Ich wollte mehr persönliche Nähe, Austausch und eine menschlichere Kirche

Frankfurter Rundschau Projekt

Ich wollte mehr persönliche Nähe, Austausch und eine menschlichere Kirche

Von Peter Scheuermann

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Zum Sommersemester 1963 nach dem Abitur an einem Abendgymnasium begann ich mit dem Studium der Katholischen Theologie in Frankfurt am Main. Ich stammte aus einer nichtreligiösen und kirchenfernen Familie und wurde durch meine Arbeit in der Katholischen Jugend zu diesem Studium motiviert.

Das Studium war mit Wohnen in einem Priesterseminar und einem straff organisierten Studium verbunden. Das war mir zur damaligen Zeit kein Problem. Ich genoss die katholische Atmosphäre. Im Studium selbst war ich in den ersten Semestern vor allem interessiert an der Scholastik, jener mittelalterlichen und im 19. Jahrhundert neu belebten Philosophie. Sie ist für das Verständnis der Lehre der Katholischen Kirche von großer Bedeutung. Von der aufkommenden Hippiebewegung war bei uns im Seminar nichts zu spüren. Wir lasen davon in den Zeitungen, hörten es in der Musik und sahen es in manchem Modetrend  der uns umgebenden  Gesellschaft.

Zum Sommersemester 1965 ging ich für zwei Semester  nach München. Von studentischen politischen Bewegungen, die ich erwartet hatte, war nichts zu spüren. Die „Schwabinger Krawalle“ 1962 waren befriedet durch entsprechend neue Strategien der Polizei. Diese „Krawalle“ hatten keinen eigentlich politischen Hintergrund, waren aber sicher erste Anzeichen eines beginnenden Widerstandes gegen die herrschenden  „unpolitischen“ Normen einer bürgerlichen Lebenskultur, die durch die Politik der regierenden Parteien, nicht nur in Bayern, unterstützt wurde.

Als ich im Sommer 1966 wieder nach Frankfurt zurückkehrte, um hier weiter zu studieren, hatte sich die Situation im Seminar grundlegend geändert. Wo  früher alle alles gemeinsam machten in einer anonymen Großgruppe von 250 Studenten, waren in den alten Räumen des Seminars kleine Wohngemeinschaften im Entstehen mit einem von den Mitbewohnern selbst bestimmten Innenleben.

Die Seminarleitung sah diese Entwicklung kritisch und lehnte diese Neuerungen zwar ab, musste sich aber dem Druck der Mehrheit der Studenten in großen Teilen beugen. So bekamen wir Hausschlüssel, die rituellen gemeinsamen Mahlzeiten und Rekreationszeiten (Freizeit) wurden abgeschafft und ersetzt durch mehr gemeinsames Essen in den Gruppen und unterschiedliche Freizeitaktivitäten nach Belieben.

Das tridentinische Priesterseminar mit seinen Regeln aus dem 16. Jahrhundert wurde Stück für Stück abgebaut.  Die ganze Ausbildungssituation sollte sich stärker an den Persönlichkeiten der Studenten orientieren und weniger an Prinzipien eines traditionellen priesterlichen Lebens.  Das weckte natürlich unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche der Studenten und  gab auch die Möglichkeit diesen nachzugehen. Es drohte angeblich „Disziplinlosigkeit“ , etwas Schreckliches in den Augen der Priesterausbilder.

Den  neuen „Freiheiten“ gingen lange Diskussionen über ein neues Priesterbild und überhaupt Menschenbild der Kirche voraus. Alles dies anhand der veröffentlichten Dokumente des Vatikanischen Konzils, das 1965 zu Ende gegangen war.

Ich selbst merkte, dass meine Bilder von der Katholischen Kirche zusammen brachen und damit auch mein Selbstbild, wie ich in der Kirche  arbeiten wollte. Das war alles eine Folge des Zulassens von „normalen“ menschlichen Bedürfnissen und die Erfahrung, dass es schön ist, ihnen zu folgen. Nicht nur den sexuellen. Allein die soziale Pflicht, die ich spürte gegenüber meiner Heimatgemeinde und den katholischen Freunden, hielt mich ab, das Studium abzubrechen.

Während all dieser Reformen und Reförmchen im Leben des Theologiestudenten, steppte draußen in der Stadt der Bär. Demonstrationen und Besetzungen waren an der Tagesordnung. Ich wollte dabei sein,  mitmachen und meinen Teil zu den Veränderungen beitragen. Gerade Fragen der gerechten Verteilung des Geldes und die Ethik der Arbeit hatten mich beeindruckt. An der Hochschule gab es Seminare von Oswald von Nell-Breuning, dem damals hoch gerühmten Sozialethiker. Außerdem hatte sich eine „Theologie der Arbeit“ entwickelt.

