Es ist schon eine Weile her, und wahrscheinlich interessiert das niemanden mehr, aber ich bin einmal sitzengeblieben. Hab die Quarta wiederholt. Der Ruch des Makels fiel bald von mir ab: Im neuen Klassenverband fühlte ich mich wohler, und meine Problemfächer der ersten Quarta – vor allem Latein – wurden meine stärksten Fächer. Heute würde ich sagen: War nicht verkehrt damals, denn vor allem wurde ich so von jenem Lateinlehrer befreit, der es, aus welchen Gründen auch immer, auf mich abgesehen hatte. In beiden Fächern, die er in der ersten Quarta lehrte, hatte ich eine fünf. Die zweite Quarta war daher eine Befreiung.
Heute wird über den Sinn und Unsinn des Sitzenbleibens gestritten: Die neue Landesregierung in Hannover will das Sitzenbleiben in Niedersachsen abschaffen. Ist es ein „Straf- und Sortierinstrument“, wie Maresi Lassek sagt, die Vorsitzende des Grundschulverbands? Teuer und kontraproduktiv findet es zumindest der renommierte Grundschulpädagoge Hans Brügelmann. Statt einem Unterricht im Gleichschritt zu folgen, sollte jedes Kind seinen nächsten Schritt selbst machen können. Das sei auch deshalb wichtig, weil in der sogenannten inklusiven Schule künftig Behinderte mit anderen gemeinsam in normalen Klassen lernen sollen. Da brauche es für jeden Schüler Rückmeldungen zu verschiedenen Zeiten. Der Schulpsychologe und Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, hingegen sagt: „Für mich ist es humaner, einem 13-Jährigen zu sagen: Du wiederholst jetzt ein Jahr, weil es für dich eine Chance zur Konsolidierung ist.“
Aus meiner Geschichte heraus würde ich Josef Kraus zustimmen. Andererseits war ich nur in diesen beiden Fächern schlecht, vor allem Latein, und in den anderen Fächern ein leidlich guter Schüler. Warum können Schüler in solchen Fällen nicht gezielt individuell gefördert werden, um dann eine Prüfung machen und in ihrem vertrauten Klassenverband bleiben zu können? Fakt ist allerdings auch: Bei Sitzenbleibern erhöht sich die Chance, den angestrebten Schulabschluss zu erreichen, um 50 Prozent gegenüber Nicht-Sitzenbleibern – bei gleicher Leistungsschwäche. Auf dieses Ergebnis der bisher größten deutschen Sitzenbleiberstudie aus dem Jahr 2004 verweist Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Ein Verbot des Sitzenbleibens nütze keinem, sagt er.
Diese Debatte löst mal wieder bildungspolitische Reflexe aus den Zeiten der Altvorderen aus, die Harry Nutt für die FR ausgegraben hat, und diese „Auslese“ bringt FR-Leser Ulrich Pohl aus Villmar auf die Palme:
„Zu den Zitaten aus der FAZ raufe ich mir die Haare. Nach meinen beruflichen, politischen und schulischen Erfahrungen gibt es bei uns immer wieder die gleiche polarisierende Debatte. Der langen Reihe von herabsetzenden, abwertenden Begriffen wie „Einheitsschule, Kuschelpädagogik“ und so fort hat Heike Schmoll in der FAZ nun neue beigefügt: „Gleichmacherei von Individuen, sozialstaatliche Beglückungsfantasie“ für die Absicht, das unsinnige und kostenträchtige Sitzenbleiben abzuschaffen, und für die Bemühungen um eine andere Bewertung der Leistungen von Kindern („Gefälligkeitspädagogik“ nach Josef Kraus, einem anderen „Polarisierer“).
Dazu empfehle ich ihr den Artikel von Georg Lind in der FR vom 1.2.2013. „Wir müssen Leistungen … ganz anders definieren“. Das kann ich nur bestätigen.
Mit zehn Jahren wurde mir – obwohl von der Grundschule empfohlen – nach einer Woche schriftlicher Prüfungen die „Eignung für das Gymnasium“ abgesprochen, als ich aus Niedersachsen in die nächstgelegenen weiterführenden Schulen im Land Bremen wechseln wollte. An der Realschule hätte mich meine Klassenlehrerin fast noch auf die Hauptschule verwiesen, weil sie meine geringe Konzentration bei Diktaten in Englisch und Deutsch (Noten 4-6) für fehlende Eignung hielt. Ich habe dann doch über eine Lehre, eine Ingenieurschule, eine Berufstätigkeit mit 30 Jahren an einer Technischen Universität (Gesamturteil sehr gut) als Dipl. Ing. mein Selbstbewusstsein wiedererlangt. Auf die „Gesamtnote 1“ konnte ich verzichten, stolz war ich aber darauf, dass meine Diplomarbeit von einem bedeutenden Wirtschaftsunternehmen gekauft wurde. Schließlich bin ich als Ministerialrat (ist das nicht zum Lachen?) aus dem Kultusministerium in den Ruhestand gegangen. Das alles wäre mir – nach der erteilten „Benotung“ – nicht möglich gewesen, wenn mir meine Eltern und mein Mathelehrer nicht gesagt hätten: Du kannst mehr, als deine Noten aussagen!
