Im Zusammenhang mit der Türkeireise unserer Kanzlerin flammt die Diskussion darüber wieder auf, ob die Türkei in die EU gehöre oder nicht. Viele in der EU befürworten das, andere sind strikt dagegen. Die Art, wie der türkische Ministerpräsident das Thema instrumentalisiert, nährt die Zweifel der Letzteren. Er nutzt es nämlich einerseits, um die frühere Machtelite der Kemalisten zurückzustutzen, denen es u.a. zu danken ist, dass Staat und Religion in der Türkei strikt getrennt sind. Dies tut er unter dem Deckmantel der Demokratisierung; die Entmachteten werfen ihm jedoch vor, auf dieser Weise gerade diese weltliche Staatsordnung auszuhöhlen. Schwierig ist die Debatte auch, weil die Türkei sich strikt einer Auseinandersetzung mit den Armenierverfolgungen im Ersten Weltkrieg verweigert. Zudem hat Erdogan gerade erst mit seinen Auslassungen zu türkischen Schulen für Zoff gesorgt. Zweifel sind angebracht, ob ein EU-Beitritt der Türkei mit solchen Politikern an der türkischen Spitze machbar wäre. Doch „die europäische Integration der Türkei ist ein Projekt, das weit über die Ära Erdogan und Merkel hinausreicht“, schreibt FR-Korrespondent Gerd Höhler im FR-Leitartikel und kommt zu dem Schluss: „Die Europäische Union in ihrer heutigen Form ist zu klein, um in der Welt auf Dauer politisch mitreden zu können. Ein Beitritt der Türkei gäbe Europa ein angemessenes Gewicht. Die Türkeipolitik ist deshalb ein wichtiger Test für Europa: Sie entscheidet darüber, welche Rolle die EU auf der globalen Bühne spielen will.“

Die FR-Leser sehen das überwiegend kritisch. So meint Klaus Boll aus Frankfurt:

„Herr Höhler schreibt im Leitartikel, ein Beitritt der Türkei gäbe Europa ein angemessenes Gewicht. Das heißt im Umkehrschluss, Europa sei ohne die Türkei ein Nichts. Solch eine  gewagte These ist Wasser auf die Mühle panturkmenischer Träume. Es ist schwer zu verstehen, dass Höhler den Beitritt befürwortet, obwohl er gleichzeitig einige schwerwiegende Gründe aufzählt dies gerade nicht zu tun,  z. B.: eine Alles-oder-Nichts-Politik einer islamisch-konservativen Partei in dieser Frage. Es gehe dabei um die nationale Ehre und den persönliches Stolz.  Das sind meiner Meinung nach überholte Begriffe, mit denen man in Europa keinen Meter mehr vorankommt.
In seiner Annahme, eine europäische Integration sei die beste Versicherung gegen ein Abdriften in den politischen Islam, spiegelt sich reines Wunschdenken. Man muss sich vor Augen führen, dass die Türkei im Fall des Beitritts das größte ‚europäische‘ Land mit den meisten Einwohnern wäre. Das wäre nicht das trojanische Pferd, sondern der trojanische Elefant. Genau in dieses Bild passt Höhlers Beobachtung, dass man, wenn man Erdogan zuhöre, glauben könne, nicht die Türkei wolle der EU beitreten, sondern die EU der Türkei.
Zum Schluss möchte Herr Höhler das Gegenargument entkräften, Europa würde sich mit einer Aufnahme der Türkei überdehnen. Wenn dem nicht so ist, Herr Höhler, warum bieten wir dann nicht Russland den Beitritt an? Die Russen sind Europäer und verstehen sich in ihrer Mehrheit auch als solche. Und somit hätte die EU dann auch das Gewicht von dem Sie träumen.“

Dietrich Puchstein aus Kronberg:

„Die Kanzlerin bemüht sich in der Türkei um Deeskalation. Eigentlich ist dies die Aufgabe desjenigen, der die Eskalation verursacht hat. Nach dem Auftreten des türkischen Ministerpräsidenten vor etwa einem Jahr in Köln und der jetzt neu gegründeten Behörde für die Belange der fünf Millionen im Ausland lebenden Türken, die Erdogan direkt leitet, müssen sich die deutschen Behörden und Politiker auf Einiges gefasst machen. Denn wie die Türkei ‚ihrer Verantwortung für ihre Staatsbürger gerecht werden wird‘, werden wir voraussichtlich schon sehr schnell beim Streit über die Deutsche Islamkonferenz erleben.
Die Türkei will die EU zu ihren Bedingungen zur Aufnahme zwingen und benutzt die in der EU lebenden Türken als Brecheisen, um ihre Machtansprüche durchzusetzen. Dafür will sie die doppelte Staatsbürgerschaft für ihre Landsleute, dafür arbeiten türkische Imame und in Zukunft türkische Lehrer an türkischen Schulen, dann Universitäten und letztendlich noch türkische Kindergärtnerinnen an türkischen Kindergärten. Die deutschen Kompromisspolitiker wollen oder können nicht erkennen, dass es sich bei Erdogan um einen eiskalt kalkulierenden Machtpolitiker handelt.“

Gültekin Kirci aus Hannover:

„Die Berichterstattung in den deutschen Medien – unabhängig davon ob aus der rechts-konservativen oder links-liberalen Fraktion  – ist wegen der Einseitigkeit ein echtes Armutszeugnis.
Frau Merkel ist also als Aufklärerin in der Türkei unterwegs. Der deutsche Oberlehrer lehrt sozusagen wieder mal den türkischen Unglücksstifter, wie die Dinge zu laufen haben. Aber wehe, der türkische Sultan Erdogan erlaubt sich, sich kritisch über die deutsche Integrationspolitik zu äußern. Dann geht ein Aufschrei durch den deutschen Blätterwald. Aber kein Wort über die nachweisbare Benachteiligung von Migranten. Stattdessen die krankhafte und peinliche Suche nach allem, was die Kanzlerin bei ihrer Auslandsvisite noch irgendwie in gutem Licht erscheinen lässt.
Türken haben Deutschland anzuhimmeln und zu verehren, haben aber zugleich ganz still zu sein, wenn sie die geradezu  leidenschaftliche  Türken- und Türkeischelte des deutschen Volkszorns trifft. Solche Züge nimmt es mittlerweile an, wenn sich der Türkenchef Erdogan in die deutsche Innenpolitik einmischt. Deutschland mischt sich natürlich seit jeher in die türkische Innenpolitik ein, aber das nennt man Kulturpolitik und Hilfe beim Reformprozess.“

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:

„Gerd Höhler bringt es auf den Punkt: Will die EU mit einer halben Milliarde Bürger global eine angemessene Rolle spielen, muss der laufende Beitrittsprozess für die Türkei zu einem positiven Ende gebracht werden, vorausgesetzt, sie erfüllt weitere wichtige Beitrittskriterien,  insbesondere in rechtspolitischer Hinsicht. Die Türkei hat kulturell  seit Atatürk  einen eindeutig  auf Europa ausgerichteten außenpolitischen Kurs verfolgt. Millionen von Türken leben inzwischen in Europa, die meisten in Deutschland. Die türkische Wirtschaft ist inzwischen für Deutschland wichtiger als die japanische! Es ist zwar richtig, dass dann zum ersten Mal ein muslimisches Land der Gemeinschaft beiträte, aber die Türkei erfüllt eine ganz wesentliche Voraussetzung:  Staat und Religion sind streng getrennt.
Wenn überhaupt, gibt es  ein Gegenargument für den Beitritt, das schwer wiegt. Das Bevölkerungsgewicht der Türkei und die demographische Dynamik könnten die innere Machtbalance zwischen den EU-Staaten verschieben. Dennoch geben  die geopolitische Position der Türkei und ihre historische Hinwendung auf Europa den Ausschlag. Realpolitik gebietet, der Türkei das Tor nach Europa definitiv zu öffnen. Man hat im übrigen solches auch bei Bulgarien und Rumänien getan, die seinerzeit  in vieler Hinsicht die Beitrittskriterien nicht voll erfüllten.“

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13 Kommentare zu “Erdogans Brecheisen

  1. Ich teile die Kritik an Erdogans Politik. Sie ist von Nationalismus geprägt, er betreibt Kulturimperialismus und mischt sich permanent in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Dabei macht er aus seinen Absichten keinen Hehl.