Ein Studienkollege und ich rannten im  wahrsten Sinne des Wortes hinter den Demos her, weil wir immer zu spät kamen. Wir mussten öffentlich oder mit einer alten Vespa von Oberrad, dort liegt die Hochschule, in die Innenstadt, die völlig verstopft war. Aber wir waren dabei, wenn auch immer kurz dahinter.

Nach der Besetzung der Universität und dem Ausrufen einer alternativen „Karl-Marx-Universität“ übernahm ich die Einrichtung eines theologischen Fachbereiches und stellte ein entsprechendes Lehrangebot zusammen. Ich wusste mich in der richtigen Richtung, ohne zu wissen, wie das ganze weitergeht.

Der VDS (Verband deutscher Studentenschaften) richtete mit den Allgemeinen Studentenausschüssen (Asten) aller deutschen Hochschulen und Universitäten einen Kongress in Frankfurt aus. Er sollte einen grundlegend anderen Studienplan für die einzelnen Disziplinen  erarbeiten. Ich nahm als Asta-Vertreter unserer Hochschule daran teil, zuständig für das zukünftige Theologie -studium. In einem Studienreformausschuss entwickelten wir Theologen die ersten grundlegenden Richtlinien. Wir überreichten sie u.a. dem Rektor unserer Hochschule, der sie mit Aufmerksamkeit entgegen nahm und in einer Schublade seines Schreibtisches verstaute. Ob sie eine Rolle spielten bei einer tatsächlichen späteren Reform dieses Studiums, entzieht sich meiner Kenntnis.

Scheuermann 1968Auf diesem Hintergrund brachte ich mein Studium zu Ende und zog für ein abschließendes Jahr in das Priesterseminar der Diözese, in der ich arbeiten wollte. Meine Studienkollegen  waren mir mittlerweile ziemlich fremd geworden. Ich hatte andere Interessen als sie, war aber immer noch der Kirche verbunden. Ich wollte mehr persönliche Nähe und Austausch und eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was wir vorfanden. Ich wollte eine menschlichere Kirche auch für Priester mit deren Wünschen und Bedürfnissen. Die  Kollegen wollten endlich das Ende ihrer Studien  und in Gemeinden arbeiten. Sicherlich auch, wenigsten teilweise,  mit fortschrittlichen Gedanken und Plänen.

Peter Scheuermann in der Zeit,
über die er schreibt.
Bild: privat

In der Zeit zwischen Hochschule und Diözesanseminar hatte ich Gelegenheit, mit einem Hilfsdienst mehrere Wochen in Sizilien zu arbeiten. Dort gab es 1968 ein verheerendes Erdbeben, dem mehrere Dörfer zum Opfer gefallen waren. Wir haben mit unseren mitgebrachten Technikern eine Infrastruktur in den Zeltlagern aufgebaut und eine Kinderbetreuung für die obdachlosen und geflüchteten Familien organisiert.

Hier habe ich mich zum ersten Mal verliebt, habe mich aber immer noch für die Kirche und damit den Zölibat entschieden. Auch hier wollte ich meine kirchlich orientierten Freunde, die meinen Weg begleiteten, nicht im Stich lassen. Noch unterwarf ich mich diesem sozialen Druck. Diese Frau, in die ich mich verliebt hatte, habe ich lang nach meiner Priesterzeit wiedergetroffen und die langersehnte Beziehung aufgenommen. Sie war aber mittlerweile soweit, ihr Leben erst mal ohne Mann einzurichten und lebte zum Schluss unserer Beziehung in einer reinen Frauenwohngemeinschaft.

Nach der Priesterweihe zog ich 1969 wieder nach Frankfurt zurück. Ich hatte mich entschieden, in einer Priestergemeinschaft zu leben, die in Frankfurt eine Pfarrei betreute, die als ein Modell moderner Seelsorge galt. Der Pfarrer war eine eindrucksvolle Persönlichkeit, sehr offen für neue Entwicklungen und gleichzeitig geprägt von einem Katholizismus, der in den Zwanziger Jahren durch Reformen geprägt worden war und als fortschrittlich und gleichzeitig aber auch romtreu galt.

Die Pfarrei, in der ich dann als Kaplan arbeitete, pflegte ökumenische Freundschaften mit evangelischen Gemeinden. Wir feierten Interkommunion, was eigentlich nicht erlaubt war, und brachten damit unseren Bischof in Bedrängnis. Er musste es eigentlich verbieten, wollte es aber nicht, und hielt es schweigend aus.

Ich hielt Predigten, die einen Teil der Gemeinde sehr begeisterte, von anderen stark kritisiert wurden. An einigen Sonntagen, an denen ich zu predigen hatte, erschien ein wichtiges Mitglied des  katholischen Frankfurter Lebens und Mitglied unserer Gemeinde mit einem Notizbuch, um sich, während ich predigte, die wichtigsten „Häresien“ und „Falschaussagen“ zu notieren. Er schrieb entsprechende Briefe an den Bischof. Der lud mich vor und forderte ein schriftliches Glaubensbekenntnis, das ich in dieser Form verweigerte. Er lies es damit bewenden. Er beauftragte den Pfarrer, meine Predigten zu kontrollieren. Das verweigerte dieser. Mein Freiraum bestand aus nicht Hinsehen und schweigendem Gewähren lassen.

