Mit berittener Polizei hinterm Rennwagen her

Seit Beginn der Wirtschaftskrise hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Weg der Deregulierung der Wirtschaft der falsche Weg war. Mangelnde Aufsicht und laxe Regeln haben es den Zockern leicht gemacht. Sebastian Dullien, Professor für Volkswirtschaftslehre an der HTW Berlin, hat in einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung die Politiker ausfindig gemacht, die vor Ausbruch der Krise, also vor Sommer 2007,  tatsächlich undifferenziert Deregulierung gefordert haben, aber auch die, bei denen sich ein eher ausgewogener Forderungskatalog fand.  Das Ergebnis überrascht nicht besonders: Vor allem Politiker von CDU und FDP waren radikal für den Rückbau des Staates in allen Bereichen, allen voran natürlich FDP-Alleinunterhalter Guido Westerwelle. Ihm dicht auf den Fersen sind Günther Oettinger, Michael Glos und Roland Koch. In diesem Ranking ist Peer Steinbrück der erste SPD-Politiker. Ein Wert von 100 Prozent (Westerwelle) bedeutet in diesem Ranking: uneingeschränkte Deregulierung, niemals Regulierungsforderungen erhoben. Steinbrück hat hier einen Wert von 55. Keinerlei Deregulierungsforderungen stellten Oskar Lafontaine, Kurt Beck und Claudia Roth auf.

„Doch die vehementesten Deregulierungsbefürworter“, schreibt Dullien in seinem FR-Gastbeitrag, „sitzen nach der Studie nicht in Deutschlands Parlamenten oder an Deutschlands Kabinettstischen, sondern in den wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituten. Die sechs Chefs der wichtigsten Wirtschaftsforschungsinstitute erreichten allesamt einen Index-Wert von 100 Prozent. Die Mitglieder des Sachverständigenrates erreichen bis auf eine Ausnahme allesamt 87,5 Prozent. Die einzige Ausnahme ist Peter Bofinger, der mit 62,5 Prozent weit unter dem Durchschnitt der Ökonomen von 92 Prozent rangiert.“ Abgesehen von Bofinger seien das bedenkliche Werte, die auf ein „Deregulierungs-Vorurteil“ hinweisen würden. Also auf ideologische Voreingenommenheit.

Einer der Angesprochenen ist Prof. Ulrich Blum, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, der sich auf diesen Text mit einem Leserbrief zu Wort gemeldet hat:

„Es ist die alte Methode: Man baut einen Strohmann auf, den man dann verprügeln kann, und gewinnt so öffentliche Aufmerksamkeit. Dass vor der Krise die Staatsgläubigkeit bei Vielen geringer war als danach, überrascht nun wirklich nicht. Deregulierer aber als solche darzustellen, die nichts kapiert haben und nun für Re-Regulierung sind, verkennt die Problematik der Lage. Diese simplistische Weltsicht hilft nicht weiter. Und mich als implizit unbelehrbaren 100-Prozenter hinzustellen, verkennt die Problematik völlig.
Auch heute spreche ich mich weiter für Deregulierung aus, weil man dem Staat in wirtschaftlichen Dingen häufig nun wirklich nicht über den Weg trauen kann. Die Kalamitäten der Landesbanken oder der BaFin lassen grüßen, aber auch die gegenwärtigen Rettungsversuche zugunsten von Unternehmen, die bereits vor dem vollen Durchbruch der Finanzkrise in Schwierigkeiten waren. Immer habe ich mich dafür eingesetzt, parallel zur Deregulierung den Ordnungsrahmen zu stärken. Es ist geradezu abenteuerlich zu glauben, mit neuen Regulierungen könne man verhindern, dass Katastrophen wie die aktuelle wieder passieren. Das gleicht dem Versuch, mit der berittenen Polizei einem Rennwagen hinterherzujagen. Viele strikte Regulierungen haben doch versagt oder waren falsch: Schon vor über sieben Jahren habe ich auf die prozyklischen Effekte des Basel-II-Ratings hingewiesen – keiner wollte es hören. ‚Fair-value‘- und ‚impairment‘-Tests sind Normungen der Rechnungslegung, also auch Regulierungen, die im Aufschwung Gewinne hochschaukeln, in der Rezession zur Falle werden – wollte man das damals wissen? Hätte man diese Regeln damals nicht eingeführt, es wäre uns Manches erspart geblieben.
Wir müssen einsehen, dass in einer hochkomplexen Welt die Probleme nicht mit den Mitteln beseitigt werden können, die sie verursacht haben. Jegliche Regulierung hat die Genialität des Menschen in Rechnung zu stellen, die Regeln auszubooten. Derartige „moralische Versuchungen“ sind gleichermaßen modernen Institutionenökonomen und alten Ordnungsökonomen bekannt (was die Unsinnigkeit des aufgebauschten Methodenstreits zeigt), und beide bieten ähnliche, die Komplexität reduzierende Lösungsrezepte an: Verantwortung, also Beteiligung der Handelnden an Erträgen und vor allem auch Verlusten – letzteres ein wesentliches Merkmal der Sozialen Marktwirtschaft – und konstitutive Rechtfertigung für Eigentum und Gewinn.
Gerade ich habe mich für diesen wichtigen Aspekt immer eingesetzt. Vor zwei Wochen veranstalteten wir zum fünften Mal eine Tagung zu der Frage, wie wir diese Probleme im Ordnungsrahmen lösen können. Das ist eine Herausforderung für Theologie, Philosophie, Wirtschaftsethik, aber auch die moderne Institutionenökonomik und insbesondere auch die experimentelle Ökonomik, um die zugrundeliegenden Dilemmastrukturen zu durchdringen. Das weiterhin gültige Plädoyer für Deregulierung und Entstaatlichung ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Forderung, die Rahmenbedingung zu ändern.
Gegenwärtig übernimmt sich der Staat mit fiskalischen und regulatorischen Heilsversprechungen. Er wird sie nicht halten können. Die Bevölkerung wird sehen, dass die Staatsschuld Handlungsspielräume der Politik auf Dauer abwürgt und dass das Re-Regulieren allein nicht selig macht. Zu hoffen ist nur, dass diese Erkenntnis nicht zu tiefer Staatsverdrossenheit durch gebrochenes Vertrauen wird. Hoffentlich wird Herr Dullien dann schreiben, dass die Regulierung der Jahre ab 2009 leider die Probleme nicht gelöst, Frustrationen über staatliche Machtlosigkeit damit ausgelöst hat – und unseren Staat verteidigen. Denn der bekommt dann die Hiebe, nicht liberale Ökonomen.“

Siegmar Henkes aus Hannover hat einen Forderungskatalog:

„Ist da wirklich der eine oder andere vom Saulus zum Paulus geworden? Wohl kaum. Es sollte ganz genau darauf geachtet werden, wer von den genannten Personen – und weiteren so genannten Führungseliten – auch zukünftig von Deregulierung und anderen neoliberalen Rezepten Abstand nimmt. Und dies nicht nur in Worten. Schon jetzt ist zu beobachten, dass auf so manche verbale Kraftmeierei – gerade auch von Herrn Steinbrück – weit weniger energische Taten folgen. Erste Versuche, in die alte Richtung zurückzuschwenken, während die Krise möglicherweise noch nicht einmal die Talsohle erreicht hat, sind ebenfalls zu beobachten.
Es wäre ja auch naiv zu glauben, dass diejenigen, die die neoliberale Lehre mit der Inbrunst eines erzkatholischen Dogmatikers verkündet haben, samt und sonders lernfähig und -willig wären. Da ist viel Opportunismus dabei.

Um künftige Krisen zu vermeiden oder wenigstens unwahrscheinlicher zu machen, müssen drei Aufgaben energisch angegangen werden. Erstens: grundlegend andere Anreizsysteme in der Wirtschaft, die Zocken bestrafen und nachhaltiges Wirtschaften belohnen. Zweitens: eine offensive und auch mit der nötigen Härte geführte intellektuelle Auseinandersetzung mit der neoliberalen Ideologie. Und vor allem: eine konsequente Personalpolitik. Größere Teile des bisherigen Führungspersonals müssen ausgetauscht werden, denn leider ist bei vielen dieser Personen auf eine Verhaltensänderung auch unter veränderten Rahmenbedingungen nicht zu hoffen. Sie ähneln Verkehrsrowdies, die schon wenige Meter nach der Polizeikontrolle das Gaspedal wieder bis zum Anschlag durchtreten.
Das mag man bedauern. Man muss aber zur Kenntnis nehmen und diese Leute entsprechend behandeln.“

Nikolaus Jöckel aus Offenbach meint:

„Nimmt man die Deregulierungspostulate des Weltökonomen aus der Wiesbadener Staatskanzlei als bare Münze und fügt noch das Vorgehen der hessischen Finanzverwaltung gegen ihre eigenen Steuerfahnder hinzu, ergibt das schon ein klares Bild. Konservative Spezies und potentielle Parteispender sind in jeder Hinsicht zu schonen. Eigentlich könnten ‚die kleinen Leute‘ wissen, wer sie verkauft, und politisch danach handeln.“

Klaus Höfler aus Olfen:

„Grundsätzlich bedurfte es keiner großen geistigen Anstrengung zu erkennen, dass Staatsaufgaben eben nicht dem freien Spiel der Märkte überlassen werden können. Das führt zu Entdemokratisierung, was doch wohl keiner wirklich wollen kann. Immer dann, wenn einige Wenige zu viel Macht auf sich konzentrieren konnten, wurde diese Macht zum Nachteil des Volkes ausgenutzt. Und da will beispielsweise ein Herr Westerwelle auch noch die Krankenversicherung privatisieren. Als Versicherungsprofi kann ich da nur sagen: ‚Denn Sie wissen nicht, was sie tun.‘ Oder etwa doch? Bereitet möglicherweise Herr Westerwelle seine berufliche Zukunft – sagen wir im Vorstand einer großen deutschen Krankenversicherungsgesellschaft vor?
Der Versuch, die Rentenversicherung zumindes teilweise zu privatisieren ist doch wohl gründlich in die Hose gegangen. Herr Riester mag sich ja bei den privaten Versicherungsgesellschaften eine ordentliche ‚Belobigung‘ abgeholt haben. Der Stabilität der Rentenversicherung hat er doch nur einen Bärendienst erwiesen. Ich finde es einfach ungeheuerlich, dass ein Staatsbediensteter ein Versicherungsprodukt ‚erfindet‘, dieses mit Steuergeldern fleißig bewirbt, das Produkt quasi an die Privatwirtschaft überführt, welche sich dann das Säckelchen füllt. Noch schlimmer ist es, dass solch ein misslungenes Produkt dann auch noch gesetzliche Privilegien bekommt, was noch mehr Bürger in ein solch fragwürdiges Produkt treibt. Gleiches gilt für die sogenannte Rürup-Rente! Wenn also ein Rürup-Versicherter nicht verheiratet ist und stirbt, verfällt das angesparte Kapital – angeblich zu Gunsten der Versichertengemeinschaft -, und die Lebenspartnerin sieht in die Röhre. Wenn man sich dann noch die Rendite dieser Produkte ansieht, dann kann es einem ja nur schlecht werden.
Renten,- Kranken,- und Berufsunfähigkeitsabsicherung ist eine Staatsaufgabe und muss ständiger demokratischer Kontrolle unterliegen! Es scheint so, als wollen die Herren Westerwelle und Co die Demokratie abschaffen. Da würde ich insbesondere mal gerne mit dem ach so klugen Herrn Westerwelle drüber reden. Könnte ja sein, dass er noch was merkt.“

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3 Kommentare zu “Mit berittener Polizei hinterm Rennwagen her

  1. Es hat sich gezeigt, daß eine Deregulierung in bestimmten Bereichen der Finanzwirtschaft schädliche Folgen haben kann. Ganz konkret und besonders bei der Frage, wieviel Eigenkapital Geschäfte mit Schuldpapieren untermauern muß, gesetzlich verpflichtend. Jetzt aber pauschal sämtliche Deregulierung nicht nur in (diesen Bereichen) der Finanzwirtschaft, sondern in der Gesamtwirtschaft zu verteufeln, kommt mir so vor, wie wenn man das Autofahren verbieten wollte, nur weil bei der Formel 1 die Unfalldichte so hoch ist… mit andern Worten, es kommt mir reichlich blödsinnig vor.

    Ein vernünftiges Vorgehen wäre doch, jede Regulierung auf den Prüfstand zu stellen, ihre Effekte zu analysieren, und dann zu beurteilen, ob diese Effekte das Gewünschte sind oder eben doch leider mehr schädliche Folgen haben.

    Das Problem dabei ist, daß man leider oft die Effekte gar nicht richtig und vollständig beurteilen kann. So wird z.B. bei einer Regulierung „höhere Unternehmenssteuern“ gern der tolle Effekt „erstmal mehr Geld in der Staatskasse“ noch vom Dümmsten eingesehen, über die Frage, was diese Regulierung aber für Auswirkungen auf die Motivation hat, wirtschaftlich tätig zu sein, gehen die Meinungen weit auseinander.