Und es hat sich bis heute nichts geändert! Noch vor einigen Jahren wurden in der Grundschulklasse meines Sohnes die Kinder nach Noten sortiert aufgestellt, sodass alle sehen konnten, wo sie „hingehören“ , aber nicht, was sie leisten und erreichen können.
Zum Verzweifeln ist der politische und mediale Umgang mit solchen von der Wissenschaft bestätigten, aber heftig bekämpften Erkenntnissen: Jede Studie, die Veränderungen fordert, wird mit beißender Kritik bedacht und das Ganze auch noch in 16 Ländern unterschiedlich interpretiert!
Was soll das Sitzenbleiben bringen – außer Demütigung und erheblichen Zusatzkosten –, wenn bei zwei die Versetzung gefährdenden Fächern der ganze Stundenplan ein Jahr lang wiederholt werden muss? Nicht nur das Sitzenbleiben, sondern auch der Verweis auf andere Schulformen sollte verwehrt werden, wie auch die ganze „Eignungsfeststellung nach Noten“ in Frage zu stellen ist. Ein aufgenommenes Kind sollte im Gymnasium verbleiben und dort ausreichend gefördert werden, statt es an andere Schulformen zu verweisen. Noch besser wäre, es gäbe in einer Schule für alle überhaupt keine Sortierung mehr, sondern „Rückmeldungen über individuelle Fortschritte und Defizite“ und „über freiwillige Leistungen und soziales Verhalten“, wie Georg Lind schreibt.
Ich denke oft, dass es besser wäre, wenn Lehrer/innen nach dem individuellen Fortschritt ihrer Klasse besoldet würden und nicht nach ihren „benoteten Abschlüssen“. Statt nach der „Schulform“ bewertet und der Menge der aussortierten, auf Gesamt-, Real- oder gar Haupt- und Sonderschule verwiesenen Kinder (ach richtig, sie heißt ja inzwischen Förderschule. Ich verwehre mir jede beißende Kritik zu diesem Begriff) sollten Gymnasiallehrer genau so bezahlt werden wie andere: nach dem Fortschritt ihrer Schüler/innen. Auch könnten Lehrer/innen in dem Maße befördert werden, wie es ihnen gelingt, das Selbstvertrauen der ihnen Anvertrauten zu stärken, ihre Lernmotivation zu erhöhen und den Wissensdurst zu wecken.“
Anahita Miesbach aus Frankfurt:
„Hallo,
ich bin 13 Jahre und gehe in die 7. Klasse eines Gymnasiums (Schillerschule Frankfurt). Einerseits ist es ziemlich ermutigend, dass so viele, die später ihren Weg gemacht haben, erstmal in der Schule sitzengeblieben sind.
