Alle Aufklärung scheint machtlos

Was wurde in diesem Blog nicht schon über die Beschneidung von Jungen im Säuglingsalter debattiert! Zwei Threads gab es dazu bereits – hier und hier -, und jetzt kommt der dritte, denn der Bundestag hat mit 434 Stimmen ein Gesetz erlassen, das es Eltern erlaubt, im Rahmen ihres Sorgerechts über die Beschneidung zu entscheiden, ohne dass es für den Eingriff medizinische Gründe geben muss. Denn es steht geschrieben, und zwar in der Genesis:  „Und acht Tage alt soll beschnitten werden bei euch jegliches Männliche in allen euren Generationen.“ Ferner: „Ein vorhäutiger Mann, der sich nicht beschneiden lässt am Glied seiner Vorhaut, diese Seele werde ausgerottet aus ihrem Volke, meinen Bund hat er gebrochen.“

Nun steht in den Büchern Mose so Einiges geschrieben, zum Beispiel auch dieses: „Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer Frau liegt, ein Gräuel ist es.“ Die Zeit ist über diese Zeilen hinweggegangen, auch wenn diese Worte sicher auch heute noch von vielen, vielen Menschen auch in Deutschland unterschrieben werden würden, wenn man sie ließe. Der Charakter einer Rechtsnorm ist dieser mosaischen Norm jedoch mit der Entschärfung des Paragraphen 175 im Lauf einiger Jahrzehnte genommen worden. Selbst die konservativsten deutschen Politiker wagen heute nicht mehr, offen gegen Schwule und Lesben zu hetzen. Die Beschneidung aber ist jetzt Gesetz.  Vor allem für Juden ist sie sinnstiftend. Blog-User Abraham hat dazu in den oben verlinkten Threads viel Bedenkenswertes geschrieben.

Die Regelung der Beschneidung von Jungen ist ein heißes Pflaster. Ich habe seit Beginn der Debatte, die durch ein Urteil des Kölner Landgerichts losgetreten wurde, unzählige Leserinnen- und Leserbriefe bekommen, die sich gegen die Beschneidung wandten, und auch einige wenige, die sie befürworteten. Nun ist die Sache entschieden. Ein Gesetzesentwurf, der von Oppositions-Abweichlern eingebracht wurde und eine selbstbestimmte Entscheidung des zu Beschneidenden im religionsmündigen Alter vorsah, also mit 14 Jahren, hatte keine Chance. Ich weiß nicht, ob ich hoffen soll, dass jemand vorm Verfassungsgericht gegen das neue Gesetz klagt. Lieber wäre mir, wenn jetzt Ruhe einkehrte und wenn die betroffenen Religionsgemeinschaften anfangen würden, über die archaischen Grundlagen ihrer Religion nachzudenken. Denn kein Gebot und kein Gesetz ist in Stein gemeißelt.

Mich ärgert indess, dass jeder, der gegen die Beschneidung argumentiert, sich ganz schnell dem Vorwurf des Antisemitismus‘ ausgesetzt sieht. Für mich persönlich, der ich Besitzer einer Vorhaut bin, die ich nicht missen möchte, ist die Sache klar: Beschneidung ist Genitalverstümmelung und Körperverletzung, und sie kann schlimme Folgen für die Persönlichkeit des jungen Menschen haben. Und selbst wenn die Beschneidung keine unmittelbar erkennbaren Folgen hat – außer des Stigmas selbst -, ist sie ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Säuglings, über die eigentlich nur er selbst zu entscheiden haben darf. Ich befinde mich damit auf der Linie der UNO. Wer mich Antisemit nennen möchte, darf anschließend gleich mit der UNO weitermachen.

Der Bundestag hat deswegen so entschieden, weil er möchte, dass jüdisches Leben in Deutschland weiter möglich sein soll. Und das ist zu begrüßen. Er hat also im Namen der Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten entschieden, obwohl er sich – hoffentlich! – im Klaren darüber war, dass er dabei gleichzeitig die eine oder andere Rechtsnorm gebeugt hat. Dazu hier der hervorragende Beitrag „Zugeständnis“ von Professor Markus Tiedemann von der Freien Universität Berlin, Fachgebiet Didaktik der Philosophie und Ethik. Dies ist der einzige besonnene Beitrag, den die FR zur Debatte über dieses Thema geleistet hat – und er kam leider sehr, sehr spät. Dem Tenor dieses Textes kann ich mich anschließen: Traditionen begründen keine Normen; es gilt das Primat der Unversehrtheit; jede Form des Rassismus ist inakzeptabel. Aber: Man bedenke das Kindeswohl – ein unbeschnittener Junge kann in einem Umfeld mit lauter Beschnittenen Nachteile erleiden! -, außerdem gelte es, Pietät als Wert zu verstehen.

