Wie eine exotische Blüte im deutschen Tannenwald

Frankfurter Rundschau Projekt

Als einziges weibliches Wesen saß ich mit lauter Männern in den Seminaren

Von Jutta Schütz

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Büchertische der kommunistischen „K-Gruppen“ vor den Hörsälen, mit Marxens Kapital, der kleinen roten Mao-Fibel sowie Pamphleten zu allen weltpolitischen Themen bestückt, sollten uns auf den rechten Weg bringen oder zumindest davon abhalten, den Saal zu betreten, in dem Politik als Wissenschaft des Establishments gelehrt wurde. Vier Jahre nach 1968 war die Hochzeit der legendären Studentenbewegung („Studierende“ sagte man(n) damals noch nicht) zwar vorbei. Aber es gab Nachwehen, auch an der Uni des schwäbisch-beschaulichen Tübingen. Ich wollte doch etwas lernen, um eine gute Journalistin zu werden. Und da gab es so spannende Themen wie Friedens- und Konfliktforschung, Internationale Beziehungen, Entwicklungsländerforschung… Und nun sollte ich nicht, durfte ich nicht. Vorlesungen wurden noch immer gestört oder ganz und gar gesprengt. Oder das von linken Gruppen dominierte Studentenparlament ordnete einen umfassenden Vorlesungsstreik an, der durch Streikposten mit Funksprechgeräten kontrolliert wurde. Wenn Vorlesungen stattfanden, saß ich inmitten meiner mehr oder weniger politisch engagierten, männlichen Kommilitonen wie eine exotische Blüte im deutschen Tannenwald. Mein „Studenten-Ausweis“ von damals zeigt ein mädchenhaftes Porträt mit mildem Lächeln.

Schütz damalsEines Morgens war ich dabei, im Uni-Sekretariat ein Referat durch einen Matritzendrucker zu leiern, um es für ein Seminar zu vervielfältigen, als Herr K., Akademischer Oberrat und SPD-Mitglied, das Büro betrat. Mit verzweifeltem, zumindest zweifelndem Gesichtsausdruck, was seine bevorstehende Vorlesung betrifft, die schon mehrmals mit „Diskussionsbedarf“ gestört worden war. „Was meinen Sie, Fräulein Schütz? Soll ich da jetzt reingehen oder besser nicht?“, fragte er mich, das junge, unbedarfte Zweitsemester, das von der Last der Verantwortung, gepaart mit Mitleid, fast zusammenbrach. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ihm geraten, nicht den Schwanz einzuziehen (wahrscheinlich in anderer Formulierung) und sich mutig dem rebellischen Publikum zu stellen. Er ging rein, hat aber dann, als ihm der Tumult zu arg wurde, seine Aktentasche gepackt. Ähnliche Hilflosigkeit trieb meinen Soziologie-Professor T. dazu, vor einer Basisgruppen-Protestaktion das Soziologische Seminar vorsorglich zu schließen.

Jutta Schütz im Jahr 1972.
Foto: privat

Bei all diesen Erinnerungen tauchen vor meinem geistigen Auge nur männliche Gesichter auf. Ich kann mich an keine jungen Frauen erinnern, die sich bei solchen Aktionen oder Gegenaktionen hervorgetan hätten. Dabei wurde 1971 die Studentin Anna Bartholomé als erste weibliche Asta-Vorsitzende gewählt (frisch recherchiert), die aber keine feministischen Positionen vertrat, obwohl junge Frauen in der Studentenbewegung „zum Teil sehr abfällig behandelt“ worden seien (Schwäbisches Tagblatt, 20.3.2014). „Es war schon so“, erinnert sich Anna Bartholomé, „dass die großen Studentenführer ihre schönen Mädels hatten, die ihnen den Kaffee gebracht haben“. Auch ich hatte kaum feministische Regungen, als ich mein „Männerstudium“ erfolgreich durchzog. Geht doch, dachte ich wahrscheinlich, als ich später als einziges weibliches Wesen in Oberseminaren saß und fürs Schwäbische Tagblatt schrieb.

Anlässlich eines Interviews mit einem Blues-Gitarristen, erlebte ich als junge „Frau von der Presse“ eine Überraschung. Ich saß auf einem abgewetzten Sofa im Club Voltaire und wartete auf den Musiker, währenddessen ein kommunistischer Propaganda-Film abgespult wurde. „Die Arbeiter erheben sich!“ Man sah Männer in Schutzhelmen in rebellischer Formation beim Streik. „Die Studenten erheben sich!“ Langhaarige 68er zeigten bei Straßenblockaden ihre Transparente. „Die Schüler erheben sich!“ Was heißt hier Schüler? Zwei Schülerinnen, Arm in Arm in Großaufnahme, im Minirock-mit-Maximantel-Look, marschieren in einer Demo gegen… (?) auf dem Darmstädter Luisenplatz. Meine Schulfreundin Verena und ich, kurz vor dem Abi. Ich war mir von diesem Moment an sicher, dass ich längst vom Verfassungsschutz registriert war, ich, die brave Nach-68erin.

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Schütz heute 2Die Autorin

JJutta Schütz, geb. 1953 in Darmstadt.
1972-77 Studium (u.a. Politikwissenschaft) in Tübingen. 1985 Promotion. Publikation von Reiseführern. Reiseberichte in Tageszeitungen (u.a. FR) und Magazinen. 1997 bis 2004 Redakteurin, ab 2001 Chefredakteurin der Zeitschrift „Events“. Seit 2009 ehrenamtliche Redakteurin der Frauenzeitschrift „Mathilde“. Seit 2017 Moderatorin von „Mathilde on Air“ bei Radio Darmstadt. Romanautorin. Verheiratet.

Bild: privat

 

 

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