    In Spiegelonline wurde dazu vor einigen Tagen folgendes berichtet:
    „Dass er ein besonderes Augenmerk auf seine im Ausland lebenden türkischen Landsleute hat, bewies Erdogan auch kürzlich bei einem Treffen in Istanbul. Mit seiner konservativ-religiösen AKP-Regierung hatte er aus ganz Europa rund 1500 türkischstämmige Politiker eingeladen. Die Botschaft lautete: Im Ausland lebende Türken sollten die Staatsbürgerschaft ihrer neuen Heimat annehmen, aber nicht in erster Linie um sich dort zu integrieren, sondern um im Sinne der Türkei politisch aktiv zu werden.“

    Dies ist schier eine Frechheit. Die Türkei selbst würde sich solche Einmischungen vehement verbitten. Sein Vorschlag zur Einrichtung türkischer Schulen in Deutschland und das Agieren türkischer Institutionen wie z.B. die DITIB dient nur einem Zweck: Die Bindung türkischer Migranten an die türkische Kultur, die Beibehaltung ihrer Loyalität zu ihrem Heimatland und die Einflussnahme auf die Innenpolitik anderer Staaten. Da der Anteil der Türkischstämmigen an der in Deutschland lebenden Bevölkerung unter 24J rapide zunimmt, wächst bei einer solchen Politik die Gefahr einer Unterwanderung.

    Zu berücksichtigen ist hierbei, dass der türk. Staat selbst eigene Minderheiten unterdrückt, Unterricht in ihren Sprachen teilweise immer noch unterbindet.

    Vor diesem Hintergrund ist das vorsichtige, fast anbiedernde Verhalten unserer Kanzlerin bei ihrem letzten Türkei-Besuch fast peinlich. Das „Rauhbein“ soll anscheinend durch Beschwichtigungen besänftigt werden. Ich denke, dass dies genau das falsche Vorgehen ist. Erdogan lotet seinen Aktionsradius aus, der dürfte sich nun vergrößert haben.

  2. Man kann eine Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei doch nicht an Erdogan festmachen, Erdogan wird nicht ewig an der Macht sein, und was dann?

    Aus verschiedenen Gründen, die mit Erdogan nicht das geringste zu tun haben, ist ein EU-Beitritt der Türkei abzulehnen. Zunächst einmal ist es der wirtschaftliche Zustand der Türkei. Das ständig hochgelobte Phänomen eines angeblichen Wirtschaftsbooms beschränkt sich doch auf Istanbul und Ankara bzw. einige wenige industriell entwickelte Regionen des Westens. Der große Rest des Landes ist landwirtschaftlich orientiert und kaum entwickelt. Hier würden im Rahmen von Entwicklungs- und Landwirtschaftssubventionsleistungen Milliarden aus Brüssel fließen müssen, auf Kosten der entwickelten Länder, an erster Stelle Deutschlands, was ich übrigens als den Hauptgrund sehe, warum die Türkei so ein Interesse am EU-Beitritt hat, und sogar die ständigen Demütigungen und Gängelungsversuche in Kauf nimmt: Milliarden und Abermilliarden von Geldern aus Brüssel, die die Türkei viel schneller auf ein westliches Wohlstandsniveau heben würden als es die Türkei alleine schaffen könnte.

    Ich finde es wirklich bemerkenswert, daß in einer Zeit, in der die einstige Hereinnahme von wirtschaftlich schlecht entwickelten Ländern wie Griechenland und Portugal uns viel Geld kosten wird, darüber geredet wird, der Beitritt eines Landes, das wirtschaftlich in weiten Teilen noch viel schlechter aufgestellt ist, ernsthaft diskutiert wird.

    Ein weiteres Problem, das ebenfalls ganz hauptsächlich Deutschland betreffen würde, wäre das freie Niederlassungsrecht innerhalb einer EU, der die Türkei zugehörig wäre: Es ist nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sogar sehr wahrscheinlich, daß sich viele weitere Millionen Türken, hauptsächlich aus den ärmsten Gebieten des Ostens, in die „reiche“ Bundesrepublik, zu ihren Millionen Landsleuten, die schon hier sind, aufmachen würden, und es gäbe keine Möglichkeiten mehr, dies zu regulieren. Dies würde den Integrationsdruck der hiesigen Türken, so es ihn überhaupt gibt, weiter extrem vermindern, und die entstehenden weiteren und zahlreicheren Parallelgesellschaften einer anderen, muslimischen Kultur in direkter Nachbarschaft würden ganz erhebliche Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung erzeugen, die ab einer bestimmten Größenordnung des Problems nicht mehr die Option hat, einfach in ein anderes Viertel oder eine andere Stadt umzuziehen.

