich nicht völlig verunmöglicht, aber man hätte den Umfang der Daten jedenfalls ein wenig begrenzen können.

    Schade ist natürlich (aus meiner Sicht, nicht aus US-Sicht), daß die Daten nicht vollständig zu sein scheinen. Die Depeschen haben (pro Vertretung oder Konsulat) eine laufende Nummer, und es gibt im veröffentlichten Material große Lücken zwischen diesen Nummern. Es wird ja immer so getan, als wäre jetzt irgendwie „alles“ verraten worden… aber mir scheint es so, als wären es eher 5 oder 10% des Gesamtverkehrs. Oder ich täusche mich hinsichtlich der konkreten Verwendung dessen, was immerhin auch der Spiegel „Seriennummer“ nennt (und eine Serie mit Lücken wäre seltsam).

    Als ich mal ein kleiner Junge war, hatte ich u.a. auch das Hobby des Kurzwellen-Fernempfangs. Mit einem ratternden Fernschreiberungetüm, aber auch über eifriges Mitschreiben von Morsenachrichten verfolgte ich, neben Wetterdiensten, Presseagenturen, Schiffahrt, Interpol usw. auch den Nachrichtenaustausch zwischen den Botschaften. Damals lief sehr viel davon noch über KW-Funk, was heute natürlich nicht mehr der Fall ist. Da natürlich alles verschlüsselt war (als Ausnahme erinnere ich Algerien, wo weniger wichtiges auch mal offen gemorst kam, meine ersten Französischstudien), musste ich relativ schnell trotz und wegen der Lektüre mehrerer Kryptografiebücher realisieren, daß ich wohl nie erfahren würde, was in diesen mitgeschnittenen Depeschen im Klartext steht. Daß es mal ganz anders kommen könnte, hätte ich mir nie träumen lassen.

  2. Max Wedell, Sie scheinen kein Kenner des Nahen Ostens oder der arabischen Mentalität zu sein. Die Araber mögen untereinander zerstritten sein, aber ihre Verbundenheit mit „dem Westen“ schwindet, wenn „der Westen“ sich gegen Glaubensbrüder wendet. Ein Militärschlag der USA gegen Iran würde in jedem Fall Krieg bedeuten, der die ganze Region innerlich zerreißen würde. Wenn diese Menschen jetzt per Wikileaks hören, dass ihre politischen Führer eben das von den USA erbeten haben, dann bedeutet das nichts weniger, als dass Wikileaks Feuer an die Lunte gelegt hat.

    Zum Thema Respekt: Auch da haben Sie, glaube ich, nicht verstanden, worum es geht. Im transatlantischen Verhältnis wird offiziell immer wieder die Partnerschaft betont, die Verbundenheit. Das bedeutet Respekt. Wenn die Bündnispartner nun die respektlosen Einschätzungen lesen, dann ist das auf jeden Fall ein Problem. Es bedeutet, dass die Amerikaner untereinander anders über die Europäer reden und denken, als sie mit den Europäern zu reden vorgeben. „Teflon-Merkel“ ist natürlich eine treffende Metapher, aber eine sachliche Einschätzung und Analyse müsste sich ganz anderer Formulierungen bedienen. Noch extremer finde ich das beim „Alpha-Rüden“. Putin mit einem Hund zu vergleichen, hat natürlich was. Es ist aber auch erniedrigend. Also, wenn die Amerikaner anders über ihre deutschen Verhandlungspartner denken, als sie es offen zu erkennen geben, dann ist das ihre Sache, so lange es unter Verschluss bleibt. Aber wenn es öffentlich wird, ist das eine Demütigung. Und das ist etwas völlig anderes, als wenn unsere Presse kritisch über Regierungsmitglieder schreibt.

  3. Auch Wikileaks wird eines Tages an den Meistbietenden verkauft werden und wir alle werden die Zeche bezahlen.

    Vermutlich werden wir irgendwann feststellen, daß die Zäune am Wegesrand nicht immer bloss der Einschränkung der Freiheit, sondern auch oft dem Schutz der Freiheit dienen.

    Wikileaks brüstet sich, der Wahrheit zu dienen, letztendlich dient es aber der totalen Überwachung.

    Big Brother im Partisanenoutfit.