Tiedemann kommt zu der bemerkenswerten Schlussfolgerung:

„Mit Blick auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland greifen alle Formulierungsversuche zu kurz. Die Dankbarkeit dafür, dass es überhaupt wieder Judentum in Deutschland gibt, mischt sich mit der unerträglichen Vorstellung, dass Juden sich erneut nicht willkommen und diskriminiert fühlen könnten.

All dies ändert nichts daran, dass eine Untersagung der Knabenbeschneidung theoretisch geboten ist. Das Primat der Individualrechte ist ein Grundprinzip des Rechtsstaates, das durch die letztgenannten Argumente nicht relativiert werden kann. Gleichwohl können Gründe für eine legale Knabenbeschneidung genannt werden. Hiermit wäre die Bedingung der Möglichkeit für echte Toleranz erfüllt.

Der Bundestag stand vor einer Grundsatzentscheidung. Er hat sich für ein Primat der Toleranz gegenüber der Prinzipientreue entschieden und es bleibt zu hoffen, dass sich die Volksvertreter der Tragweite ihrer Entscheidungen bewusst waren.

Es liegt nun an den religiösen Minderheiten, die Situation in einen Gewinn für alle Beteiligten zu verwandeln. Die Toleranz war vergebens, wenn die Glaubensgemeinschaften das Gesetz als ihr selbstverständliches Anrecht verstehen. Viel ist gewonnen, wenn die Religionsgemeinschaften erkennen und anerkennen, dass der säkulare Rechtsstaat bis an die Grenzen seines Selbstverständnisses gehen musste, um dieses Entgegenkommen zu ermöglichen. Geschieht dies nicht, so ist der Rechtsstaat nicht nur über den Schatten seiner Prinzipien gesprungen, sondern auch über die Dialektik seiner Toleranz gestolpert.“

Helge Nyncke aus Mühlheim a.M. kommentiert den Beschluss des Bundestags:

„Ich bin fassungslos! Der Deutsche Bundestag beschließt tatsächlich mehrheitlich, die genitale Verstümmelung von Babys und Kleinkindern zu erlauben, wenn dies ein jahrhundertealter religiöser Ritus so fordert und die Eltern sich dem fügen. Ignoriert werden alle mühsam erkämpften und auch von Deutschland ratifizierten zeitgemäßen ethischen Erklärungen zu den allgemeinen Menschenrechten und speziell den Kinderrechten gemäß der UN-Charta, ignoriert wird das individuelle Recht jedes Kindes auf körperliche Unversehrtheit, ignoriert wird das individuelle Recht jedes Kindes auf Religionsfreiheit, ignoriert werden die zahlreichen Warnungen kompetenter Verbände und Organisationen wie dem Verband der Kinder- und Jugendärzte, ignoriert wird das amtliche Gerichtsurteil des Landgerichts Köln, das die Diskussion in Gang gesetzt hat, ignoriert werden alle fachlichen, juristischen Kommentare zur bestehenden eindeutigen Rechtslage, und ignoriert werden die zahllosen Berichte über medizinische Komplikationen und lebenslange physische und psychische Nachwirkungen.
Alle Aufklärung scheint macht- und sinnlos gegenüber dem erbarmungslosen, Menschenrechte verachtenden religiösen Dogmatismus, der sich, als Toleranz-Engel verkleidet, nun ganz offen als Gesetzeslobbyist betätigt. Religioten aller Parteien vereinigt euch! Feiert euren erbärmlichen Sieg über die Vernunft, das Mitgefühl und das Vertrauen in den säkularen Rechtsstaat! Feiert euren Kniefall vor der religiösen sexualisierten Gewalt gegenüber Minderjährigen! Feiert eure Verachtung gegenüber euren eigenen Kindern! Es lebe unser schöner neuer kreuzbraver, treudoofer Kirchenstaat! Halleluja!“

Brigitte Kleinod aus Waldems:

„Diesen Artikel von Professor Tiedemann hätte ich mir schon zu Anfang der Debatte in der FR gewünscht. Er zeigt klar, sachlich und verständlich die Argumente gegen die Beschneidung auf. Sein Fazit zur Erlaubnis der Beschneidung ist bemerkenswert und so noch von niemandem formuliert worden.
Ich bezweifle jedoch, dass sich die Politiker der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst sind. Mit der Erlaubnis werden weiteren Forderungen von Religionsgruppen Tür und Tor geöffnet, denn die betroffenen Glaubensgemeinschaften werden das Gesetz als selbstverständliches Anrecht betrachten und weitergehende Forderungen werden folgen. Über die Dialektik seiner Toleranz stolpert unser (vermeintlich säkulare) Rechtsstaat schon lange auch im Umgang mit den christlichen Kirchen.“

Dr. Angelika Schneider aus Lilienthal:

„Schockierend ist, dass diese Debatte ausgerechnet in Deutschland stattfindet. Führt sie ja direkt dazu, dass (wieder) mit dem Finger auf Juden gezeigt wird. Hier liegt meines Erachtens ein tief verwurzelter, womöglich unbewusster Rest-Antisemitismus zugrunde. Dabei ist es typisch für Deutschland, dass kaum nach rechts oder links geschaut wird. Eigentlich wäre es das Allernormalste, mal über den Tellerrand zu schauen, bevor Grundsatzdebatten geführt werden. Es ist genau wie in der Frage der Kinderbetreuung und Schulbildung, in der die Welt eine riesige Palette von Erfahrungen bietet, von denen man mehr lernen könnte als nur durch einen Blick auf Pisa-Resultate. Aber auch in einer Frage, in der sich unser Land mehr als jedes andere zurückhalten müsste, geschieht das kaum.
Ich habe kein einziges Land finden können, in dem die Säuglingsbeschneidung verboten ist. Der zutage tretende Hang zu einer sehr deutschen Selbstgerechtigkeit hat zwar auch sein Gutes – hat er schließlich dazu geführt, dass unsere unrühmliche Vergangenheit wie in kaum einem anderen Land aufgearbeitet wurde. Aber gerade vor diesem Hintergrund ist ein deutsches Vorpreschen an dieser Stelle zutiefst suspekt.“

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71 Kommentare zu “Alle Aufklärung scheint machtlos

  1. Sehr geehrte Frau Schneider,
    ja wenn einem das Leiden von Jungen und Männern vernachlässigenswert erscheint und man sich lieber nicht mit anatomischen Details von Vorhautamputationen beschäftigt (wie es das Gesetz ja auch tunlichst vermeidet) – ja dann kann mensch so eine bequeme Haltung einnehmen, wie Sie es tun.
    Informieren Sie sich unter http://www.beschneidung-von-jungen.de http://www.mogis-verein.de http://www.beschneidungsforum.de
    Ein Betroffener von vielen

  2. Der Vorwurf des Antisemitismus an Beschneidungsgegner ist ahistorisch und verhöhnt die Opfer des Holocaust fast noch mehr als es die Holocaust – Leugner selber schaffen könnten, wie kann man sich nur so weit herablassen?

    Der Bundestag ist natürlich in Bezug auf jüdische Mitbürger in der Zwickmühle , weder ist hier lautstarkes Gebrüll angezeigt , noch ist es möglich , die Beschneidung aufgrund der Geschichte einfach durchzuwinken.

    Ich hätte mir gewünscht , daß man sich so richtig Zeit nimmt , sich nach dem Kölner Urteil mit Vertretern der betroffenen Religionsgemeinschaften zusammensetzt und Wege auslotet , wie zu einer für alle zufriedenstellenden Lösung gelangt werden kann , wenn es sein muß , über mehrere Jahre hinweg.

    So wird der Rechtsstaat entscheiden ,und das ist nicht das Schlechteste , dieser kann nur nach dem säkularen Prinzip entscheiden , und genau hier scheint mir ein wesentliches Mißverständnis zu existieren.
    Der säkulare Rechtsstaat ist der Versuch einer Methode , wie kollidierende Rechte miteinander abgewogen werden können , viele Religionsvertreter verstehen ihn jedoch als Angriff auf ihre Religion oder gar auf sie persönlich.

    Dabei sind es die Gemeinschaften selber , die sich abhängig machen von einem archaischen Brauch , warum kann eine solche Debatte nicht auch mal aus den Religionen selber kommen ?