  3. Der Beitritt der Türkei war nie so offensichtlich Unsinn als im Moment. Es ist klar ersichtlich das die Aufnahme von Griechenland und Portugal in den Euroraum ein Fehler war. Die Osterweiterung wird mit Wahrscheinlichkeit auch noch zu Problemen führen. Wenn man sieht das man immer mehr das ex Jugoslawien in die EU aufnehmen will bin ich mal gespannt wer das bezahlen soll was da an Subventionen fällig wird. Das ist alles gar nichts gegen ein so großes Land wie die Türkei. Dazu kommen noch die kulturellen Unterschiede. Ich denke die EU sollte erst einmal viele Jahre Luft holen und in dieser Zeit die eigenen internen Probleme lösen, bevor weitere Länder beitreten sollten.

  4. Ich kann den Kommentatoren unter 2 und 3 nur zustimmen, selbst wenn ich dabei in den Verdacht des Rechtspopulismus gerate. Wir doktern doch derzeit gerade daran herum, daß wir Länder, wie z.B. Griechenland, mit gefakten Zahlen in den Euro-Raum aufgenommen haben, oder Balkan-Staaten wie Rumänien oder Bulgarien, trotz grassierender Korruption, und wohl auch EU-Gelder Abgreifung, in die EU aufgenommen haben.

    Und jetzt die Türkei. Was bringt uns das? Wirtschaftsunternehmen, die Handel treiben, mögen profitieren, aber Otto Normalverbraucher? Da werden dann wieder Milliarden, unkontrolliert, fließen, und letzten Endes wird es nicht der Vermögende, sondern der deutsche Michel bezahlen müssen, wie so oft und wie immer – ist ja für Europa, wie uns Kohl, der „große“ Europäer, vermittelt hat. Fragen wir uns doch mal, was wir bekommen haben: Niedrigere Löhne, Billigjobs en masse, Zeitarbeitsverträge, bröckelnde Sozialstandards, und alles wegen bzw. für Europa??? Was habe ich davon, wenn ich mir wegen sinkendem Lohn oder stagnierender Rente, und heimlichen versteckten Inflations-Teuro-Raten keinen Auslandsurlaub mehr leisten kann, sondern nur 8 Tage Frankenwald? Da pfeife ich doch auf vergleichbare Umrechnungskurse.

    Und das die Amis ein strategisches Interesse daran haben, daß das NATO-Mitglied Türkei in die EU kommt, dürfte klar sein. Und die Nachtigall trapst dann, wenn man einbezieht, das die Amerikaner sehr wohl wissen, daß ein EU-Mitglied Türkei sehr wohl Euro und Sozialstandards weiter bröckeln lassen wird – kommt ja dem Dollar nur zu Gute, der eigentlich nichts mehr wert wäre, wenn er nicht von China gestützt bzw. subventioniert werden würde.

    Wir haben unsere Probleme mit den türkischen Zuzüglern, auch und verstärkt der 2. und 3. Generation. Gesabbert wird viel in Sonntagsreden, getan wird nichts. Und dann noch ein paar Millionen dazu, wg. Freizügigkeit innerhalb der EU?

    Warum löst die EU nicht einmal zuerst ihre internen Probleme auf der vertikalen Ebene, als sich weiter wie Krebs horizontal zu erweitern und zu verbreitern? Einheitliche soziale und Finanzstandards, mehr Bürgerrechte in Richtung Mitentscheid, Bürger, die auch das Gefühl haben, ernst genommen zu werden, und nicht nur als Zahlemann und -frau herzuhalten – dann klappt es auch mit dem Beitritt. Und ketzerisch gefragt: Was unterscheidet die Türkei z.B. von der Ukraine, wo dieses Land doch 100% in Europa liegt, und nicht zu 90% in Asien?