  4. @Mathias,

    die Auffassung, die USA müsste gegen Iran militärisch eingreifen, kam ja nicht aus allen arabischen Staaten, sondern explizit wurde ihr ja nur in einigen Golfstaaten Ausdruck verschafft, soweit ich weiß. Dort haben konservativ-dogmatische islamistische Bewegungen eher wenig Einfluß. Weitverbreitet ist dort auch eine wenn nicht ausgesprochene Bewunderung der USA, so doch jedenfalls des American Way of Life… einem kritiklosen Konsumismus zu frönen ist da für viele Bürger wichtiger als irgendeine „muslimische Solidarität“, und dann auch noch mit Schiiten! Des weiteren liegen die Golfstaaten territorial ganz in der Nähe des Iran. Nicht zuletzt ist die aktive Einflußnahme des Iran auf Geschehnisse jenseits seiner Grenzen ganz manifest (finanzielle Unterstützung, Waffenlieferungen etc.), sowie daß diese Einflußnahme gegen Sunniten gerichtet ist, jedenfalls im Irak. Das ergibt zusammen mit der geographischen Nähe eine reale und von vielen Menschen in den Golf-Staaten auch empfundene Bedrohung. Ich halte die Gefährlichkeit der bisherigen Leaks in dieser Sache jedenfalls für sehr übertrieben, aber die nächsten Monate werden es ja zeigen, ob und wie schnell man auch wieder zur Tagesordnung übergehen wird.

    Was den Respekt angeht: Daß die Bezeichnung „Alpha-Rüde“ deswegen verächtlich gemeint ist, weil der so bezeichnete mit einem Hund verglichen werden soll oder weil dieser sogenannte „Hundevergleich“ gar „erniedrigend“ ist, ist ja eine ganz lustige Idee… aber leider völlig daneben. Ein „Alpha-Rüde“ ist ein stehender Begriff für einen Bestimmer, für jemanden, der sagt, wo’s langgeht, für den Scheff! Putin jedenfalls wird einen Teufel tun, wegen dieser Bezeichnung eingeschnappt zu sein, ganz im Gegenteil, sie wird ihm schmeicheln. Erst alles mögliche tun, um den Eindruck des Alpha-Rüden abzugeben… oberkörperfreies Kampfangeln am Jenissej, Waljagd im Schlauchboot, im Rallywagen quer durch Rußland etc…. und dann beleidigt sein, wenns geklappt hat? Nie und nimmer!

    Neulich sagte mir jemand einmal (die weiteren Begleitumstände lasse ich jetzt mal weg): „He, du bist ja ein richtiger Hahn im Korb!“ Ich war natürlich sofort eingeschnappt, daß mich jemand mit einem Federviech verglichen hat und mich damit ganz offensichtlich erniedrigen wollte… 😀

    Es ist wichtig, daß Diplomaten ans jeweilige Außenministerium Diagnosen abgeben, die die Realitäten gut treffen. Auf „Respekt“ sollte da weniger geachtet werden als auf Passigkeit. Wenn (jetzt mal ein total fiktiver Fall) Staat B eine traditionell außerordentlich gute Beziehung zu Staat A hat, aber leider eine Niete zum Außenminister bestellt, dann kann doch niemand „im Interesse der guten Beziehungen“ darauf pochen, daß der Botschafter von A den Sachverhalt nicht in klaren Worten nachhause melden darf… es wäre absurd, solches zu erwarten.

    @BvG,

    Bei den Depeschen, die über Treffen von Staatsmännern berichten, muß man sich doch eins klarmachen… der Bürger hat sie von hinten bis vorne bezahlt (Und alle andern übrigens auch). Er bezahlte die Hauptdarsteller, er bezahlte die Dolmetscher, er bezahlte die Flüge/Autofahrten dahin, er bezahlte das Hotel/Miete/Gebäude, in dem das Treffen stattfand, er bezahlte das Mineralwasser und die Blumen, er bezahlte die Personen, die die Zusammenfassungen anfertigten und abschickten, er bezahlte die Computer, auf denen das alles gesammelt wird. Sie sind nicht der Meinung, daß der Bürger für die Komplettfinanzierung dieser Veranstaltungen mal etwas mehr Einblick bekommen sollte, um die Finanzierungswürdigkeit des Ganzen sicherzustellen?

    „totale Überwachung“… „Big Brother“… altbekannte Begriffe für eine Überwachung des Bürgers durch den Staat. Sie jetzt in einem Kontext verwendet zu sehen, wo de facto eine Überwachung des Staates durch den Bürger stattfindet, ist reichlich amüsant. „Big Citizen“ oder wie soll man das jetzt nennen?

