Man könnte doch mal einen Schulstreik machen …
Von Heidrun Wilker-Wirk
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Meine erste Lehramtsstelle trat ich in Walldorf (damals noch ohne Mörfelden) bei Frankfurt an. Neben der eigentlichen Arbeit in der Grund- und Hauptschule oblag mir als Musik-erzieherin auch ein Teil des Musikunterrichts in Realschulklassen. Nach den Sommerferien 1968 übernahm ich ihn in einer 9.Klasse. Daraus entwickelte sich, ich weiß nicht mehr wie, eine AG Das politische Lied. Mit 6 bis 8 Jungs hörte und besprach ich Lieder, die in dieser politisch kribbligen Zeit bei den Jugendlichen gut ankamen; das Ende des Prager Frühlings mag zusätzlich eine Rolle gespielt haben. Wir hörten Lieder von Tucholsky und Brecht, von Wolf Biermann und Wolfgang Neuss, auch von Hildegard Knef und Reinhard May. Wir beschäftigten uns mit Liedern aus dem spanischen Bürgerkrieg und vom Anfang der Weimarer Zeit, die ich von den wunderbaren Platten mit Ernst Busch, die ich aus Ostberlin mitgebracht hatte, auf Tonband überspielte. Es waren Texte, die man hinterfragen und mit der Gegenwart querdiskutieren konnte: gegen den Strich gebürstet, aber nicht eigentlich widerständig. Den Jungs schien es zu gefallen, denn sie kamen ziemlich regelmäßig. Und auch mir gefiel die AG , weil ich meine schönen Songs mit jemandem teilen und besprechen konnte. Dabei war die AG völlig inoffiziell. Weder die Jungs noch ich kriegten sie angerechnet. Wir trafen uns in der 7. Stunde in einem Raum der Schule, und kein Hahn krähte danach.
Irgendwann äußerte einer der Jungs, ich glaube, der Schulsprecher, dass man doch mal einen Schulstreik machen könnte. Ich war etwas verwundert, denn zu der Zeit hatte sich schon allerhand verändert. Man konnte mit Gruppenunterricht und Partnerarbeit experimentieren, Verbalbenotung war möglich, desgleichen Teilnahme von Schülervertretern an Konferenzen, es gab einen Vertrauenslehrer… Aber gut: die Einschätzungen von Schülern und Lehrern konnten nicht kongruent sein, und im nahen Frankfurt, das seine Schatten warf, hatte es wohl schon Schulstreiks gegeben.
Heidrun Wirk im Jahr 1968.
Foto: privat.
Die Idee reifte so vor sich hin, ohne dass ich viel mitbekam, und eines Tages im Frühjahr weigerte sich eine überschaubare Gruppe um den Schulsprecher, aus der großen Pause zurück in die Klassenzimmer zu gehen. Von denVorbereitungen war wohl nichts durchgesickert bzw. von der Schulleitung nicht ernst genommen worden, denn dort war man überhaupt nicht vorbereitet. Von den umstehnden nicht-eingeweihten Haupt- und Realschülern solidarisierte sich meiner Erinnerung nach niemand, aber ein Pulk von Zuschauern blieb ebenfalls draußen, um den Fortgang der Sache zu beobachten. Die Pausenaufsicht schaffte es nicht, den Streik zu beenden, wir Kollegen verhielten uns eher indifferent. Der Rektor wurde gerufen, bei dem die Streikenden wohl einen schweren Stand hatten, Wir Lehrer scheuchten unsere Klassen in den Unterricht, wo der Streik hier und da noch aufgeregt diskutiert wurde.
Dieser Vorgang wäre wohl eine Episode geblieben, wenn nicht ein Oberstufenschüler (?), der gelegentlich aus Walldorf berichtete, eine Meldung über den Schulstreik in der Frankfurter Rundschau untergebracht hätte. Da ich damals die FR noch nicht las, weiß ich nicht, wie umfangreich und detailliert diese war und ob mein Name darin genannt wurde. Jedenfalls lief alsbald die Parole um: Die Wirk hat die Hand im Spiel. Nicht nur, dass nun gewissermaßen ein Makel an der Schule klebte (…die erste Schule im Kreis – ausgerechnet unsere Schule …), der Vorgang interessierte auch die Schulbehörde. Eine Gesamtkonferenz wurde einberufen, zu der außer dem Kollegium der Schulrat und ein Vertreter des Regierungspräsidiums erschienen. Ich hatte mich zu rechtfertigen. Für den Streik – nicht für die AG!
Sag doch einfach, dass das alles nicht stimmt und dass es sich um ein Gerücht handelt, schlugen mir etliche meiner Kollegen vor. Immerhin war ich bisher nur Beamtin auf Probe.
Ich entschied mich, das zu sagen, was ich wusste, und das war letztlich gar nicht viel: dass ich gesprächsweise von der Idee eines Schulstreiks erfahren hätte, deren Ernsthaftigkeit mir aber unklar war. Dass ich keine Veranlassung gesehen hätte, Fünfzehnjährigen eine Idee auszureden, zumal es erklärtes Erziehungsziel sei, Schülern Mündigkeit, Selbstbewusstein und Eigeninitiative zu vermitteln. Und dass es der Glaubwürdigkeit einer Schule nicht dienlich wäre, wenn das, was theoretisch anerkannt war, im konkreten Fall einfach über den Haufen geworfen würde.
Die Argumentation schien zu überzeugen; es folgten keine Sanktionen, die meinen ungesicherten Beamtenstatus gefährdet hätten. Wahrscheinlich zum Wohl der Schule und zu meinem eigenen, wurde mir fürs neue Schuljahr eine Stelle in der Kreisstadt angeboten, die ich schon lange gewünscht und auch beantragt hatte. Dadurch verlor ich die Jungs leider aus den Augen. Ob die Vorgänge seinerzeit – die Lieder-AG und/oder der Streik – etwas mit ihnen gemacht hatten, weiß ich deshalb nicht.
Inzwischen sind sie wohl auch im Ruhestand.
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Die Autorin
Heidrun Wilker-Wirk, geb. Jan 1942 in Frauenberg/Ostpreußen, lebt heute in Darmstadt.
Die pensionierte Lehrerin war von 1965 bis 2005 an Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen.
Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und eine Enkeltochter.
Bild: privat