Meine Meinung ist aber, dass das Sitzenbleiben vielen die Schule ganz schön vermiesen kann. Der Druck kommt dann von den Eltern und den Lehrern und eigentlich sollte das Lernen doch Spaß machen. Manche Schüler sind auch nur vorübergehend nicht so gut in der Schule und werden dann durch das Sitzenbleiben völlig aus der Bahn geworfen. Andererseits braucht man auch Anreize zum Lernen und wenn jemand keinen Durchblick mehr hat, kann man das in Ruhe für ein Jahr nochmals wiederholen. Deshalb finde ich es eigentlich ganz gut, wie es momentan in Hessen ist und man auch mal sitzenbleiben kann.“
Hans-Hermann Büchsel aus Heidelberg:
„Ich bin immer wieder erstaunt, mit welch geringer Praxiserfahrung Bildungsexperten schulisches Handeln meinen beurteilen zu können. Wer wie ich jahrzehntelang die Praxis von Klassennotenkonferenzen an einem Gymnasium kennt, weiß, dass ein/e Schüler/in mit Sicherheit kein „ganzes Schuljahr wiederholen [muss], wenn sich dieser Rückstand auf ein Fach beschränkt oder auf einen bestimmten Teil in einem Fach“ (Bildungsforscher Hans Brügelmann). Denn in jedem Fall wird man prüfen, ob eine Wiederholung unvermeidlich ist, und in den genannten Fällen gibt es z.B. in Baden-Württemberg die Möglichkeit einer Versetzung auf Probe. Nach den Sommerferien kann dann in Nachprüfungen in den mangelhaften Fächern die Versetzung noch bestanden werden. Wenn allerdings die Klassenkonferenz der Meinung ist, dass der betreffende Schüler im kommenden Schuljahr in der nächsthöheren Klasse ständig überfordert sein wird, ist tatsächlich eine Wiederholung als bessere Alternative angesagt. Eine Abschaffung dieser Möglichkeit würde bedeuten, dass man ständig überforderte Schüler mitschleppt, bis nach einer Jahrgangsstufe für ein Abschlusszeugnis (Hauptschul- oder Realschulabschluss Kl. 9/10) festgestellt werden muss, dass die entsprechende Leistung nach den Noten nicht vorliegt. Dann aber ist es zu spät für ein Auffüllen der Lernlücken, und ein erfolgloser Schulabbrecher ohne Schulabschluss verlässt die Schule – der schlimmste Fall im Bildungssystem, eine persönliche Katastrophe für die Betroffenen.
Natürlich gibt es – besonders in der Lebensaltersphase 14 bis 16 Jahre – auch das Phänomen des erneuten Misserfolges nach einer Klassenwiederholung, oft wegen außerschulischer persönlicher Problemlagen. Hier kommt es darauf an, dass die Schule möglichst frühzeitig auf entsprechende Warnsignale reagiert und in enger Abstimmung mit Elternhaus und – wo vorhanden – Schulsozialpädagogen oder Jugendtherapeuten – die betroffenen Schüler/innen pädagogisch möglichst intensiv begleitet.
Es lassen sich in dem beginnenden Nebeneinander vom G8- und G9-Zügen an zunehmend mehr Gymnasien durchaus auch Alternativen vorstellen, die ein „Sitzenbleiben“ durch eine so verlängerte Schulzeit – zumindest teilweise – vermeiden. Bis es „für jeden Schüler [Leistungs]Rückmeldungen zu verschiedenen Zeitzen gibt“ (Brügelmann), bedarf es noch einer – durchaus wünschenswerten – längeren Schulentwicklung und einer entsprechenden Lehrerausbildung. Keine Alternative aber ist es, wie in einigen Bundesländern geschehen, das Wiederholen von Klassen alternativlos abzuschaffen.“
Ich lasse außerdem eine Erwiderung auf den oben widergegebenen Leserbrief von Ulrich Pohl folgen. Edgar Uhl aus Wetzlar meint zu diesem Brief:
„Diskussionswürdige Beiträge in der FR sind natürlich gut, doch eines wissen alle: Wir Lehrer sind durchweg inkompetente und faule Säcke, die nichts tun, als die Schüler zu kujonieren, sie nicht fördern (bzw. nicht richtig fördern), einen unmenschlichen Druck erzeugen, alle Schüler grundsätzlich falsch bewerten und benoten, nachmittags um 13 Uhr bereits zu Hause im Sessel liegen und vom ersten bis zum letzten Ferientag, in allen Ferien natürlich, in Schweden sind. Fortbildung, Menschlichkeit, Interesse, Einsatz, Modernität, Aufgeschlossenheit – alles Fremdwörter für uns. Der Unterricht läuft noch immer frontal ab, die Schüler werden gnadenlos aussortiert und bekommen niemals eine echte Chance auf eine angemessene Bildung. Alle beenden die Schule als nicht ausbildungsfähige junge Erwachsene und landen im Prekariat oder laufen Amok. Soviel ist doch klar.
Und nachmittags fahren wir im Volvo zum Orthopäden und zum Masseur und lassen uns täglich durchkneten, denn als Privatversicherte wird uns die Gesundheit in alle Körperöffnungen gesteckt. Nebenher bezahlen wir locker zwei Häuser ab, denn wir sind ja allesamt überbezahlt.
