Mit welchen Folgen muss man rechnen, wenn man seinem Gewissen folgt?

Es ist nicht das erste Mal, dass Diskussionen über die Gewissensfreiheit unserer gewählten Volksvertreter geführt werden, aber es ist — zumindest nach meiner Erinnerung — das erste Mal, dass die Freiheit dieser Gewissensentscheidung derart unverblümt zur Feindin der Fraktionsdisziplin erklärt wurde. Das genau hat nämlich der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion getan, als er nach der letzten Griechenland-Abstimmung, bei der 60 Unions-Abweichler mit Nein gestimmt hatten, in einem Interview mit der „Welt“ sagte:

„Auch die 60 haben unserer Fraktionsordnung zugestimmt, in der steht: Wir diskutieren, streiten und stimmen ab, aber am Schluss muss die Minderheit mit der Mehrheit stimmen. Jeder bestimmt selbst, was für ihn eine Gewissensfrage ist. Aber ich werbe dennoch für Geschlossenheit. Das hat auch mit dem Korpsgeist zu tun, den eine gute Truppe haben sollte. (…) Aber diejenigen, die mit Nein gestimmt haben, können nicht in Ausschüssen bleiben, in denen es darauf ankommt, die Mehrheit zu behalten: etwa im Haushalts- oder Europaausschuss. Die Fraktion entsendet die Kollegen in Ausschüsse, damit sie dort die Position der Fraktion vertreten.“

Im zweiten Teil des Zitats ging Kauder auf die kritische Nachfrage ein, ob Abweichler mit ihrem Nein-Votum, zu dem sie jedes Recht haben, ihre Karrieren zerstören, die an die Partei gebunden sind. Immerhin, so die Fragestellung, wurden die Abweichler aus der letzten Legislaturperiode „anschließend systematisch von wichtigen Positionen in der Fraktion entfernt“. Es ist wohl selten so offen und schonungslos dokumentiert worden, wie Politik funktioniert. Nicht dass dies früher anders gehandhabt worden wäre — es hat aber niemand so offen gesagt. Die Abweichler wurden unter der Hand kassiert und auf die Hinterbank geschickt.

Volker Kauder stellt also die Fraktionsordnung über das Grundgesetz. Vielleicht muss er das, um Mehrheiten zu sichern. Die hätte die große Koalition in Sachen Griechenland wohl auf jeden Fall. Kauders Ehrgeiz geht darüber hinaus dahin, unabhängig vom real zu erwartenden Ausgang der Abstimmung über das Griechenlandpaket eine Mehrheit der Regierungsabgeordneten zu organisieren. Mit Verlaub, Herr Kauder: Mit dieser Politik fördern Sie lediglich die Karrieristen und Speichellecker, von denen wir sowieso schon genug haben. Die Querköpfe aber, die wir eigentlich dringend brauchen, werden bestraft.

Heinz-Ewald Schiewe aus Berlin meint:

„Man kann sich ja eigentlich nur wundern, aber es ist zumindest beruhigend für diese CDU, dass es einige gibt, die diesen Kauder überhaupt noch ernst nehmen; leider laden ihn ARD und ZDF auch noch immer ein, und als Zuschauer hat man den Eindruck, dass er bei einer Antwort ein kleines Tonband abspielt, da immer nur dasselbe als Resümee dabei rauskommt. Das sind die Politiker, die dafür sorgen, dass sich junge Leute überhaupt nicht mehr für Politik interessieren!“

Roland Klose aus Bad Fredeburg:

„Die 60 Abweichler aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion waren Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) bei der wichtigen Griechenland-Abstimmung schon lange ein Dorn im Auge. Deshalb seine Drohung, die eigenen Fraktionsmitglieder und Bundestagsabgeordneten aus den Fachausschüssen entfernen und kaltstellen zu lassen. Bei der nächsten Bundestagswahl hätten sich dann diese sogenannten Abweichler auf hinteren und aussichtslosen Landeslistenplätzen wieder gefunden. Damit verstößt Merkels Einpeitscher, Wadenbeißer und Züchtiger Volker Kauder eindeutig gegen die im Grundgesetz verankerte Gewissens- und Meinungsfreiheit eines jeden Abgeordneten und Volksvertreters, weil er dem Fraktionszwang die oberste Priorität einräumt.
Warum brauchen wir überhaupt noch so viele Abgeordnete im Reichstag in Berlin, wenn Volker Kauder in Muttis Namen allein die politische Richtung vorgibt und angebliches Fehlverhalten der Fraktionsmitglieder sanktionieren darf? Aus diesem Grunde sollte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel unbedingt von ihrem Propagandachef trennen.“