  5. Ein weiterer Massenzusstrom Geringqualifizierter ist auch aus anderen Gründen als denen der Integrationsproblematik abzulehnen. „Die Ausländer nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg“ wurde lange Zeit als Figment der Fantasie von Rechtsextremisten verunglimpft. Und tatsächlich, das war auch nicht, was vorwiegend geschah. Stattdessen spielte und spielt sich folgendes ab:

    Arbeitsplätze, die, sagen wir mal 15, 20 Euro die Stunde erbrachten, werden gestrichen, abgebaut, die Inhaber entlassen. Anschließend wendet man sich dann an Zeitfirmen (größere Firmen gründen ihre Zeitfirmentöchter selber), die Leute beschaffen sollen, die mehr oder weniger kurz angelernt werden und die die Arbeit dann für offiziell 6 oder 7 Euro, inoffiziell oft weniger als 5 Euro erledigen sollen. Deutsche sind kaum bereit, zu diesen Bedingungen zu arbeiten; schaut man sich in diesen Bereichen heute um, so findet man, je nach Branche und Standort, hauptsächlich bis ausschließlich Migranten, die zu diesen Bedingungen zu arbeiten bereit sind.

    Menschen aus dem ländlichen Bulgarien, Rumänien, oder der ländlichen Türkei, die jedem die Füße küssen würden, der ihnen 5 Euro die Stunde anbietet, und die bei Vorweis einer Arbeitsmöglichkeit problemlos nach D übersiedeln könnten, sind dann eine weitere Verfügungsmasse jener, die ihre Personalkosten hierzulande „optimieren“ wollen. In bestimmten Branchen, z.B. der Baubranche, hätte das keine Auswirkungen auf Deutsche, weil es bei den Tätigkeiten auf mittlerer und unterer Qualifikationsebene jetzt schon aufgrund der Bedingungen überhaupt keine Deutschen mehr gibt (dort könnten höchstens Türken dann Polen und Rumänen vertreiben, indem sie mit noch weniger Lohn zufrieden sind). Auch in Gebäudereinigung sowie lanwirtschaftlichen Saisonarbeiten werden mittlerweile ausschließlich nur noch Migranten beschäftigt. In vielen anderen Branchen ist aber das Ende der „Personalkostenoptimierung“ durch Abbau von regulären Arbeitsplätzen und Ersatz durch Niedrigstlohn-Zeitarbeitsplätzen noch längst nicht erreicht. Für Unternehmen, die hier noch große Pläne haben, können die Rekrutierungsmöglichkeiten von Millionen von zugewanderten, armen, aber arbeitswilligen Türken wirklich eine paradiesische Vorstellung sein. Sie werden sich daher für einen EUR-Beitritt der Türkei aussprechen bzw. entsprechend ihren Möglichkeiten auf die politischen Entscheidungsträger einwirken.

    Die Einführung von Mindestlöhnen würde das Problem nicht beseitigen. Stattdessen würden immernoch alle Arbeitsplätze abgebaut, die ein erheblicheres Qualifikationsniveau nicht benötigen und die noch oberhalb des Mindestlohnniveaus bezahlt werden, und durch Mindestlohnzeitarbeitsjobs ersetzt werden, für die in der Türkei genügend Menschen gefunden werden können, die sich um diese Jobs reißen.

    Warum erlauben wir eigentlich nicht gleich Millionen ländlicher Chinesen eine hiesige Ansiedelung? Die sind noch fleißiger und genügsamer und arbeiten auch gern für 2 Euro die Stunde.

  6. @wedell

    Na, Herr Wedell, die Antwort ist längst gegeben:

    Weltweit gleiche Arbeitsbedingungen, gleiche hochwertige Lebensbedingungen, gleiche Löhne, gleiche Lebenshaltungskosten.

  7. @BvG,

    für weltweit gleiche Sozialstandards bin ich auch, aber weltweit gleiche Löhne halte ich für unsinnig. Wieso sollte man in einem fernen Land, in dem die Lebenshaltungskosten und Löhne ein Zehntel der unserigen betragen, plötzlich die Löhne verzehnfachen? Nur weil sie bei uns zehnmal so hoch sind? So etwas können sie nur über wirtschaftsdirigistische Staatsführung erreichen, denn der (Arbeits)Markt müsste ausgeschaltet werden, der ja z.B. auch bewirkt, daß bei Arbeitskräftemangel die Löhne steigen, bei Arbeitskräfteüberangebot die Löhne fallen, was ihrer Meinung nach nicht sein darf, weil sie ja überall gleich hoch sein müssen.