  3. Genitalbeschneidungen sind ein archaisches Ritual barbarischen Aberglaubens

    Der Grund für Genitalbeschneidungen ist Reinheit, die Reinigung männlicher und weiblicher Körpers durch die Beschneidung, und diese als „Reinigung“ ritualisierte Verstümmelung der Genitalien ist ein viel archaischeres Ritual als die neuerdings gerne zitierte „Jahrtausende alte religöse Tradition der abrahamitischen Religionen“. Insbesondere der männlichen Zirkumzision wurde eine religiös verbrämte körperliche Hygienevorschrift zur Rechtfertigung erst später untergeschoben. Die Vorhaut ist nach dem Glauben oder Aberglauben, der dahinter steht, ein Teil des weiblichen Prinzips und Klitoris sowie Labien sind ein Teil des männlichen Prinzips. Damit aus den Kindern, die durch Körperteile des jeweils anderen Geschlechtsprinzips verunreinigt sind, „richtige“ Männer und Frauen werden, müssen sie spätestens bei der Initiation durch ein blutiges Ritual von den „falschen“ Körperteilen befreit und so gereinigt werden.

    Die willkürlichen Genitaloperationen an Kindern lassen sich auch nicht, wie in der letzten Zeit öfters argumentiert wurde, mit dem – sicherlich zweifelhaften – Stechen von Ohrlöchern bei Kindern vergleichen, weil das auf einer gänzlich anderen Ebene liegt als das Herumschneiden am Genital. Es geht bei „korrigierenden“ Genitaloperationen, und dazu gehören die Genitalbeschneidungen von Frauen und Männern, um das Zurechtstutzen des Körpers auf die gewünschte Norm, die Zuweisung und die Kontrolle von Geschlecht, Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung sowie der Sicherstellung der Gruppenzugehörigkeit per unauslöschlischer körperlicher Kennzeichnung – quasi eine lebenslange Brandmarkung und Inbesitznahme des Individuums durch die Gruppe.

    Gen. 17, 10-14 bezeugt dies deutlich, wenn es heißt „Wenn aber ein Männlicher nicht beschnitten wird an seiner Vorhaut, wird er ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat.“ Wer sich nicht dem Ritual der körperlichen Kennzeichnung der Genitalien unterworfen hat, gehört nicht zur sozialen Gruppe, genießt nicht deren Schutz und Kontakte, ist ehr- und rechtlos, darf vertrieben oder getötet werden. Genitalbeschneidungen sind daher nicht nur als Körperverletzung, sondern auch als Verstoß gegen die geschlechtliche und soziale Selbstbestimmung des Kindes zu sehen – im Namen archaischer und abergläubischer Vollstellungen darüber, wie Frauen und Männer zu sein und sich zu verhalten haben, um „richtig“ und „rein“ zu sein.

    Diese archaischen Rituale der körperlichen Markierung, die auf Aberglauben einerseits und einem gesellschaftlich-religiösen Kontroll- und Herrschaftssystem andererseits basieren, passen nicht in eine säkulare demokratische Gesellschaft, die sich der Wahrung der Menschenrechte verpflichtet hat. Die weibliche Genitalverstümmelung wurde bereits als barbarischer Akt geächtet, auch wenn plötzlich seitens gewisser kultureller und sozialer Interessengruppen, die von einigen Sozialromantikern unterstützt wurden, von „westlichem Kulturimperialismus“ und „Vernichtung kultureller Eigenheiten“ die Rede war. Das gleiche Spiel scheint sich jetzt zu wiederholen, noch verstärkt durch die seitens religiöser Lobbygruppen schnell hervorgezauberte Antijudaismus- und Rassismuskeule, wenn ein Gericht den Mut hat, die vorsätzliche Genitalverletzung von männlichen Kindern aus Gründen des Aberglaubens und der Gruppenkontrolle als Verletzung von Grundrechten zu verurteilen.

    Meine Argumentation gegen die – männliche – Beschneidung basiert auf den radikalfeministischen Thesen Mary Dalys zum patriarchalen Sado-Ritual-Syndrom. Das schmerzhafte und blutige Zurechtstutzen von Körpern, um sie „richtig“ und „rein“ zu machen, um das Individuum für die Gemeinschaft akzeptabel zu machen und ihr zu unterwerfen, ist ein patriarchales Sadoritual. Die Religionen, u.a. die drei abrahamitischen, sind nur Mittel zum Zweck.