Werner Arning aus Mörfelden-Walldorf:

„Es wäre wohl nicht verwunderlich, wenn Kauders angedrohte Konsequenzen für CDU-Abweichler der CDU in den Umfragen, zumindest vorübergehend, ein paar Prozentpunkte kosten würden. Denn nicht nur die Abgeordnetetn, auch die Wähler werden ja nur mit Mühe und Not bei der Stange gehalten. Nicht wenige CDU-Wähler, die beispielsweise mit der Griechenlandpolitik nicht einverstanden sind, strafen die CDU nur mangels, aus ihrer Sicht, fehlender Alternative noch nicht ab. Nur mit den Abweichlern können sie sich noch identifizieren, deshalb sind gerade diese für die CDU so wichtig und der Vorschlag Kauders taktisch so unklug. Allerdings verdeutlicht er dem Wähler wie Politik funktioniert, ist insofern ehrlich mit der Wählerschaft. Die dürften sich jedoch jetzt erst recht überlegen, wen sie das nächste Mal wählt. Denn, dass es ihm nur um gut funktionierende Ausschussarbeit geht, wird zwar gehört, aber nicht unbedingt nachvollzogen.“

Werner  Kübler aus Badenweiler:

„Erpressung sollte ein Officialdelikt sein. Aber dann geht es den verfolgenden Staatsanwälten genau so wie BA Range. Es ist und bleibt eine Schw….erei, daß bei den Parlamenten Fraktionszwang herrscht.Hier sind doch eindeutige Verstösse gegen das Grundgesetz.“

Edmund Dörrhöfer aus Flörsheim

„Man sollte dieses Thema (Fraktionsdisziplin und Gewissensentscheidung)  etwas breiter betrachten. Letztendlich ist es absolut üblich, dass wenn  man seinem Gewissen folgt mit oft schwerwiegenden Folgen rechnen muss.
Erinnert sei an Edward Snowden, der seine Gewissensentscheidung mit dem  Verlust seines bis dahin gelebten Lebens „bezahlte“. Erinnert sei an  Johann Georg Elser, der seine Gewissensentscheidung mit seinem Leben  bezahlte. Und wie verhält es sich mit dem „Verräter“, der die Blogger  von Netzpolitik.org mit entsprechendem Material versorgte? Folgten er oder sie nur ihrem Gewissen? Und was hat dieser „Verräter“ zu  befürchten, falls er enttarnt wird? Ich denke ein Rausschmiss aus irgend  einem Ausschuss ist da noch ganz locker zu verschmerzen. Aber die  Gesellschaft sollte einmal darüber diskutieren, wie man mit Menschen  umgeht die ihrem Gewissen folgen, und dadurch große Nachteile erleiden.  Die wäre doch auch durchaus ein Thema zu einem Hintergrundbericht (oder  gar einer Serie?).“

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7 Kommentare zu “Mit welchen Folgen muss man rechnen, wenn man seinem Gewissen folgt?

  1. Da die Abgeordneten des Bundestages laut unserer Verfassung nur ihrem Gewissen unterworfen sind, ist der Fraktionszwang verfassungswidrig. Allerdings ist mir kein Fall bekannt, in dem ein Abgeordneter gegen diesen Zwang vor dem höchsten deutschen Gericht geklagt und recht bekommen hätte. Folglich scheint sich die Gewissenspein unserer Bundestagsabgeordneten in Grenzen zu halten.

    Es ist die Frage, in welcher Hinsicht ein Abgeordneter sein Mandat als imperativ ansieht. Ein über die Liste seiner Partei in den Bundestag gekommener Abgeordneter wird wahrscheinlich eher die Neigung verspüren, sich der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen, als sein direkt gewählter Kollege.

    Ein offenes „Hier stehe ich und kann nicht anders“ wird sich dennoch so manch ein Direktmandatsträger aus Gründen, die zu allererst für ihn selbst von Belang sind, verkneifen.

    Auf die weiblichen Abgeordneten dürfte dies in gleichem Maße zutreffen.

  2. Im Grundgesetz Art. 4 hat das Gewissen den gleichen Rang wie der Glauben, das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis.