    Nein, ich meine, nicht der Markt, der die Lohnhöhen steuert, sollte mit gigantischem Dirigismusaufwand außer Kraft gesetzt werden, sondern es sollte endlich aufgehört werden mit diesen gigantischen Umsiedelungsaktionen, die die Arbeitsmärkte durcheinanderbringen, d.h. die Migration muss gesteuert und beschränkt werden. Sie drückt die Löhne hierzulande durch Arbeitskräfteüberangebot. Auch im umgekehrten Fall des Arbeitskräftemangels sollte Migration m.E. nicht erlaubt werden, denn wir haben ja gesehen, wie sich die „Gastarbeiter“-Thematik entwickelt hat. Warum sollen nicht einmal auch Löhne aufgrund von Arbeitskräftemangel steigen dürfen bzw. der Wachstumswahn zur allerletzten Ausreizung des Möglichen mal kurzfristig einen Dämpfer erdulden müssen? Was ist der Beitrag derjenigen, die damals durch den Einsatz von Gastarbeitern gutes Geld verdienten, zur Lösung der gigantischen Integrationsprobleme der Migranten zweiter oder höherer Generation? Ich will es Ihnen sagen: Null. Die Probleme darf die Gesellschaft lösen, d.h. Sie und ich.

    Das Absurde: Weitgehend schrankenlose Migrationsmöglichkeiten werden ausgerechnet vom linken Gutmenschentum immer wieder gefordert. Hinter ihnen jedoch stehen deren ausgemachte Feinde, die Unternehmer, und reiben sich die Hände. Wenn das Resultat nicht tragisch wäre, wäre das Ganze wirklich komisch.

    Die ultimative Möglichkeit zur Migration, jedenfalls innerhalb des EU-Konglomerats, stellt der sog. EU-Beitritt dar. Die Migrationsmöglichkeiten (die sog. „Freizügigkeit der Arbeitnehmer“) können zwar bis zu 7 Jahre länderbezogen beschränkt werden, aber letztendlich ist sie eine der Grundfreiheiten im EU-Recht und kann daher über die max. 7 Jahre hinaus nicht eingeschränkt werden. Aus diesen Gründen bin ich gegen EGAL WELCHE weiteren EU-Beitritte… Gegen „privilegierte Partnerschaften“ (oder wie auch immer man die nennen will) habe ich aber nichts, die die „Freizügigkeit der Arbeitnehmer“ NICHT enthalten, d.h. Aufforderung zur Migration in die reicheren Länder an die Bevölkerung der ärmeren Länder.

    Weil ich ein Befürworter des Marktes bin, bin ich auch gegen eine Hereinnahme der Türkei (bzw. egal welcher weiteren Länder) in die Landwirtschaft Europas. Warum einen weiteren funktionierenden Markt zerstören und durch ein wirtschaftsdirigistisches System ersetzen, das die Herstellung von Lebensmitteln mit Milliarden Steuermitteln finanziert, um sie anschließend zu vernichten oder in der dritten Welt zu verschenken (Was dort dann weitere funktionierende Märkte zerstört)?

  8. Und noch etwas zur Forderung: „gleiche hochwertige Lebensbedingungen“.

    Ob unsere Lebensbedingungen „hochwertig“ sind, darüber kann man sich doch wirklich streiten. Sicher, ein Wohlstand ist schön, aber die Grenze zur Überflußgesellschaft, d.h. zu überflüssigem Wohlstand, haben wir doch vielerorts schon überschritten. Das wollen sie also anderen Weltgegenden auch verordnen? Auch andere sollen von 7 bis 20 Uhr im Büro sitzen oder für die Arbeit wochenlang umherjetten, damit die Familie drei Autos kaufen kann, die Kinder sagen allerdings dann „der fremde Onkel“ zum Vater?Wohlstand hat auch etwas mit Erarbeitung zu tun, unserer also mit der Verinnerlichung eines protestantisch-calvinistischen Arbeitsethos (das aber mittlerweile stark bröckelt). Dieses Arbeitsethos wollen sie anderen aufoktroyieren, damit diese Anderen dann den gleichen „Wohlstand“ erreichen? Also ich halte das für Unsinn. Warum sollen nicht andere auch andere Prioritäten setzen dürfen: Weniger Wohlstand, dafür mehr Gemeinschaft zum Beispiel?

