Europäische Union: Der Wunsch nach einem flotten „Reset“

Die deutsche Regierung übernimmt mit dem heutigen Tag für ein halbes Jahr die Ratspräsidentschaft der EU. Das könnte dem EU-Motor wieder Kraft geben. Aus dieser Position heraus könnte Deutschland, vor allem in Zusammenarbeit mit Frankreich, dem Projekt Europäische Union wieder Schwung verleihen. Denn die Union steckt in der Krise. Von außen versuchen fragwürdige Figuren wie US-Präsident Donald Trump und der russische Präsident Wladimir Putin, die EU zu schwächen, von innen arbeiten Politiker wie Victor Orbán, Jarosław Kaczyński und Marine le Pen an demselben Projekt. Und man kann nicht behaupten, dass solchen Sezessionsbestrebungen kein Erfolg beschieden sei – man denke an den Brexit. Die EU muss also beweisen, dass sie gebraucht wird und dass sie immer noch ein sinnvolles, sinnstiftendes Projekt ist. Eine Mammutaufgabe, vor allem für eine wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die nicht eben dafür bekannt ist, eine Visionärin zu sein. Das ist wohl eher etwas für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der mit seinen Schwungbestrebungen allerdings bisher am Beharrungvermögen der Kanzlerin gescheitert ist. Immerhin, jetzt demonstrieren die beiden Einigkeit.

Doch es geht um viel. Die Corona-Krise hat der ganzen Welt gezeigt, wie anfällig uns die Art macht, wie wir leben. Mittlerweile sind mehr als eine halbe Million Menschen am Virus und seinen Folgen gestorben, der gesellschaftliche und der wirtschaftliche Schaden ist enorm. Darum stellt Merkel das Motto „Gemeinsinn – Europa wieder stark machen“ in den Mittelpunkt ihres Wirkens des nächsten halben Jahres. Große Worte, schöne Worte. Gemeinsinn in einer Welt des Wettbewerbs und der Ellenbogen? Gemeinsinn in einer Union, die in so wichtigen Fragen wie Asyl, Flüchtlingspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik zu keiner gemeinsamen Linie findet?

Natürlich kann man gerade deswegen ein solches Motto wählen, aber das wird nur verfangen, wenn die Mitgliedsländer verstehen und nachvollziehen, dass ihr Heil in der Gemeinschaft liegt und nicht im Nationalismus. Gerade in diesem Punkt ist Skepsis angesagt, denn weiterhin gelingt es gewieften Populisten auch in Deutschland leicht, an nationale Instinkte anzuknüpfen und so das gemeinsame europäische Projekt zu diskreditieren. Diese Instinkte sind weit verbreitet, und es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sie wieder die Oberhand gewinnen. Leider zwingen diese Populisten den seriösen Politikern damit kraftraubende Debatten auf. Diese Kraft sollte lieber in Projekte wie eine umfassende, sinnvolle Klimapolitik gesteckt werden. Hier hätte die Europäische Union ein riesiges Betätigungsfeld, hier könnte sie Gemeinsinn beweisen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in dieser Hinsicht eine Menge vor. Es geht um nichts weniger als darum, unser Leben neu zu organisieren. Eine komplizierte Aufgabe. Die Gefahr ist groß, dass die Verführung immer breiterer Gesellschaftsschichten durch die Populisten diesem Projekt einen Strich durch die Rechnung macht.