    Fazit: Regulierung muß case by case diskutiert werden, Pauschalurteile wie „Deregulierung ist böse“ oder „Deregulierung ist gut“ sind, sorry, reichlich dämlich.

  2. Ein erster eigentlich klarer Schritt der Regulierung ist doch: Wenn Banken nicht Pleite gehen dürfen können sie auch nicht privat sein. Dann wären wir schon ein gutes Stück weiter. Siehe Sparkassen. Die Landesbanken sind als Problem entstanden weil Politiker Privatbanken kopieren wollten und dabei über den Tisch gezogen worden sind

  3. Die SPD ist gefangen, eingesperrt und befreit sich nicht mehr. Es gibt und gab in der FR eine Reihe von Veröffentlichungen, Meinungen, Artikeln, die den Grund dafür benennen, manchmal auch nur indirekt. Analysieren wir doch nur noch einmal ganz kurz die – nur aus meiner Sicht – unsägliche Auffassung des Herrn Prof. Ulrich Blum, Halle, zu Positionen der Entstaatlichung (u.a. Leserbriefe vom 16.7. in FR Bronski). Ich fürchte, solche Positionen werden – natürlich von vielen gefühlt – mehrheitlich geteilt. Der Feind ist der Staat, unbeliebt sind Bekenntnisse zu öffentlichen Aufgaben, Grundsätze und Prinzipien, die auch Minderheiten, Arme, Hilflose leben lassen wollen oder – noch schlimmer – sie gar fördern möchten. Das aber kann eben nur öffentliches Handeln. Die von mir vermutete Mehrheit will aber wohl ihren Lebensstil, also Party, ungestört leben. Das aber garantiert, wo überhaupt, nur – wie irgendjemand bei Ihnen so schön sagt – die „Blackbox ohne Inhalt“ Merkel mit Anhang Westerwelle.

    Genau deshalb ist die Mehrheit für neoliberale Positionen der Entstaatlichung, der Deregulierung mit diffusem Ordnungsrahmen, strukturell und die SPD hat keine Chance, denn diese steht nun einmal noch immer wenigstens für ein wenig Menschlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Sich davon zu verabschieden, da hat Hebel recht, hat ihr ebenso geschadet wie die Tatsache, dass sie sich eben nicht zu Prinzipien und Grundsätzen bekennen will, notfalls unter der vermeintlichen Strafe langer Opposition – wenn schon, auch kein Unglück. Die CDU ist, wie oben im Norden gerade zu sehen, eben immer am längeren „Hebel“, leider hat sie nicht den FR-Hebel, sondern die neoliberale Brechstange, denn, siehe oben: die SPD ist gefangen und immer zu erpressen mit dem Hinweis auf die Gefahr sog. Rot-Roter-Bündnisse. Na dann soll sie doch mal ein solches Bündnis eingehen wenn es geht. Wir müssen doch auch einmal sehen, ob ’s funktioniert auf der Basis unserer Verfassung; wenn wir es nie versuchen, werden wir immer erpressbar bleiben. Ich jedenfalls möchte wissen, ob jeder Systemwechsel – wie gesagt: auf der Basis unserer humanitären Verfassung – notwendig auf die Guillotine führt.

    Übrigens: intellektuell angefangen hat alles – ich bleibe etwas zurückgezogen – in den Achtzigerjahren mit einem intellektuellen Philosophieprofessor aus einer Hessischen Provinzstadt, der – wenn auch nachvollziehbar – den Weg der Politik zum Abschied vom Prinzipiellen begründet hat; heute kommt aber alles darauf an, den Abschied vom Abschied vom Prinzipiellen zu beginnen. Jedenfalls wird der oben zitierte Herr Professor vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle – entgegen seiner Meinung – kaum die Philosophie, schon gar nicht eine ernst zu nehmende christliche Ethik (wenn er das unter Theologie versteht) – für seine Entstaatlichungsprogramme in Anspruch nehmen dürfen. Schon deshalb nicht, weil kein ernsthafter Vertreter dieser Zünfte Blums grausige Formulierung „Dem Staat ist nicht zu trauen“ tragen kann. Frage ich abschließend eben Herrn Blum: den Wirtschaftsinstituten etwa, oder gar den Banken, dem freien Markt? Wenn etwas evident ist, dann die Antwort auf diese Fragen.

    Herzlichst
    Dr. Hans-Ulrich Hauschild, Gießen

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