Teile der Gemeinde warfen mir vor, die Jugend zu verderben und aus der Kirche zu treiben. Die aber stand hinter mir und war dankbar für meine Diskussionsangebote und für die von ihnen  gestalteten Jugendgottesdienste. An einem der Bildungsabende für die Jugend lasen wir eine Einführung in das „Kapital“.

Ich bewahrte die Negative eines alternativen Fahndungsplakates in meinem Kaplanszimmer auf. Diese wurden gesucht, da sie  die an den Auseinandersetzungen in der Stadt beteiligten führenden Polizisten zeigten. Es war alles sehr aufregend und sehr anstrengend.

Im Religionsunterricht las ich mit den Schülern und Schülerinnen Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“, in den Kinder- und Jugendfreizeiten folgen wir antiautoritären Zielen. Bei vielen Kriegsdienstverweigerern ging ich als Beistand mit in ihre Anerkennungsverhandlungen.

Am Beginn einer Christmette projizierte ich in der überfüllten Kirche Bilder von Obdachlosen und anderen Bedürftigen an die Kirchenwände. Ich hatte sie aus der FR ausgeschnitten. Dazu gab es entsprechende Texte. Einige Besucher verließen laut schimpfend die Kirche, am nächsten Morgen gab es Krach mit einigen aus der Priestergemeinschaft.

Bei all diesen Erfolgen merkte ich aber mehr und mehr, dass ich eigentlich nichts mehr über die Kirche zu verkünden hatte. Ich war leer geworden, meine Predigten wurden hohl und machten mir beim Entwerfen keine Freude mehr.

In der Bundesrepublik hatte sich Anfang der Siebziger Jahre ein Solidaritätskreis von Geistlichen gegründet. Auf deren Treffen war die Resignation einer ganzen Priestergeneration zu spüren und wurde auch ausgesprochen. Scharenweise verschwanden vor allem junge Geistliche ohne Kommentar aus dem Priesteramt oder ließen sich, wenn sie weiter in der Kirche arbeiten mussten, weil sie nichts anderes gelernt hatten,  „laisieren“. Das heißt, sie wurden aus dem Dienst als Priester mit Zustimmung der Kirche entlassen und konnten z.B. als Religionslehrer weiterarbeiten und auch heiraten.

Ich war immer noch unentschieden, was ich machen wollte. Als die Priestergemeinschaft  von heute auf morgen  ein Mitglied rausschmiss, dessen Homosexualität durch Zufall öffentlich wurde, konnte ich das Leben in dieser Gemeinschaft nicht mehr ertragen und zog aus. Ich schrieb dem Bischof, dass ich als Geistlicher nicht mehr zur Verfügung stehe und suchte mir eine kleine Wohnung außerhalb der Kirchengemeinde.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon mit einem Studium der Erziehungswissenschaften begonnen, das ich jetzt voll aufnahm. Ich arbeitete nebenbei als Helfer bei der Bahnhofsmission. 1974 trat ich auch formal aus der Kirche aus.

Ich machte mein Diplom in Erziehungswissenschaften und arbeitete einige Jahre in der wissenschaftlichen Begleitforschung pädagogischer Projekte. Dann arbeitete ich als therapeutischer Leiter  vier Jahre in einem Tagesheim für „verhaltensauffällige“ Kinder.

Währenddessen machte ich eine Ausbildung als Supervisor und Gruppenanalytiker und habe  bis zu meiner „Selbstpensionierung“ 2014 als Supervisor und psychologischer Berater in einer Gemeinschaftspraxis gearbeitet. (Therapeut durfte ich mich nicht nennen, weil ich kein Psychologiestudium hatte und kein Mediziner war).  Neben therapeutischen Beratungen  arbeitete ich als Supervisor und Organisationsberater in  sozialen, pädagogischen und psychologischen Einrichtungen.

Ich bin weiterhin der Psychoanalyse verpflichtet und den humanistischen Ideen der  Bewegung der 68´ Jahre. Ich lese die FR und die TAZ und habe noch einige freundschaftliche Beziehungen in die Kirche hinein. Ich habe geheiratet und lebe jetzt so, wie ich immer wollte.


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Scheuermann heute 2Der Autor

Peter Scheuermann lebt jetzt mit 80 Jahren im Ruhestand in Hofheim,
ist verheiratet und genießt das Leben.
Er war katholischer Geistlicher und hat als Diplompädagoge
und Psychoanalytiker Supervisionen
und psychotherapeutische Beratungen angeboten.

Bild: privat

 

 

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