fr-debatteMan müsste Philosophin sein

Die schwarze Null war vor der Corona-Zeitenwende. Jetzt müssen zig- Milliarden her, um die wirtschaftlichen Folgen halbwegs aufzufangen. Von wem? Von Vater Staat natürlich. Der thront da irgendwo auf einem unerschöpflichen Geldsack? Nein, der Staat sind wir, wir alle. Eine Solidargemeinschaft. Daher die Forderung, die Superreichen sollten jetzt mal einen Sonderbeitrag leisten.
Was wären die Euro/Corona-Bonds anderes, gegen die sich CDU/ CSU/FDP im Einklang mit anderen reichen EU-Staaten so vehement wehren? EU-Kommissarin Gestager hat jetzt angemahnt, man müsse in der Krise auch Tabus brechen. Wenn die EU keine Solidargemeinschaft ist, kann sie über kurz oder lang abdanken. Bei der Hilfe für Flüchtlinge zeigten sich schon Abspaltungstendenzen und Corona bohrt sich jetzt in die offene Wunde. Das Virus kennt nämlich keine Nation, genauso wenig wie die Radioaktivität damals aus Tschernobyl.
Das Virus lehrt uns auch, dass die Abgründe des Menschen unendlich sind. Gerade in der Not wachsen mit Selbsterhaltungstrieb auch Habgier und kriminelle Energie. Angefangen von Klopapierhamstern zu den Schleppern mit ihren „Diensten“ für die Flüchtlinge bis hin zu dem Chaos mit Schutzmasken. Wo sind die Millionen Masken aus Kenia, wenn es sie je gegeben hat?
Philosoph sollte man sein. Sich zurücklehnen und das Treiben beobachten und analysieren. Wie Gott, wenn es ihn gäbe. Religion ist auch nur eine Verschwörungstheorie.

Merve Hölter, Frankfurt

fr-debatteHoffentlich werden diese Ankündigungen nicht wahr

Am 1. Juli geht die EU-Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr auf Deutschland über. Diese Zeit will die Bundeskanzlerin nutzen, um Europa gestärkt aus der Corona-Krise zu führen. „Wir müssen einerseits die Folgen der Krise bewältigen, aber zugleich auch Europa widerstandsfähiger und zukunftsfähiger machen“, erklärte Merkel im Bundestag.
Soll man diese Erklärung so verstehen wie die Ankündigung, Deutschland zu einer Bildungsrepublik zu gestalten? Ergebnisse sind ja ausreichend bekannt, wie „runtergekommen“ die Schulen und ihre Ausstattungen sind. Soll man es so verstehen, wie sie den Ausbau des Neulandes Internbet verstanden hat? Platz 70 im Weltvergleich spricht Bände. Mögen die Fachleute verhindern, daß diese Ankündigungen alle wahr werden, die Vergangenheit sollte Lehrbuch genug sein.

Uwe Neumann, Rodgau

fr-debatteWie wir wirklich ein Wir erschaffen könnten

Nach Corona werden wir nicht mit einem flotten „Reset“ aus der Wirtschaftskrise herauskommen – wenn wir kapitalistisch überhaupt herausfinden. Mason thematisiert („Das Wir macht die Welt“, FR-Feuilleton vom 9. Mai), auch wenn er Marx anspricht, vor allem den Karnevalschlager „Wer soll dat bezahlen, wer hat soviel Geld“. In seiner Bemerkung „Es wird mehr Führung erforderlich sein, als sie derzeit irgendein Politiker vorweist“ läßt er offen, wer wen führen soll. Bestimmt meint er nicht, dass sich die „Proletarier aller Länder“ (Marx, Engels) vereinigen und vernetzen könnten und sollten, um Produktion, Dienstleistungen, Distribution und Reproduktion „in eigenem Namen und auf eigene Rechnung“ (Marx) zu betreiben und dabei die „Bourgeoisie“ (Marx) auf ihrem Schuldenberg von gut 255 Billionen Dollar als nicht mehr systemrelevante „Klassae“ (Marx) sitzen zu lassen. „Das Wir macht die Welt“ schreibt Mason ganz richtig. Wir, die 7 Milliarden, sind kein witkliches Wir; die Eigentumsgrenzen halten uns als 50, vielleicht 100 Millionen einzelne Wire, als corporate identities gefangen: In „unabhaängig von einander betriebnen Privatarbeiten“ (Marx) werden die Gebrauchsgegenstände hergestellt, die auf dem Markt gegen Geld getauscht werden müssen, damit sie ihre richtigen Verwender finden. Der Austausch trägt in sich einen tiefen Widerspruch (Marx), der Grundlage aller kapitalistischen Gebreechen ist. Dieser Widerspruch kann durch nichts in der Welt aufgehoben werden außer durch das Vermeiden des Austauschs. Dazu müssten sich die einzelnen Wire über die Schranken des Eigentums hinweg soweit vernetzen, dass die Produktion nicht mehr in Form unabhängiger Privatarbeiten vonstatten ginge, was den Austausch überflüssig werden ließe und wo jeder und jede am Ende das zum Leben Nötige in Händen hielte. So schüfen die Wire ein Wir, das wirklich die Welt machte, und zwar ganz ohne Führung.

