Eine unvergessene Zeit

Von Egon Brückner

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Am 18. April 1948 kam ich am Bahnhof in Zell-Romrod an. Ich erkundigte mich, wo denn Ober-Gleen wäre. Man betrachtete mich skeptisch. Denn ein fremder Mann in Gefangenenkleidung und mit einem kleinen Holzköfferchen konnte doch nur ein Vertriebener sein. Und solche waren doch eh schon zu viele da. Ich hörte aber kein böses Wort. Also marschierte ich mit meinem Köfferchen, wirre Gedanken im Kopf, in Richtung Ober-Gleen. Kurz vor dem Dorf kam mir meine Schwägerin mit einem Ziehwägelchen entgegen. Aber mein Köfferchen konnte ich tragen. Am 18. April 1948, spät am Nachmittag, betrat ich zum ersten Male in meinem Leben das Dorf Ober-Gleen im Kreis Alsfeld in Oberhessen. Die Gegend gefiel mir, denn sie war wellig, fast wie daheim. Aber was mich hier erwartete, wusste ich nicht. Ich ahnte auch nicht, dass das Dorf Ober-Gleen, das damals vollgestopft mit Vertriebenen war, meine zweite Heimat werden sollte. So wohnte ich als Untermieter bei meiner Schwägerin. Sie hatte mit ihrer kleinen Tochter von vier Jahren, es war das Kind meines gefallenen Bruders, das er selbst nie gesehen hat, in einem kleinen Stübchen bei „Schütze“ (Anmerkung: Das war der Dorfname der Familie).

Es war schon am Dunkelwerden, als ich das Haus betrat. Im Flur kam mir eine stattliche, forsche Frau entgegen und begrüßte mich freundlich. Es war die Hausfrau. Wahrscheinlich wusste sie von meiner Schwägerin, dass ich komme. Sonst sah ich an diesem Abend niemanden. Die anderen waren im Stall oder in der Küche, was mir eigentlich ganz recht war, denn meine Schwägerin erzählte mir so vieles von daheim. Das schwere Sterben meiner Mutter. Der letzte Brief meines Bruders und so weiter. Mir rauchte der Kopf.

Jeder heimgekehrte Kriegsgefangene bekam 14 Tage, um sich zu erholen. Aber was sollte ich in diesen 14 Tagen tun? Sollte ich rumlungern? Oder durchs Dorf gehen und mich als Faulenzer abstempeln lassen? Das lag mir nicht. Also machte ich einen Gang um den Hof. Da sah ich einen großen älteren Mann, der mit einer großen Bügelsäge Brennholz sägte. Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass man ihn „Schütze Heinrich“ nannte. Ich sah nur, dass es für ihn schwere Arbeit war. Da ging ich auf die andere Seite der Säge und fragte: „Darf ich?“ Er nickte nur. Auf Anhieb hat unser Sägen geklappt. Da meinte er: „Schon mehr gemacht?“ Da nickte ich. Weil es so gut ging, sägte ich mit ihm weiter.

Nach einer Weile machte er Rast. Er hängte die Säge an ein Horn des Sägebocks und fragte: „Sind Sie es also, der bei Frau Brückner ist?“ Denn wir waren uns noch nicht begegnet. Ich sagte ja und stellte mich vor. Danach stellte auch er sich vor und sagte, dass er früher der Feldschütz in Ober-Gleen gewesen war. Da fragte ich: „Sind Sie Jäger?“ „Nein“, erwiderte er, „es ist eine Art Polizist in der Gemarkung. Darum nennt man mich im Dorf Schütze Heinrich.“ Dann sägten wir wieder weiter. Durch die Harmonie bei unserer Arbeit waren wir uns sofort sympathisch.

Weil es in Ober-Gleen keine Arbeitsmöglichkeit gab, fuhren viele Vertriebene nach Frankfurt, dort wurde schon aufgebaut. In Homberg/Ohm war eine Maurerfirma, Novak und Klein. Weil Novak im KZ gewesen war, durften sie in Frankfurt arbeiten. Diese Firma suchte Leute für Frankfurt. Da wollte ich hin, denn ich wollte Maurer lernen. Beim Aufbau Deutschlands wurden solche gesucht. Dafür brauchte man aber vom Bürgermeister die Bestätigung eines festen Wohnsitzes. Als ich diese beim Bürgermeister holte, fragte er mich, was ich nun vorhabe. Er meinte, dass mich jeder Bauer nehmen würde. Da erzählte ich ihm, dass ich daheim schon ein kleines Fuhrgeschäft hatte. Im Winter wurden doch viel mehr Kohlen benötigt, sodass ich früh mit Pferdeschlitten und Lampe fortfuhr und abends im Dunkeln heimkam. Darum wollte ich nicht Knecht werden. Erstmal etwas lernen.