    Wenn das Grundgesetz aber von „unverletzlich“ spricht, dann bedeutet das immer „in der Theorie“, oder, so sollte es sein.

    Denn wer könnte schon diese hehren Begriffe verletzen?

    Auch die Gedanken sind doch frei, die Gedanken aber zu äußern durch Verbalisierung oder Visualisierung, schon weniger „in der Praxis“ ……

  3. Es ist sicher nicht allzu schwer, sich in diesem Blog auf die Verurteilung Kauderscher Holzhammermethoden zu einigen.
    Allerdings sollte man sich auch vor Augen halten, vor welchem atmosphärischen Hintergrund eine solche Debatte stattfindet und mit welchen Methoden Hysterie geschürt wird.
    Dazu ein Beispiel aus Faz.net von heute:

    Unter dem Titel „Zahl der Abweichler in der Union gestiegen“ veröffentlichte Faz.net heute (19.8.) einen Bericht zur Bundestagsdebatte über Griechenlandhilfe. (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenland/deutscher-bundestag-stimmt-hilfspaket-fuer-griechenland-zu-13758071.html)
    Die Forenenträge dazu stiegen in rasantem Tempo an (im Augenblick – um 16h20 – 144, durchwegs mit negativer Kommentierung).
    Darunter eine dubiose Aufforderung mit folgendem Wortlaut:
    „454 Namen, die für spätere Zeiten unbedingt zu merken sind!“
    Bei 30 Zustimmungen sende ich eine Meldung an die Faz.net-Redaktion als „Verstoß“, da dies als Aufruf zur Gewaltanwendung gegen gewählte Volksvertreter gelesen werden kann.
    Die Zustimmungsraten steigen danach im Sekundentakt bis auf 140 an. Der genannte Foreneintrag liegt dabei mit an der Spitze der Zustimmungen, als er von der Faz.net-Redaktion gelöscht wird.

    Der Hintergrund angesichts rechtsradikaler Netzaktivitäten, die z.B. Landkarten mit Flüchtlingsheimen und Adressen ins Netz stellen, braucht m.E. in diesem Blog nicht erläutert zu werden.

  4. Ich denke, dass mit der Gewissensfreiheit geht hier etwas an der Sache vorbei. Es können nicht alle Abgeordnete in einem Ausschuss mitarbeiten. Also delegiert man einen Kollegen, der die Meinung der anderen vertritt. Wenn es mir so ginge, dass ich delegiert werde, aber die Meinung der Kollegen nicht vertreten kann, würde ich meine Kollegen bitten, einen anderen Vertreter zu ernennen. Auf meine Vertreterfunktion zu beharren, obwohl ich das Gegenteil dessen tue, hat mit Gewissen m. E. nichts zu tun. Ich kann dann bei der endgültigen Abstimmung im Parlament immer noch meinem Gewissen folgen.

  5. Na, dann soll er mal die begehrte Ausschussarbeit selber machen, der Herr Kauder.
    Wenn er nicht mal in der Lage ist, Abstimmungsverhalten von Arbeitsverhalten in Ausschüssen zu trennen, dann ist er ja eher auf der schlichten Seite zu suchen.
    Und wenn in seinem Kopf Ausschussarbeit bloss die Sicherstellung von Mehrheiten ist, dann ist es an der Zeit, daß er seinen Hut sucht.

    Offensichtlich sieht Kauder die Abgeordneten als Marionetten an, die an den Fäden zu zappeln haben, die er in der Hand zu halten glaubt.

    Verheddert, verwirrt und … abgeschnitten.

  6. Herr Flessner, auch mir fällt es schwer, von einem Abgeordneten ein solch gespaltenes Verhalten zu erwarten:

    a.) Im Ausschuß die Mehrheit der Fraktion zu vertreten und da zuzustimmen.
    b.) Im Plenum dem eigenen Gewissen zu folgen und da dagegen zu stimmen.

    Es gibt ja auch noch kleinere Parteien, die haben wenige, oder auch nur einen einzigen Vertreter im Ausschuß, auch der Ausschußvorsitzende kommt in diese Situation, die keinem zuzumuten ist.

    Denn was da verlangt wird, das würde der Volksmund doch glatt als „Schizophrenie“ bezeichnen, obwohl dafür die Kriterien des ICD-10 für Schizophrenie überhaupt nicht zutreffen würden.

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