Wolf Göhring, Bonn

fr-debatteIst das wirklich „unser“ Staat?

„In jeder Krise steckt auch die Chance, Finanzmittel des Staates abzuschöpfen“ – davon scheinen die schlauen Manager der deutschen Wirtschaft überzeugt zu sein. Sie lagern Gewinne in Steurparadiese aus, sie erheben Lizenzgebühren für Firmen-Logos in Niedrigsteuerländern, um in Deutschland erzielte Gewinne vor Steuern in Deutschland zu retten, sie haben Briefkastenfirmen in Luxemburg, den Cayman-Inseln, den britischen Kanalinseln und sonstwo, wo sie in Deutschland erzielte Gewinne im Promille-Bereich versteuern. Sie gründen angeblich „gemeinnützige“ Stiftungen, um dem Staat Steuern vorzuenthalten, mit denen sie Massen-Verdummung finanzieren – Stichwort „Neue soziale Marktwirtschaft“. Kurzum, sie tun alles, um unser Gemeinwesen zu schädigen, sich zu bereichern, um die wahren Leistungsträger zu betrügen. Sie zahlen in der Krise Dividenden, sich selbst Boni, obwohl ihre Unternehmen in der Krise Verluste einfahren. Sie fordern vom Staat finanzielle Unterstützung, obwohl dieser Staat in der Krise sich in Billionen verschuldet.
Wenn unser Staat trotz alledem diesen Forderungen nachgibt und diesen Unternehmen Unterstützung zahlt, dann ist er wohl doch nicht „unser“ Staat.

Herbert Messer, Langenselbold

fr-debatteWas sind eigentlich die Konsequenzen der Krise?

