Positive und negative Weltanschauungsfreiheit

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass Kruzifixe in italienischen Schulzimmern nichts zu suchen haben: Sie bedeuteten eine „Verletzung des Rechts der Eltern, ihre Kinder gemäß ihren Überzeugungen zu erziehen“ und „der Religionsfreiheit der Kinder“. Der Vatikan kritisiert die Entscheidung natürlich: „Es scheint, als wolle man die Rolle des Christentums für die Formung der europäischen Identität leugnen“, erklärte Vatikansprecher Federico Lombardi. Religion leiste „einen wertvollen Beitrag für die Erziehung und das moralische Wachstum der Person und ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Zivilisation“. Die Berlusconi-Regierung will das Urteil nicht hinnehmen: „Die Präsenz des Kruzifixes in den Schulzimmern bedeutet nicht, dass sich die Schule zum Katholizismus bekennt; es ist ganz einfach ein Symbol unserer Tradition“, erklärte Bildungsministerin Mariastella Gelmini. „Niemandem, auch nicht irgendeinem ideologisierten europäischen Gerichtshof, wird es gelingen, unsere Identität auszulöschen.“

Auch Bayern fühlt sich betroffen – verständlicherweise, denn das EuGH-Urteil könnte für ganz Europa bindend werden, wenn der Große Senat, die letzte Instanz in dieser Sache, im Sinne des Urteils entscheidet. Der familienpolitische Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Johannes Singhammer (CSU), kritisierte das Kruzifix-Urteil scharf: ein „klassisches Fehlurteil“. Kreuzzeichen seien ein sichtbares Symbol einer klaren Werteorientierung, „nämlich dem Schutz der Würde aller Menschen, egal welcher Herkunft, welchen Geschlechts oder welchen religiösen Bekenntnisses“. Die Richter hätten mit ihrem Urteil nach dem Empfinden vieler EU-Bürger nicht „im Namen des Volkes“ gesprochen. „Das Bekenntnis zum Atheismus darf nicht privilegiert und die christlichen Glaubensinhalte nicht diskriminiert werden“, sagte Singhammer.

Dazu Reiner Moysich aus Karlsruhe:

„Dass viele so genannte „Christen“ über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verärgert sind, finde ich teils verwunderlich, teils verständlich. Verwunderlich, da die Europäische Menschenrechtskommission –  wie auch das Grundgesetz! – schon seit Jahrzehnten die Religions- bzw. (besser) Weltanschauungsfreiheit in eine „positive“ und „negative“ Freiheit unterteilt. Die „positive“ Freiheit bedeutet, dass jeder seinen religiösen oder nichtreligiösen Glauben frei ausüben kann, die „negative“, dass dabei jedoch  (wie bei jeder Art von Freiheit) die Freiheit des Einen dort aufzuhören hat, wo die Freiheit des Anderen anfängt. Dies heißt hier, dass jeder europäische Staat genau darauf achten muss, dass er keine Weltanschauung bevorzugt oder benachteiligt. Diese eminent wichtige  Neutralität wird massiv verletzt, wenn in staatlichen (!) Schulen Kruzifixe  angebracht werden – nicht jedoch ebenso alle Symbole der anderen etwa 4000 Weltanschauungen. Da Letzteres aber praktisch unmöglich ist, bleibt als einzige faire Lösung, dass keinerlei Weltanschauungssymbol die Räume dominiert.
Der Ärger so genannter „Christen“ ist nur dann verständlich, wenn sie gemäß des seltsamerweise noch immer bestehenden kriegerischen christlichen Absolutheitsanspruchs (die einzige richtige, wahre Religion zu haben) sich einbilden, sie müssten auf jeden Fall bevorzugt werden – auch wenn diese abstoßende, arrogante Einstellung massiv grundgesetz- und menschenrechtswidrig ist.  Sie denken dabei äußerst egoistisch und handeln genau entgegengesetzt zur christlichen Nächstenliebe; denn laut  Lev. 19,18 wird unter Nächstenliebe verstanden: „Liebe deinen Nächsten; denn was dir unlieb ist, tue ihm nicht!“ Da es sicher Christen sehr „unlieb“ wäre, wenn z.B. statt Kreuzen Buddha-Statuen in allen Klassenzimmern ständen, werden sich wahre Christen bestimmt über dies bahnbrechende, äußerst gerechte Urteil freuen.
Weil die christliche Nächstenliebe unverzichtbar zum Christsein dazugehört, müssten folglich alle so genannte „Christen“ (einschließlich Papst!) entweder umdenken hin zu wirklicher Mitmenschlichkeit – oder aber darauf verzichten, sich Christ zu nennen!“

Karsten Neumann aus Nürnberg:

„Man kann diese Toleranz gegenüber dem Kruzifix als Erwachsener vielleicht tolerieren, aber als Kind ist man dazu  noch nicht in der Lage. Überhaupt, was heißt denn verbissene Auseinandersetzung? Eine Schule ist für alle da, und es gibt in Europa sehr viele Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen mit der christlichen Kirche nichts mehr am Hut haben, sondern sich aus  freien Stücken für ein anderes Leben entschieden haben.  Die christliche Religion wird mittlerweile dazu missbraucht, Afrikaner im Mittelmeer ersaufen zu lassen, so sieht’s mit der Toleranz der Parteien in Europa aus, die sich „christlich“ auf ihre Fahnen schreiben!“

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4 Kommentare zu “Positive und negative Weltanschauungsfreiheit

  1. Religiöse Symbole haben in Räumlichkeiten die einem säkularen demokratischen Rechtsstaat zurechnen, nichts verloren.

    Religion und Glaube als Ausfluss der Entscheidung eines Individuums sich tranzendent zu betätigen fällt eindeutig in den Bereich der privaten Lebensführung.

    Mangels demokratischer Legitimierbarkeit solcher Umtriebe können daraus auch keine berechtigten Ansprüche auf Repräsentanz in öffentlichen Gebäuden hergeleitet oder aufrecht erhalten werden.

    Es kann und darf einer demokratisch nicht legitimierbaren Sektierertruppe nicht erlaubt sein den sekularen Staat auszuhöhlen; wehret den Anfängen.

    Karl Müller

  2. Warum nimmt man nicht die 11 wichtigsten Religionen der Welt her und hängt ihr jeweiliges Hauptsymbol in die Schulen… in jedem Monat eines davon, das dann am Ende des Monats dem der nächsten Religion weichen muß. Wie, es gibt zwölf Monate? Ach, im zwölften kann man ja eine kleine Tafel aufhängen: „Es gibt wahrscheinlich keinen Gott.“

  3. @wedell

    Schöne Idee.

    Aber beim zwölften Monat scheiden sich die Geister:

    a. Was ist „es“ und wenn „es“ ist, was
    b. „gibt“ es dann und warum
    c. was ist „Wahrheit“ und was ist „Schein“
    d. was ist die Negation in Bezug auf Gott und Wahrscheinlichkeit?
    e. was ist „Gott“, unabhängig von der Frage, ob es einen gibt oder nicht?

    11 Monate Friede im Klassenraum, aber dann…

  4. @BvG,

    ja, das ist ein Problem. Die Symbole verdecken ja die Fragen, die Texte sofort aufwerfen, gehn mehr ans Gefühl. Insofern bräuchten auch Atheismus, Agnostizismus oder Apatheismus langsam mal Symbole. Allein schon um im Kampf um die Klassenzimmer mithalten zu können. Vielleicht ein Fall für die Giordano-Bruno-Stiftung.

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