    In Gesellschaften, wo das Individuum um des Überlebens willen auf die Akzeptanz der Gruppe angewiesen war, haben weder Frauen noch Männer auch nur ansatzweise gewagt, diese Rituale zu hinterfragen, weil das den Ausschluß und den Tod bedeutet hätte. Ändern sich jedoch die Rahmenbedingungen des Lebens, ist die Abhängigkeit von der Gruppe nicht mehr zwingend überlebenswichtig und steigt das generelle Bildungsniveau, fangen zuerst Frauen an, die Rituale zu kritisieren und versuchen, gegen sie vorzugehen, da sie meist stärker davon betroffen sind. Männer sind viel weniger davon betroffen und können die Unterwerfungsrituale deshalb besser ignorieren, zumal sie mit sozialen Privilegien und der Möglichkeit des Aufstiegs in der Hierarchie versehen sind, was sie ruhig hält – obwohl diese Privilegien üblicherweise auch nur Surrogate sind und der Durchschnittsmann am Ende der Kette genauso vom großen Schneeball überrollt wird und für die Zeche der wenigen Alphamännchen zahlt. Und dann sticht tatsächlich mal durch die Merkbefreiung der Männer per Surrogaten ein Stück des körperlichen Schmerzes der Zurechtstutzung auf und kitzelt böse an der Schwanzspitze, und es kommt auch bei ihnen das Gefühl auf „Mein Körper gehört mir, Hände weg!“, was Frauen schon seit Jahrzehnten für sich fordern und dafür verlacht und attackiert wurden.

    Interessanterweise passiert dies zu einer Zeit, in der das komplette soziale, ökonomische und ökologische System, mithin unsere gesamte Lebensgrundlage, in einer weltweiten existenziellen Krise steckt, bei deren Lauf auf den Abgrund wir nur einfach zuschauen können. Was der patriarchale Selbstzerstörungswahn bisher nicht mit einem weltweiten atomaren Desaster vollbracht hat, bringt er nun durch Raubkapitalismus und nackte Habgier zustande. Vielleicht hat dieser ultimative Akt des rauschhaften Nihilismus aber wohl auch bei Männern etwas mehr Sensibilität gegenüber ihrer eigenen Situation erweckt, weil auch sie instinktiv merken, daß sie genauso die Betrogenen sein werden. Weiter so, Junx, dann schafft ihr es vielleicht auch, euch von den geistigen Ketten zu emanzipieren. Nur müßt ihr es wirklich selbst tun, ich bin als Frau in erster Linie für mich da.