Wenn 70 Prozent einer Hauptschulklasse einen Ausbildungsplatz bekommen, liegt dies natürlich an der Gnade der mittelständischen Unternehmen und des Handwerks und nicht an der Berufsvorbereitung der Schulen. Finden an Schulen keine Amokläufe statt, ist hierfür die entschlossene Aufklärungsarbeit der Polizei und der Jugendämter verantwortlich und nicht die Streitschlichtungsmaßnahmen meiner Kollegen. Steigt der Notendurchschnitt und sinkt die Sitzenbleiberquote an einer Schule, ist dies dem unmenschlichen Einsatz der Eltern zu verdanken und nicht der Förderung und den zusätzlichen Lernangeboten vieler Lehrer. Werden Kinder zu dick, ist hieran natürlich der falsche Sportunterricht Schuld, nicht die Fehlernährung durch billige Lebensmittel auf Hartz 4 Basis. Perverse nähern sich Kindern im Internet – die Schule betreibt keine Medienerziehung. Junge Erwachsene rutschen an den rechten Rand ab – in den Schulen wird der Politikunterricht vernachlässigt. Die Liste ist endlos.
Fazit: Wir Lehrer sind für das Übel in der Welt verantwortlich.
Noch ein paar Sätze zum geschätzten Ministerialrat Dipl.Ing. Pohl: Als Dipl.Ing. hätte Ihr Weg doch auch in eine berufliche Schule führen können. Als Berufschullehrer hätten Sie die Möglichkeit gehabt, Berufsvorbereitung, Förderung, Bewertung ohne Noten und Zeugnisse und viele Ihrer Ansätze zu verwirklichen. Ich meine damit nicht einen Posten in der Bildungsverwaltung, sondern die tägliche Arbeit mit Schülern. Doch die Tätigkeit an einer TU (sechs Lehrveranstaltungen pro Woche?) und die Verwaltungstätigkeit in der Hauptstadt schienen wohl lukrativer.
Schlagt nur immer weiter auf uns Lehrer ein, trampelt die Pfade der Lehrerbeschimpfung nach und setzt auf die Beiträge von Erziehungswissenschaftlern und nicht auf die Erfahrungen von Lehrern im Schuldienst.“
Die Studienergebnisse decken sich tatsächlich mit meiner Erfahrung aus vielen Notenkonferenzen: Das Sitzenbleiben bringt nicht viel. Oft schneiden die Schüler kaum besser ab nach dem wiederholten Jahr. Aber auch das in Ba-Wü praktizierte „Versetzen auf Probe“ in die nächste Klasse hält nicht, was es verspricht. Nur wenige Schüler bestehen die Prüfung. Der Nachteil ist, dass sie dann im angefangenen Schuljahr aus der höheren Klasse gerissen werden und dadurch den Anschluss in der darunter liegenden verpassen. Es ist leider auch so, dass Schüler, die durchs Abitur fallen oder dieses mit Bangen und Zittern gerade so bestehen (d.h. sie haben mehrere Kurse unterpunktet) häufig schon seit der Unterstufe, damit kämpfen, das Klassenziel zu erreichen. Daran ändert auch die schulinterne Nachhilfe (Stichwort: individuelle Förderung!) nicht viel. Meines Erachtens bot das Schulsystem in Ba-Wü eine Vielfalt an Möglichkeiten, den eigenen Interessen gemäß eine Schule auszusuchen. Gerade die Realschule in Kombination mit dem technischen Gymnasium bot bisher eine super Alternative zum klassischen Gymnasium und viele Schüler, die mit der Theorielastigkeit des Gymnasiums nicht klar kamen, haben diesen Weg erfolgreich gewählt. Gerade bei Ingenieuren, war dieser Bildungsgang äußerst beliebt. Ich schreibe „war“, weil durch die Einführung der Gemeinschaftsschulen dieser Weg bedroht ist. Das ist schade, da Gemeinschaftsschulen die bisherige Vielfalt an Schwerpunktbildungen nicht anbieten werden. FAZIT: Ob man das „Sitzenbleiben“ abschafft oder nicht, wird das Schulsystem nicht zerstören. Wer Interesse hat, zu erfahren, wie man ein leistungsstarkes Schulsystem tatsächlich ruiniert, braucht nur nach Ba-Wü zu blicken.
Sitzenbleiben oder nicht ist in den meisten Fällen NUR eine Frage, wie gut oder schlecht die Schüler mit ihrer Pubertät klarkommen. In dieser Zeit der Verwirrung und Rebellion kommt ausgerechnet noch die Schule mit ihrer Leistungsanforderung dazwischen, da geht eben schulisch so manches daneben. Hier hülfe schon der vermehrte Einsatz von Schulpsychologen mit Beratung und Hilfestellungen und Vermittlungsgesprächen mit den einzelnen unterrichtenden Lehrern in dieser aufreibenden Zeit. Ich bin sicher, die Sitzenbleiberthematik würde sich alsbald kaum mehr stellen.