Ich ließ die rappelkurzen blondgefärbten Jean-Seberg-Haare wachsen

Projekt 1968.

Ich ließ die rappelkurzen
blondgefärbten Jean-Seberg-Haare wachsen

Von Chris Hauf

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Sie hat die Welt abbestellt. Nach Phasen für die Süddeutsche, sehr kurz einmal die WAZ, hat sie sich für diese Zeitung mit der grünen Schrift, die Frankfurter Rundschau entschieden, ohne ihren versorgenden Alleinverdiener zu fragen, aber das war ok, das Wort Gleichberechtigung hatte sich, zögerlich zwar, aber immerhin auch in die mittelgroße rheinlandpfälzische Bäderstadt vorgewagt.

Chris Hauf Karmann 1968Hin und wieder hält sie ihm einen Artikel unter die Nase und weist – gern auch mit spitzem Zeigefinger – darauf hin, dass sich was tut in den Metropolen. Lies mal, in München gehen die Studenten auf die Straße. In Berlin laufen sie in Reihen eingehakt und rufen Ho Chi Minh. Und nicht nur ein kleiner Haufen von zwanzig oder dreißig. Hunderte sind es – und es werden immer mehr. Sie macht ihr ‚Sag was-Gesicht’ und schaut herausfordernd. Fragezeichen in den Augen. Erzähl mir später, sagt er, und nennt sie  – und damit ist sie einverstanden – die belesenste, bestinformierte und meistfotografierte Hausfrau in Bad Kreuznach und beneidenswert glücklich zwischen all den Stapeln an Bedrucktem, Lesbarem. Büchern aus dem Buchclub, Zeitschriften von Spiegel, Stern, über Quick, Bunte und Twen bis Bravo, ausgeliehen vom 15-jährigen Nachbarsjungen.

Chris Hauf im Jahr 1968
nach dem Ende der Jean-Seberg-Frisur.
Foto: privat.

Und sie hört Radio. Den ganzen Tag. Meist Radio Luxemburg. Englisches Programm bis Mittag. Dann auf deutsch. Mit Moderatoren, die mit im Wohnzimmer sitzen und zur Familie zu gehören scheinen.

Und immer wieder versucht sie subtil ihren Mann für die Idee zu gewinnen, wieder arbeiten zu gehen. Halbtags wenigstens. Ja, sie muss ihn fragen, denn erst knapp zehn Jahre später wird das Gesetz gekippt, nach dem sie – die junge Frau und Gattin – einen Arbeitsvertrag zwar unterschreiben, er – der junge Mann und Gatte, Alleinverdiener und Familienoberhaupt – ihn aber – im schlimmsten Fall – einseitig kündigen darf. Wir schreiben das Jahr 1967!

Sein Argument: Du musst nicht Mit-Arbeiten! Wir haben das nicht nötig! Ich verdiene ausreichend für beide und bin im Übrigen mittags zu Hause! Und du bist doch so gern im Schwimmbad an den Salinen und wenn du willst schaffen wir ein Fernsehgerät an, aber das will ich nicht, ich finde das spießig. Aber hin und wieder „Die Lach- und Schießgesellschaft“ und „Notizen aus der Provinz“ mit Dieter Hildebrandt gucken bei den Nachbarn, bis die Nationalhymne verklingt. Einigkeit und Recht und Freiheit. Darüber denke ich nach. Über die Freiheit. Im übertragenen Sinn.

Ich lasse die rappelkurzen blondgefärbten Jean-Seberg-Haare wachsen. Trage Hosenanzüge. Schlaghosen. Miniröcke. Indische Seidentücher und riesengroße Sonnenbrillen. Ich weiß wer Fritz Teufel ist und Rainer Langhans.Und der Satz von der Wahrheitsfindung geht mir flüssig über die Lippen. Die EsPeDe gewinnt die Wahl. Knapp. Sozialliberale Koalition. Benno Ohnesorg wird ermordet. BHs und Krawatten fliegen auf den Müll der Geschichte

Ich bin unruhig. Und bedauere, damals, 1963, nicht nach Berlin gezogen zu sein. Das war eine Option. Für das junge Paar. Aber das Eingeschlossensein in dem Riesendorf in Brandenburg, frisch ummauert und noch keine gesamtdeutsche Hauptstadt, schreckt ab.

Aber jetzt ist es Zeit. Zeit für Veränderung. Auch um den Preis der materiellen Sicherheit.

Sie wird es tun. Wird gehen. Schon bald.

In eine der Metropolen …

 

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Die Autorin

Chris(tine) Hauf, geb. 1935,
lebt in Frankfurt am Main.


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