  4. Zunächst sei Bronski gedankt, die Debatte, die – obwohl er- und überhitzt – bereits verpufft zu sein schien, anlässlich des Bundestagsbeschlusses wieder aufzunehmen. In der Tat bin ich auch wie Bronski der Meinung, dass der Beitrag „Zugeständnis“ von Markus Tiedemann nicht nur „hervorragend“ ist, sondern auch „der einzige besonnene Beitrag, den die FR zur Debatte über dieses Thema geleistet hat“ – eine Art „Wiedergutmachung“ also durchaus angebracht ist.
    Unangebracht wäre es, nach dem Prinzip „Dampf abgelassen – alles beim Alten geblieben“ zu tun, als wäre nichts gewesen. Es ist eben nicht alles beim Alten geblieben. Es gab bisher keine ausdrückliche Billigung der Verletzung körperlicher Integrität eines wehrlosen Teils der Gemeinschaft durch ein demokratisch legitimiertes Parlament. Mit Sicherheit wäre ein solcher Beschluss auch nie gefallen ohne die allgegenwärtige Präsenz des Themas „Holocaust“. Ein Thema, das, der geöffneten Büchse der Pandora gleich, in unseren Sinnen eingenistet ist, auch über 60 Jahre danach, das, unabhängig von der Einstellung zur Sache, unser Denken verengt und präformiert.
    Es ist mehr als angemessen, darüber nachzudenken, was eine solche Parlamentsentscheidung bewirkt, was es bedeutet, dass es lediglich des unseligen Vorwurfs des „Antisemitismus“ bedarf – jederzeit abrufbar und unabhängig davon, ob berechtigt oder nicht – um eine rationale, an der Sache orientierte Diskussion zu verhindern. Und auch, dass es ausgerechnet die FR war, die hierzu besonders schlimme Beispiele geliefert hat.
    Der „Antisemitismus-Vorwurf und die an ihn gekoppelte ‚Israel-Solidarität‘“, schreibt Moshe Zuckermann in „‘Antisemit!‘ – ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument“(Wien 2010) haben „sich von Juden und Israel losgelöst, mithin zu freischwebenden Selbstläufern gewandelt“, „allzeit abrufbar für jede sich bietende Gelegenheit narzisstisch-politischer Selbstsetzung“.
    Die politische Landschaft nach dieser unseligen Beschneidungsdebatte ist eben nicht dieselbe geblieben. Und noch weniger kann erwartet werden, dass nach dem Bundestagsbeschluss „nun endlich wieder Ruhe einkehre“. Eher scheint mir das Gegenteil der Fall, orientiert sich dieser doch eben nicht an seinen eigenen rechtsstaatlichen Grundsätzen, sondern – wenn in dieser Situation auch verständlich – ausschließlich an pragmatischen Bedürfnissen. Und dabei ist, wie Markus Tiedemann sagt, „der „säkulare Rechtsstaat“ nicht nur „an die Grenzen seines Selbstverständnisses“ gegangen, sondern hat dieses höchstwahrscheinlich auch überstrapaziert. Als bloße Reaktion auf eine doppelt verengte Diskussion – zunächst auf „Religionsfreiheit“, und dann wieder nur auf Sichtweisen bestimmter Vertreter der jüdischen Community in Deutschland –, zugleich massiv geprägt von den jeweiligen Traumata, wirft dieser Beschluss mehr Probleme auf als er löst. Lösungen sind aber nur denkbar, wenn auch unterschwellige und unausgesprochene Hintergründe des Diskurses in den Blick kommen.
    In dieser Hinsicht ist auch eine Bewertung des vergangenen Diskurses vor dem Hintergrund von Konfliktlagen notwendig, die diesen überlagern. Und dies ist sicher in erster Linie der Palästina-Konflikt. Hierbei kann die genannte Analyse von Moshe Zuckermann, Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv, hilfreich sein. Daher im Folgenden ein kurzer Exkurs.
    Zuckermann analysiert Zusammenhänge von Shoah, Zionismus, Antisemitismus (sowie Antisemitismus-Vorwurf)und Nahostkonflikt in Israel, Deutschland und den USA am Beispiel ausgewählter Reden und Verlautbarungen. So stellt er zur Rede des Premierministers Netanjahu vor der UNO am 24. 9. 09 anlässlich der Iran-Debatte fest: „Das Problem besteht (…) nicht minder in der apologetischen Funktion und ideologischen Gewissensentlastung, die diese Melange aus narzisstischer Selbstviktimierung und brutaler Aggression in Israels poltischer Kultur erfüllen.“ (S. 32f.) Zu Außenminister Lieberman, der wie kein anderer die Instrumentalisierung der Shoah-Erinnerung betreibt, schreibt er: „Es ist schon bemerkenswert, wie Lieberman es sich leisten kann, im Diskursfeld harscher Interessen- und Machtpolitik auf archaisch anmutende, biblisch-religiösen und ritterlichen Vorstellungswelten entnommene Begriffe wie Ehre, Selbsterniedrigung und Vergeltung zu insistieren.“ (S.45) Und er führt dessen Haltung auf „lang anhaltende sowjetkommunistische Wirklichkeitserfahrung“ zurück, die „alles an Ressentiments verdeckt haben muss, dass dabei so viel manifester Rassismus und Fremdenhass, gepaart mit autoritärer Machtverherrlichung, wie sie Lieberman repräsentiert, herauskommen konnte.“ (S.40)