    Armut, die Leben und Gesundheit bedrohen, sollte es weltweit nicht geben, da stimme ich mit Ihnen überein, aber welche Lebensbedingungen darüber hinaus herrschen, das zu bestimmen sollte man schon den Menschen selber überlassen, und nicht eine weltweite Uniformität in dieser Sache proklamieren und dirigistisch durchsetzen, koste es was es wolle und auch gegen den Willen der Bevölkerungen.

  9. Zustimmung, Max Wedell, auf ganzer Linie. Letztendlich ergänzen Sie meine Befürchtungen: Begleitet von linken Gutmenschen, die Gutes wollen, aber Böses erreichen, wird letztendlich nur das Werk des Kapitals, weltweite vagabundierende Überflüsse bei wachsender Verelendung der unteren Bevölkerungshälfte, vollzogen. Ein Thema, welches auch hierzu gehört, und auch als völlig politische unkorrekt gilt, ist dann die Tatsache, daß z.B. ein Land wie die Türkei durch ihre hohen Geburtenzahlen immer weiter für den Nachschub billiger und williger Arbeitskräfte sorgen würde, und damit dann auch, sofern kein Arbeitsangebot vorhanden, zum politischen Sprengsatz, siehe Großbritannien und Frankreich.

    Wie ein Land, welches sich im EK I mit dem Genozid an den Armeniern ähnlich verhalten hat wie wir unter Hitler, mit diesem Verdrängungswettbewerb a la Williamson und seinen weiterhin existierenden Problemen mit dem griechisch-zypriotischen Nachbarn, sich dann EU-tauglich zurechtbiegt, ist auch noch nicht absehbar.

    Aber, wie in meinem ersten Beitrag formuliert: wenn ich sicher wäre, die negativen Folgen solcher „Beitritte“ würden sich in Grenzen halten und vor allem auch von den Profiteuren getragen, hätte ich weniger Probleme mit meiner Zustimmung. Betrachten wir den derzeitigen Zustand der EU, mit all den Problemen gefakter Zahlen der Beitrittskandidaten und der mangelhaft oder gar nicht vollzogenen Erweiterung auch sozialer Standards, und nicht nur – siehe Lissabon-Vertrag – weiterer Zuckerl für das Kapital – und zögen die in Brüssel und in den Länderregierungen ihre Schlüsse daraus, wäre auch das EU-Volk leichter zu überzeugen.

    Es käme ja auch keiner auf die Idee, z.B. einen Natinalspieler aus dem Handball für eine Top-Fußball-Mannschaft anzuwerben.

  10. Noch ein Nachtrag: Es wird natürlich gerne argumentiert, daß gerade ein Land mit überalternder Gesellschaft wie die BRD mit ihren sich abzeichnenden Problemen bei der Pflege dringend auf den Zuzug junger gutausgebildeter Kräfte aus dem Ausland angewiesen sei. Nur sei die Frage dann erlaubt, wer a) die jungen Kräfte gut ausbildet, b) wo dies geschieht und c)wer das, einschließlich der notwendigen Infrastruktur an Wohnungen, Heimen, Ärzten, Schwestern, Medikamenten, Reha-Maßnahmen etc. dann bezahlt – die Rentner von morgen mit ihren Mini-Renten? Oder die Share-Holder, die ihren Lebensabend dann in privaten Heimen in der Schweiz verbringen, weil die monatlichen 7.000 – 8.000 Fränkli aus der Portokasse bzw. von den Zinsen bezahlt werden?

  11. @wedell

    Nun,es würde natürlich um prozentual vergleichbare Werte gehen, was Lebenshaltungskosten und Löhne betrifft, das würde jedoch auch bedeuten, dass niemand mehr Profit aus dem Lohn-und Wohlstandsgefälle verschiedener Regionen ziehen kann.