    Ein künftiger Verkauf von Wikileaks ist nicht so problematisch wie ein vergangener. Die Frage muß gestellt werden, wer Wikileaks Aufwendungen, also mindestens den Betrieb der Websites, bezahlt. Dann müsste natürlich auch Wikileaks überwacht werden, z.B. um zu kontrollieren, ob nicht doch etwas gefiltert, d.h. weggelassen wird, bzw. wenn ja, was…

    Es kursieren ja schon die merkwürdigsten Theorien diesbezüglich. Manchen stößt merkwürdig auf, wie „gut“ doch Israel bisher dabei wegkommt. Der US-Moderator Glenn Bleck wittert eine von George Soros finanzierte Personengruppe hinter Wikileaks. Sein Kollege Savage erkennt eine ganz klare sozialistisch-kommunistische Agenda in der Auswahl des bisher Veröffentlichten, die allerdings nicht einfach nachzuvollziehen ist. Die Verschwörungstheorien grassieren jedenfalls kräftig in den USA…

    Manches erscheint tatsächlich etwas merkwürdig. Z.B. wie kann Wikileaks überhaupt noch im Web präsent sein? Daß z.B. die NSA nicht die Möglichkeiten eines modernen Cyberwars ausschöpfen könnte, im unelegantesten Fall eine Art Dauer DoS-Attacke (bzw. DDoS/DRDoS usw.) ist nicht zu glauben. Warum lassen Sie Wikileaks dennoch zu? Wikileaks sollte schnellstmöglich die kompletten Daten zum Download freigeben, solange sie im Web überhaupt noch präsent sein können.

  5. @Mathias,

    und? Die Wahhabiten waren wichtige Geldgeber im Ersten Golfkrieg… für Hussein, gegen den Iran. Saudi-arabische Wahhabiten spielen eine wichtige Rolle in Al-Qaeda, und Al-Qaedas wichtigste Objektive im Irak momentan ist: Marginalisierung der Schiiten… mit Waffengewalt natürlich. Aber auch ihr Argument, gegen den Westen könne man dann das Gegeneinander in ein Miteinander wandeln, wird durch die Realität Lügen gestraft, z.B. in Afghanistan. Wenn Iran die schiitischen Bevölkerungsgruppen (Hazara) ebenfalls gegen den Westen aufhetzen würden, sie so mobilisieren und auf- und ausrüsten wie die Glaubensbrüder im Irak, dann wäre das für die westlichen Truppen ein Riesen-Problem. Tun sie aber nicht… Die schiitischen Landesteile, in denen die Bevölkerung ebenfalls vorwiegend persisch spricht (Dari, ein Dialekt) gehören mit zu den letzten Landesteilen, in denen sich die Alliierten noch einigermaßen sicher fühlen können. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die afghanischen Schiiten sich noch gut an das Massaker der Taliban von 1998 gegen sie erinnern, und auch an die sonstige brutale Verfolgung durch die Taliban während deren Regime. Hier entsteht momentan sogar die interessante Situation, daß der Westen bzw. Karsai (mit Vermittlung der saudischen Wahabiten übrigens) Verhandlungen mit den Taliban angefangen haben. Für den Fall, daß diese Verhandlungen mit den Taliban (überwiegend Pashtunen) einen Waffenstillstand ergeben, haben Schiiten, Tadschiken und Usbeken schon ihren Widerstand angekündigt… Soviel zu einer „gemeinsamen Front gegen den Westen“.

    @Sarah,
    Ihre Frage verstehe ich nun überhaupt nicht.

  6. Da jammert die deutsche Regierung über die Veröffentlichung von wikileaks rum, dass das „rechtswiedrig erworbene Daten sind“. Toll, als die Regierung die Daten von den schweizerischen CD’s gekauft hat war das alles in Ordnung, jetzt, wo sie selber am Pranger stehen, ist das auf einmal höchst bedenklich. Ich kann nur Sagen, was für Heuchler.

  7. Wer sich anschaut, wie in den USA mit dem politischen Gegner umgegangen wird, muss zwangsläufig auf den Gedanken kommen, dass die Republikaner ihre Informanten an bestimmten Stellen der Administration immer noch sitzen haben. Es gibt alle 2 Jahre in den USA Wahlen, die den politischen Gegner animieren, die andere Seite als Geheimnisverräter bzw als unfähig zur Geheimhaltung darzustellen. Die Teapartybewegung der Sarah Palin hat dies ja grade wieder bestätigt.

  8. Seien wir doch froh! Wikileaks hat uns gezeigt: Amerikas Diplomaten haben einen klaren Blick und lassen sich nichts vormachen! Was wäre, wenn in den Dossiers z. B. Berlusconi als ernsthafter, um sein Land besorgter Politiker eingeschätzt würde, Putin als Papiertiger und Guido Westerwelle als erfahrener Diplomat? D a n n erst müssten wir besorgt sein, so können wir ruhig schlafen: die haben den Durchblick.