    Betr. der Haltung des Zentralrats der Juden in Deutschland analysiert Zuckermann vor allem die von der Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch im Mai 2010 aufgebrachte Behauptung von „linkem Antisemitismus“, welchen Generalsekretär Kramer prompt verallgemeinerte und „in Teilen der Medienlandschaft“ ausmachte. Hintergrund ist auch hier – wie Kramer in seinen Ausfällen gegen Judith Butler anlässlich ihrer Ehrung mit dem Adorno-Preis anschaulich unter Beweis stellte – die Gleichsetzung von Kritik an israelischer Besatzungspolitik mit „Antisemitismus“. Als Hintergrund analysiert Zuckermann deren prekäre Situation als – in Israel weitgehend verachtete – Juden in Deutschland, die dazu führt, dass „sie Israel nur als ein Abstraktum wahrnehmen, als Projektionsfläche ihrer diasporischen Idiosynkrasien, als das große fremde Projekt des Zionismus, dem sie letztlich nicht angehören – sie als in Deutschland lebende Juden am allerwenigsten. (…) Und sie holen sich dort, wo sie sich lebensgeschichtlich eingerichtet haben, das, was ihnen ihr jüdisches Sein ansonsten versagt hat: die reale Anbindung an das von ihnen selbst gesetzte Kriterium der Loyalität zum Judentum, welche sich für sie in der Israelsolidarität-aus-der-Ferne festmacht.“ (S.173)
    Ausgehend von dem provokanten Diktum „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen“, analysiert Zuckermann die kritiklose Identifikation sich „judenfreundlich“ und „antideutsch“ gebärdender nichtjüdischer „Antisemitismusjäger“ in ähnlicher Weise – wenn auch unter anderem Vorzeichen – als Ausdruck von Komplexbeladenheit: „Einzig der Jude kann sie von ihrer Schuld, vom Unbehagen ihres psychischen Seins erlösen. Das macht sie wütend; die Wut können sie sich aber nicht erlauben; daher tabuisieren sie den Juden und kompensieren die Aggression ihm gegenüber, indem sie ihn (und alles, was zu ihm gehört) unantastbar werden lassen.“ (S.163) Und Zuckermann analysiert auch die Knesset-Rede Angela Merkels von März 2008 mit dem berühmt-berüchtigten Ausspruch von der „Sicherheit Israels“ als „Teil der Staatsraison meines Landes“ (S.126), eines Ausspruchs, der, wie gerade der jüngste Bundestagsbeschluss zeigt, sich keineswegs nur auf das Existenzrecht Israels bezieht (was kein vernünftiger Mensch bestreitet), sondern zu Extrapolationen jeglicher Art taugt bis hin zur Einschränkung eigener rechtsstaatlicher Prinzipien aus falsch verstandener, kritikloser Solidarität.
    Zuckermanns Analyse wirft ein Schlaglicht auf die vergangene Beschneidungsdebatte und die religiöse Verbrämung politischer Hintergründe und Zusammenhänge: Sie erklärt die Hitzigkeit dieser Debatte, weil die unausgesprochenen, in der Art der Auseinandersetzung aber jederzeit präsenten Hintergründe das eigene (nicht nur religiöse) Selbstverständnis berühren und verunsichern, zugleich aber eine rationale Auseinandersetzung verunmöglichen. Sie macht verständlich, warum von Seiten der Beschneidungsverteidiger eine rationale Debatte, insbesondere über menschenrechtliche, medizinische und psychologische Aspekte von vornherein verhindert werden musste, weil dies die Aufdeckung der poltischen Funktion einer dem geschichtlichen Kontext entrissenen Überhöhung von religiösen Traditionen zur Folge hätte. Sie macht betroffen über die Parallelen zur Diktion und moralisch-überhöhenden Selbstsetzung eines Benjamin Netanjahu und Avigdor Lieberman mit archaisch-biblischen Begriffen zur Beschwörung eines Bedrohungsszenarios und zur Rechtfertigung einer völkerrechtswidrigen Besatzungspolitik. Und sie macht die Identifikation von Beschneidungsgegnern mit den Wehrlosesten der Gesellschaft verständlich, deren verletzte körperliche Integrität stellvertretend steht für eigene Befürchtungen und Ängste. Ihre Verhöhnung als „Menschenrechtsfundamentalisten“ und „Antisemiten“ macht die gesellschaftliche Tragweite deutlich.