    Die gleich hochwertigen Lebensbedingungen sind natürlich sehr relativ, aber eine stabile Basis liesse sich da wohl in den Menschenrechten und Verfassungen finden. Da muss man auch niemandem etwas aufzwingen, wenn die materiellen und politischen Grundlagen gewährleistet sind, auch der Wunsch nach Umsiedlung würde dann wohl nicht so dringlich (und nicht so bedrohlich)sein.

  12. @Wolfgang Fladung,

    es ist keine bestimmte Anzahl an Arbeitsplätzen in Pflege- und Gesundheitssystem festgeschrieben, die Deutschland aus eigener Kraft besetzen kann, und darüber hinaus benötigte man unbedingt Arbeitsmigranten… sondern die Anzahl jener, die sich entscheiden, in diesem Sektor tätig zu sein (oder sich ausbilden zu lassen), hängt von den Bedingungen dort, also nicht zuletzt auch der Entlohnung ab. Verbessern sich die, dann wollen auch mehr Menschen dort arbeiten. Armutsmigration zur Besetzung von Arbeitsplätzen im Pflege- und Gesundheitssystem, die damit in den Niedriglohn gedrückt werden, ist aus zweierlei Gründen somit kontraproduktiv:

    Erstens verschlechtern sich die Bedingungen derart, daß immer weniger Ansässige in diesen Bereichen arbeiten wollen, d.h. das Problem, daß man durch Arbeitsmigration lösen wollte, verschlimmert sich

    Zweitens sind die Sozialversicherungsleistungen der Niedriglohnsektoren, sofern es sich überhaupt um sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten handelt, weit unterdurchschnittlich, und daher nicht kostendeckend. Ein Krankenhaus, das Krankenschwestern aus Südostasien oder Osteuropa recht billig anstellt, arbeitet also kräftig am Kostendruck mit, dem es morgen durch die Krankenversicherungsträger ausgesetzt ist. Denn auch diese Krankenschwestern brauchen Leistungen des Gesundheitssystems, für die sie aber nicht kostendeckend einzahlen konnten. Und das gilt für alle Sozialsysteme, Arbeitslosigkeit, Rente und Gesundheit, noch weiter gefasst auch für alle staatlichen, durch Steuern finanzierten Leistungen. Wir alle subventionieren die im Niedriglohnsektor Beschäftigten, weil sie nur unterdurchschnittliche, nicht kostendeckende Beiträge zu Sozialabgaben und Steuern zahlen können… aber vom Niedriglohnsektor profitieren tun nur wenige.

    Jedenfalls: Bezahlen wir die Menschen in der Pflege vernünftig, dann wird man feststellen, daß auch mehr Inländer in der Pflege arbeiten wollen und es womöglich gar keinen Mangel gibt, der aus Anatolien oder sonstigen Weltgegenden gedeckt werden muß.

  13. @Max Wedell: Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, oder Sie haben mich nicht richtig verstanden. Natürlich bin ich dafür, gutes Personal auch gut zu bezahlen, und fordere dies schon seit Jahren, weil für mich die wahren Leistungsträger in Krankenhäusern und Pflegeheimen und nicht in Banken arbeiten. Nur wären hierfür eben auch zusätzliche Milliarden aus der Pflegeversicherung notwendig, weil bei entsprechender Bezahlung natürlich auch der Anteil der Personalkosten steigen würde/müßte, quantitativ und qualitativ. Solange wir aber durch unser Steuer- und Abgabensystem Gutverdiener weiter belohnen und Geringverdiener bestrafen, Steuern nicht wie nötig immer und überall eintreiben (siehe die aus angeblich systemtechnischen Gründen nicht weitergegebenen Zins-Mitteilungen und unterbesetzte Finanzbehörden), werden wir das benötigte Geld nicht aufbringen.

    Solange also das System der Einnahmen nicht geändert wird, werden wir kein Geld für zusätzliche Ausgaben haben. Dies ist nicht nur bedauerlich, sondern äußerst unmenschlich. Eine Pflegeversicherungspflicht für alle Einkommen, ohne Begrenzung nach oben, und selbstverständlich mit hälftiger Beteiligung der Arbeitgeber, wäre gut, aber wohl, bei den jetzigen politischen Konstellationen, utopisch.

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