Ich wünschte mich nach Woodstock
Von Peter Dunstheimer
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1968 bin ich 14 Jahre alt. Ich hatte einen Leserbrief an die Bild-Zeitung geschrieben, da mir deren Berichterstattung über den Protest der Studenten im Land ziemlich übel aufstieß. Ich sah mich als Teil des Protests und nahm ihn in mein rotes Einkuafsnetz gestopft, das ich als Schultasche benutzte, mit in die Schule. Teile meines Briefes waren aus dem Zusammenhang gerissen in einer der nächsten Ausgaben mit voller Namensnennung veröffentlicht worden. Daraufhin erhielt ich einige Briefe von Menschen, die mir androhten, dass sie mir die rote Grütze aus dem Leib prügeln würden, wenn sie mich in die Finger bekämen. Unterschrieben hatten sie mit „Von einigen guten Deutschen“, sie hatten es selbst in Anführungsstriche gesetzt. Als die Briefe kamen, ich war gerade allein zu Hause, verbrachte ich einen Nachmittag voller Furcht, immer darauf achtend, dass alle Türen im und am Haus auch sicher verschlossen waren. Meine Eltern nahmen es gelassen. Auch die Sprüche der Nachbarn ließen sie mehr oder weniger kalt. Sie waren weiterhin bemüht, mir die Welt zu erklären.
Mein Vater hatte als junger Mann im Zweiten Weltkrieg ein Bein verloren. Beim Rückzug aus Russland hatte ihn eine versprengte Granate getroffen, mangels entsprechender Medikamente entzündete sich das Bein und musste abgenommen werden. Er sprach nie wirklich darüber, auch nicht darüber, was er dort im Krieg gemacht hatte. Ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen. Er nahm alle möglichen Antworten mit ins Grab. Meine Mutter hatte man kurz vor Kriegsende, sie war damals gerade zwei Jahre älter als ich, zum Volkssturm eingezogen. Gemeinsam mit anderen Kindern und alten Leuten sollte sie die Grenzen von Höchst verteidigen. Was aber nicht gelang. Auch sie wurde verwundet. Mein Vater hat einen großen Teil seines Lebens damit verbracht, für seine Anerkennung als 100 Prozent Kriegsversehrter zu kämpfen. Dabei traf er oft auch ehemaligen Wehrmachtsangehörige, gutachtende Ärzte, Ex-Offiziere, die ihn als Kameraden ansprachen, das sollte ihnen nie gut bekommen.
Dementsprechend schlecht fielen die Beurteilungen aus. Doch er schaffte es trotzdem. Er wusste seine Familie versorgt. Als die Nachzahlungen des Amtes eintrudelten, fuhren wir das erste Mal mit der Bahn in den Urlaub. Das Hotel im Schwarzwald war nur von Kriegsversehrten bevölkert. Auch hier trafen wir auf einige gute alte Kameraden.
Mein Vater hatte eine schöne Stimme. Bei Festen des Ortsvereins des Verbands der Kriegsversehrten trat er als Fred-Bertelsmann-Double auf. Während er auf seinen Krücken auf die Bühne trat und sein warmer Bariton erklang, zog er meinen alten schwarzen Schnauzer aus Kindertagen, dessen Pfoten an vier Rollen befestigt waren, hinter sich her und gab dabei den lachenden Vagabunden. Die kleine rote Zunge, die dem Schnauzer aus dem Maul hing, wirkte dabei wie ein obszönes Zeichen, das jemand heimlich an eine Hauswand gemalt hatte. Mir war das immer etwas peinlich, wenn meine Eltern davon erzählten. Selbst gesehen habe ich es nie. Irgendwie kam es mir vor wie die Herrenwitze, die im Verwandtenkreis bei Kaffee und Kuchen und dem unweigerlichen Likörchen für die Damen und dem Schnaps für die Herren, die Runde machten. Schallendes, wieherndes Gelächter bei den Männern, ein schamhaftes, aber doch wissendes Lachen bei den Damen, dabei sahen sie sich kurz an und wandten dann den Blick zum Boden. Ich selbst tat so, als wäre ich nicht anwesend, den Kopf tief über ein Buch gebeugt, das ich gerade verschlang, sehnte ich mich an einen anderen Ort, an dem alles anders sein würde. Woodstock vielleicht, aber kam das nicht erst ein Jahr später? Aber genau dort wollte ich hin.
Ich hatte von einem Rock-Festival gehört, das auf dem Rebstockgelände, in der Nähe der Messe, nicht ganz 30 Minuten von meinem Heimatdorf entfernt, stattfinden sollte. Man munkelte, Jimi Hendrix würde auftreten, umsonst und draußen. Alle anderen Gruppen spielten auch – zum Leidwesen ihrer Manager und Plattenfirmen – ohne Gage. Man konnte wild campen und Feuer machen und, wenn man wollte, sogar nackt herumlaufen. Also Sodom und Gomorra. So berichtete zumindest die lokale Presse bereits im Vorfeld. Jimi Hendrix kam dann leider nicht, der war in Fehmarn aufgehalten worden, oder in Miami oder Dallas oder wo er gerade auftrat und das Schweinesystem in Form eines geldgierigen Managers, er war mit den Gagen durchgebrannt, wieder einmal zugeschlagen hatte. Stattdessen trat zum Abschluss des Festivals die Edgar Broughton Band auf. Ich mochte ihre soulvollen Balladen und die Liebeslieder, weniger den Rock. Aber darauf warteten bereits alle und reckten die Fäuste in den nachtblauen Frankfurter Himmel, um gemeinsam mit ihnen die Dämonen auszutreiben. Leider begann es zu regnen, und ein kühler Wind vertrieb Band und Publikum.
Auf dem Rückweg zum Zelt trafen wir auf zwei Rocker von Hells Angels Kuhwaldsiedlung Chapter, high vom Binding-Bier, die uns aufmischen wollten. Als sie feststellten dass wir keine ebenbürtigen Gegner sein würden, ließen sie von uns ab und beleidigten uns stattdessen als langhaarige Affen. Echt irre. Während wir zusammenpackten, dachte ich an das wesentlich ältere Mädchen, das im Gras neben mir gesessen hatte. Sie hatte mich immer so komisch angesehen, wenn sie mir den Joint gereicht hatte, der feucht war von unserem Speichel. Wahrscheinlich hatte ich sie an ihren Bruder erinnert.
Drei Jahre später verweigerte ich den Wehrdienst. Das gefiel meinen Eltern. Dass meine Haare noch länger geworden waren weniger. Im Gegensatz zu vielen meiner Freunde und Altersgenossen zog ich nicht nach Berlin.
Mein Freund Frank sagt immer, wir können gar keine 68er sein, wir sind zu spät geboren. Wahrscheinlich hat er recht. Bei der Sache mit der Emanzipation verhielt es sich ja ähnlich. Als wir endlich gelernt hatten, im Sitzen zu pinkeln, verlangte es die Frauen wieder nach ganzen Kerlen. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir mit fortschreitendem Alter die Zeiten und Ereignissen durcheinanderbringen, so dass aus 1968 schnell 1970 wird. Schlimmer kann es nicht kommen, Brüder und Schwestern
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Der Autor
Peter Dunstheimer, geboren 1954 in Frankfurt-Höchst,
arbeitete über 30 Jahre im unterschiedlichen Positionen
im Textileinzelhandel, betreut seit mehreren Jahren
psychisch kranke Menschen und denkt immer noch rot.
Sein literarisches Debüt „Dunstheimers Diaries“ erschien 2014.