  9. @Werner Thiele-Schlesier,

    in USA geht man mit dem politischen Gegner nicht wesentlich anders um als in Deutschland. Die „Teapartybewegung der Sarah Palin“ ist auch falsch ausgedrückt. Sarah Palin hat weder bei der Entstehung der Bewegung eine direkte Rolle gespielt noch wird die von ihr auch nur ansatzweise gesteuert, eher umgekehrt. Daß eine „Geheimhaltungsfrage“ bei US-Wahlen eine besondere Rolle spielt, ist mir auch noch nicht aufgefallen. Ebenso fällt die Teapartybewegung, die sonst jede Gelegenheit für Obama-Bashing begierig aufgreift, momentan nicht dadurch auf, diese Leaks Obama anzulasten. Es erschiene selbst dem durchschnittlichen Teaparty-Anhänger auch wohl etwas zu primitiv, zu behaupten, daß diese Panne unter einem anderen Präsidenten nicht hätte passieren können.

  10. @wedell
    Der Witz ist, daß man bei der amerikanischen Regierung oder sonstigen Regierungen nachfragen müsste, ob die Daten authentisch sind.

    Das sagt doch wohl alles.

  11. @BvG,

    also zumindest die Depesche, die von der de facto-Spionage eines FDP-Mitglieds in den Koalitionsverhandlungen berichtete, scheint authentisch gewesen zu sein… und um das rauszukriegen musste man gar nicht mal in USA nachfragen… 🙂

    Es wäre jetzt wichtig, daß Wikileaks die Depeschen mal komplett veröffentlichen würde. Bisher wurden von den ständig behaupteten 251287 Depeschen gerade mal… 667 veröffentlicht. Das sind 0,2% des gesamten Materials. Die Zeit für Wikileaks läuft nämlich ab… die Abschaltung der org-Domain ist ja ein erstes, noch harmloses Zeichen. Bald werden ganz andere Probleme auftauchen… nämlich daß man ganz einfach nirgendwo mehr Serverspace bekommen wird. Hier unterscheidet sih nämlich Wikileaks von den üblichen Nazi-/Software-, Film-, Song-Diebstahl-/Kinderporno-Seiten… letztere finden immer irgendwo auf der Welt noch ein Plätzchen, wo sie sich sicher fühlen können… zur Not irgendwo in Rußland oder China. Das wird bei Wikileaks nicht funktionieren, da ja die „Geschädigten“ nicht nur die USA sind, sondern alle Länder mit amerikanischen Vertretungen. Keines dieser Länder wird also diese Server dulden. Die Server in Frankreich werden bestimmt nicht mehr lange laufen. Und Somalia hat wohl leider noch keine vernünftige Internet-Infrastruktur.

    Es wird also bald vielleicht noch Schweizer- oder andere Domains geben, aber ganz einfach keine Server mehr. Es sei denn, sie verteilen die Daten endlich mal an alle. Dann ist jeder Computer weltweit ein potentieller Server. Gegen diese Verteilung der Daten, ist sie erstmal erfolgt, kann keine Regierung der Welt anstinken.

  12. P.S.

    Ich habe den Eindruck, daß sie wenigstens aber einmal jede Depesche, die sie veröffentlichen, selber gelesen haben wollen, um sicherzugehen, da nicht einen versteckten Weltkriegsgrund durchzulassen. Und das offensichtlich mit ein paar wenigen Leutchen, die auch zum Großteil Englisch nicht als Muttersprache haben… wenn sie so weitermachen, sind sie in 10 Jahren dann fertig…

  13. FR schreibt, wie sehr sich Erdogan über die Anschuldigungen lt. Wikileaks empört. Aber ich kann mich nicht daran erinnern dort gelesen zu haben, was man ihm denn vorwirft.

    Als SPIEGEL-Leser habe ich das natürlich gelesen. Demnach ist der Türken-Premier korrupt, islamistisch und inkompetent. Er soll gesagt haben: „Demokratie ist wie ein Zug, wenn wir an der Station sind, wo wir hin wollten, steigen wir aus“. Auch der Staatspräsident Gül kommt nicht viel besser davon. Am schlimmsten ist danach der Außenminister Davutoglu, der ausgerechnet „Andalusien“ zurückhaben will. Dabei gehörte es vom 7. – 14. Jahrhundert den nordafrikanischen Mauren – zu einer Zeit als die Türken in Kleinasien noch keine Rolle spielten. Zu allem Überfluss will er noch Revanche für die Niederlage von 1683 vor Wien. Da sollte man ihn fragen, was ist mit dem ebenfalls gescheiterten Versuch von 1529 und war da nicht noch die Riesenniederlage bei Lepanto ?

    Das ist doch nur eine Bestätigung bekannter Tatsachen! Warum hat FR das nicht gebracht? Stand da etwa PC im Wege? Fakten müssen an die Öffentlichkeit – auch wenn es wie in diesem Fall Konsequenzen haben könnte. Denn so wie sich die Türkei zur Zeit präsentiert kann sie nicht Mitglied in der EU werden.

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