Also ging es Montag früh um fünf Uhr auf einem Lkw mit 20 Mann, die er schon auf einigen Dörfern einsammelte, nach Frankfurt. Erst waren wir in der Trümmerverwertung. Dort wurden zerbrochene Ziegelsteine noch mehr zerkleinert, mit dünnem Zementmörtel vermischt und wieder zu Ziegelsteinen gepresst. Anschließend mussten zerbombte Häuserzeilen wieder aufgebaut werden. Ich wurde immer einem erfahrenen Maurer unterstellt, dass ich so viel wie möglich lernen sollte. Dabei merkte ich, dass manche gar keine so guten Maurer waren. Viele hatten keine Papiere und gaben sich als Maurer aus. So ganz fremd war mir die Mauerei nicht. Daheim, auf unserem Hof, musste doch auch so manches ausgebessert oder betoniert werden. In kurzer Zeit war ich mittendrin. In Frankfurt wohnten wir in provisorischen Baracken, wo wir froh waren, wenn es nicht regnete. Freitagabend fuhr dieser Lkw mit 20 Mann wieder nach Oberhessen. Dabei lernte ich einen älteren Hilfsarbeiter kennen, der auch ein Vertriebener war. Er stammte aus der Mieser Gegend und wohnte jetzt in Ohmes. Weil wir uns gut verstanden, besuchte ich ihn einmal. Bei diesem Besuch lernte ich seine Tochter, Maria Ott, kennen, die dann meine Frau wurde. Sie war vor den Russen geflohen und hatte auch nur das, was sie am Leibe trug. Nun mussten wir uns aber nach einer Wohnung umsehen, aber wo?

brueckner-damalsEin Nachbar in Ober-Gleen gab uns ein zwölf Quadratmeter großes Stübchen. Wir freuten uns sehr. Für Tapeten war kein Geld, also wurde es mit angerührtem Kalk rausgeweißt. Nun war es ein sauberes Stübchen. Aber wir hatten keine Möbel, ja, wir hatten doch gar nichts. Da gab uns die Familie Hahn ein altes Bett vom Dachboden, einen Strohsack, den wir in der Scheune mit Stroh vollstopfen durften, und zwei Stühle vom Dachboden. Na also, das war doch schon mal was.

Egon Brückner.
Foto: privat

Da ging ich zum Schreiner Max Knöchel und erzählte ihm meine Lage. Ich brauchte halt dringend einen zweitürigen Schrank und einen Tisch. Aber ich hatte kein Geld. Da sagte Max: „Wie ich so von den Leuten höre, sollst du ja ein fleißiger Kerl sein. Du verdienst doch in Frankfurt jeden Tag Geld. Wenn es auch nicht viel ist, aber in diesen schlechten Zeiten müssen wir halt damit zurechtkommen. Also, du bekommst Schrank und Tisch, und du bezahlst es mir so, wie du kannst.“ Da hätte ich beinahe nasse Augen bekommen. Denn so viel Vertrauen hatte dieser Mann zu mir fremdem Vertriebenen. Ich konnte gar nicht sprechen, nur die Hand habe ich ihm gedrückt. Wir haben dann beide Wort gehalten. Bald hatten wir ein Bett mit Strohsack, zwei wacklige Stühle und einen Teil eines Ofens, der brannte. Und ein warmes Stübchen.

Zwischendurch fuhr meine Frau mit dem Fahrrad nach Alsfeld in die Stuhlfabrik und kaufte für 12,50 DM einen Stuhl. Transport am Fahrrad. Zweimal. Jetzt hatten wir auch keine wackligen Stühle mehr. Es wurde weiterhin jede D-Mark gespart. Denn wir wollten doch einen weißen Herd. In Alsfeld, in der Obergasse, war ein Geschäft mit Haushaltsgeräten. Dort haben wir uns schon einen angeschaut. Bei dem passten auch die Maße. Er kostete 175 DM. Als wir dann endlich 180 DM gespart hatten, fuhr ich Samstag früh nach Alsfeld und kaufte diesen schönen Herd. Jetzt aber mit Tempo nach Ober-Gleen. Dann gingen ich und meine Frau auf dem holprigen, mit tiefen Spuren versehenen Feldweg drei Kilometer nach Ohmes. Meine Schwiegereltern hatten einen Handwagen. Damit ging es elf Kilometer nach Alsfeld. Den Herd aufgeladen und zwölf Kilometer, keine Asphaltstraße, nach Ober-Gleen transportiert.

brueckner-heuteUnseren neuen Herd holten wir irgendwann mit einem geliehenen Handwagen aus Alsfeld. Ein Prachtstück! Dann saßen wir die halbe Nacht auf dem Bett und freuten uns über unseren schönen Herd, den Schrank, den Tisch und die Stühle. Das alles gehörte uns. Wir hatten wieder etwas Eigenes. Eine für mich unvergessene Zeit.

Egon Brückner,
geboren 1924 in Grünlas (Sudetenland),

kam 1948 aus der Kriegsgefangenschaft
nach Ober-Gleen im Vogelsberg.
Vater von zwei Kindern.
Foto: privat.

 

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