Der Wunsch als Vater des Gedankens, das scheint mir, treibt den Autor bei seiner Argumentation. Die richtigen Fragen stellen, muss nicht zwangsläufig zum Ziel führen. Wenn aber wichtige Fragen gestellt werden, fordert dies Widerspruch und Anerkennung heraus! Selbst wenn der kritische Dialog im aktuellen Kontext der Pandemie seinen gesellschaftlichen Stellenwert zu verlieren scheint.
Die Unterscheidung zwischen systemrelevanten und nicht systemrelevanten Berufen, wenn darin überhaupt ein Sinn zu finden ist, ist mit der Pandemie erst virulent geworden. Aber ist das ein Indiz für einen Wertewandel, wohl eher nicht? Könnte es nicht vielmehr ein Zeichen von individueller Angst vor den persönlichen Folgen der Pandemie sein, wenn ich sozialen Berufen und bestimmten Dienstleistungsberufen eine höhere Wertschätzung entgegenbringe?
Aus meiner Angst heraus, die ich nicht allein bewältigen kann, begegne ich einer persönlichen Bedrohung, indem ich mich der Gesellschaft, meinem sozialen Umfeld zuwende. Dies wäre auch eine Erklärung, warum die Bundesregierung in der Krise eine andere und durch ihr Handeln begründete höhere Wertschätzung erfährt. Auch das Akzeptieren des Kontaktverbotes oder die fragwürdige Praxis des Gesichtsschutzes ist nicht der rational erkannten Bedeutung des Gemeinwohls geschuldet, sondern allein der individuellen Angst um die eigene Gesundheit. All das ist aber kein Abwenden vom modernen Individualismus unserer Zeit und sicher kein Wertewandel. Wenn ich mich von nichtsystemrelevanten, die Zukunft prägenden Berufen abwende, wie der Autor beschreibt, kann dies nur bedeuten, dass sich der Blickwinkel von der Bedrohung aus der Zukunft auf das Hier und Jetzt, auf das, was meine Angst unmittelbar verursacht, geändert hat. Es ist nicht das Gemeinwohl, was in die Gegenwart und in unser Bewusstsein zurückkehrt, es ist das Wiederbeleben der deutschen Angst! In der globalen Sicht erweist sie sich dabei auch noch als ein probates Mittel zur Pandemiebekämpfung.
Deshalb lässt sich wohl auch erklären, warum wir uns innerlich und in den Medien beispiellos manifestiert einer sachlichen Analyse und Diskussion von Ursache und Auswirkungen der Krise versperren. Greifbar wird dies in der Frage: Was sind eigentlich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Krise? Versuchen Sie dies einmal anzusprechen, geschweige denn zu diskutieren!
Es ist also nicht, wie vom Autor suggeriert, die von der Vernunft gesteuerte Rückbesinnung auf das Gemeinwohl, die Kritik an der Renditefixierung, dem Neoliberalismus oder der sozialen Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft auslöst und viele auf die Suche nach neuen gesellschaftlichen Lösungsansätzen schickt. Die schon greifbare und wachsende Angst um die Zukunft unserer Gesellschaft erfährt eine plötzliche Verstärkung durch die unmittelbare und individuelle Existenzangst, ausgelöst von der Pandemie.
Anders als der Autor verstehe ich Freiheit, Gleichheit und Solidarität nicht als progressive Prinzipien. Sie sind die Pfeiler, auf denen unsere Gesellschaft ruht. Auch können sie sich nicht widersprechen! Vielmehr scheinen sie mir wie kommunizierende Röhren zueinander in Abhängigkeit zu stehen.
Doch was füllt diese Röhren? Ist es letztendlich die materielle Sicherheit? Wenn dem nicht so ist, hat der Autor Recht und nach der Pandemie kann das Bedürfnis nach einem Wandel der gesellschaftlichen Werte bestärkt werden. Voraussetzung ist aber eine bewusste gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Ursachen und Auswirkungen der Pandemie. Verharren wir in der denkbaren, emotionalen Rückschau „Hurra, wir leben noch!“ mündet die Pandemie in einen Triumph des modernen Kapitalismus mit sicherlich negativen Folgen für den bisher erreichten gesellschaftlichen Bewusstseinswandel im Hinblick auf die Klimakrise. Aus ironischer Sicht bliebe dann vielleicht noch die Erkenntnis zurück, dass es der „starke Staat“ war, der den modernen Kapitalismus gerettet hat und so den Neo-Liberalismus endgültig in die Geschichtsbücher vertreiben konnte.
PS: Natürlich darf man Informationen von öffentlichem Interesse (systemrelevant) nicht privaten Monopolen überlassen. Aber viel wichtiger erscheint es mir, im aufbrechenden Zeitalter der Digitalisierung, die Weiterverwertung von Informationen in Prozessen von öffentlicher Bedeutung einer gesellschaftlichen (staatlichen) Kontrolle zu unterwerfen.

Michael Antenbrink, Flörsheim

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Ein Kommentar zu “Europäische Union: Der Wunsch nach einem flotten „Reset“

  1. In der FR vom 29.06.2020 wird über die Absicht Israels berichtet, das Westjordanland zu annektieren. Das Westjordanland gehörte zu Jordanien, wurde im 6-Tage-Krieg von Israel besetzt, wobei es von König Hussein zur Besiedlung der Palästinenser aufgegeben wurde.

    Wenn die EU auf Befehl der USA Sanktionenen gegen Russland wegen der Krim-Annektierung verhängt und immer wieder verlängert hat, müsste sie, sofern sie sich nicht völlig von dem Irren im Weißen Haus dirigieren lassen will, die neue Ratspräsidentschaft nicht allein zur Bewältigung der Coroan-Krise, sondern auch zum Beweis einer außenpoltischen Eigenständigkeit nutzen, um wegendieser Annexion ebenfalls Sanktionen zu verhängen.

    Denn eine solche Annexion hat völkerrechtlich keinen höherrangigen Stellenwert als die der Krim. Vielmehr erfolgt die Annexion des Westjordanlandes gegen den Willen der dortigen Bevölkerung, während die Bevölkerung der Krim in einer Abstimmung für Russland gestimmt hat, nachdem sie ursprünglich auch zu Russland gehört hat und von der Ukraine vernachlässigt wurde.

    Hier könnte die Bundesregierung, vor allem auch Maas, beweisen, ob und inwieweit die Ratspräsidentschaft zu einer souveränen Politik der EU genutzt wird.

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