    Diese Tragweite spricht Markus Tiedemann in der dritten seiner Normen an: „Wesenskern des Rassismus ist die Reduktion des Individuums auf seine Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder kulturellen Gruppe. (…) Ein Staatswesen, das Kindern einer bestimmten Bevölkerungsgruppe weniger Schutz angedeihen lässt als anderen, ist immanent rassistisch.“
    Was Tiedemann für den Staat ausführt, gilt aber auch für sich ausgrenzende Bevölkerungsgruppen.
    Sicher wäre es unangemessen, bestimmte jüdische Traditionen per se als „rassistisch“ oder „inhuman“ zu bezeichnen. Ein Verständnis von Kindern als eigenständige Subjekte, wie es erstmals von Rousseau im 18. Jahrhundert ausgesprochen wurde, kann schwerlich als Beurteilungsmaßstab für religiöse Vorstellungen in einer Gesellschaft vor drei Jahrtausenden gemacht werden. Beschneidungsgegner, die sich auf eine solche Schiene genereller Religionsfeindlichkeit locken lassen, argumentieren insofern ebenso ahistorisch. Sehr wohl aber kann Nähe zu rassistischen Einstellungen festgestellt werden, wenn heutzutage eigene „Traditionen“ dem gesellschaftlichen Kontext entrissen, als wortwörtlich und sakrosankt verstanden werden und damit zugleich die eigene Gruppe von den übrigen „Ungläubigen“ in elitärer Weise abgegrenzt wird – gleich, ob dies den politischen Islamismus, „christliche“ Traditionalisten wie die Piusbrüder oder antidarwinistische Schöpfungsideologen oder jüdische Fundamentalisten betrifft. Und dies gilt noch mehr, wenn es dazu die Integrität von Mitgliedern der Gemeinschaft verletzender Rituale bedarf.
    Befürchtungen, dass der Bundestag mit diesem Beschluss einen Präzedenzfall geschaffen hat, dass nach der Aushebelung des „Primats der Individualrechte“ als ein „Grundprinzip des Rechtsstaats“ (wie Tiedemann schreibt) durch das Parlament insbesondere Islamisten auf den Plan treten werden, um Gleiches für ihre Form des Religionsverständnisses geltend zu machen, sind alles andere als von der Hand zu weisen. Und es besteht für alle, die den Verlauf der Beschneidungsdebatte beobachtet haben, auch wenig Veranlassung, daran zu glauben (wie Tiedemann hofft), dass „die Glaubensgemeinschaften“ von ihrer bisherigen Haltung abrücken, „das Gesetz als ihr selbstverständliches Anrecht (zu) verstehen“. Wenn das Argument, dass religiöse Einstellungen nicht von außen aufoktroyiert werden können und dürfen, ernst zu nehmen ist (eines der wenigen Argumente von Beschneidungsverteidigern, das mir einleuchtet), dann hätte der Gesetzgeber zumindest Auflagen und Zeitvorgaben formulieren müssen, innerhalb derer diese Glaubensgemeinschaften von sich aus für ein Traditionsverständnis zu sorgen haben, das mit den unteilbaren Menschenrechten und Grundlagen rechtsstaatlich verfasster Staaten zumindest nicht in Konflikt kommt.
    Auch wenn diese Diskussion angesichts virulenter Probleme wie dem Palästinaproblem und der aggressiven israelischen Siedlungspolitik zweitrangig erscheint: Sie ist, weil sie politisch offenbar daran gekoppelt ist, keineswegs beendet, sie fängt gerade erst an. Und wenn diese „Glaubensgemeinschaften“ (nicht nur die jüdische) den Auftragscharakter dieses Gesetzes missverstehen, wenn sie die Bringschuld ihrerseits verkennen oder sich als reformunfähig erweisen sollten, dann wird wohl das Verfassungsgericht eher früher als später gefordert sein, Klarheit zu schaffen, wenn nicht weit schärfere religiöse (und politische) Konflikte als bislang in Kauf genommen werden sollen.

  5. Der Vorgang mitsamt der Vorgeschichte kann einen nur traurig stimmen.
    Ich bin jedenfalls froh,(noch?) in einem Land leben zu können, das auch Freiheit von jeglichen religiösen Zwängen zulässt.
    Ich habe noch nie verstanden, dass sich immer noch so viele Menschen davon abhängig machen lassen, was angeblich ein „Gott“ von ihnen verlangt. In diesem Falle hier ein Gott, der seine eigene Schöpfung korrigieren lässt…
    Der 12.12.12 – Für unsere Werte, unser Grundgesetz, unsere Demokratie und schließlich auch unser Parlament war es kein ruhmreicher Tag.

  6. wenigstens schützt ein Gesetz Hunde vor dem Beschneiden ihrer Schwänze! Es gibt sicher in der Bibel noch andere alte Traditionen, z.B. ‚ wer seinen Sohn liebt, den züchtigt er ‚ , die nach Meinung einiger konservativer Köpfe durchaus Teil ihrer schützenswerten religiösen Kultur sind. Wehe uns, wenn solches Gewohnheitsrecht zu Recht und Gesetz wird.
    Hoffentlich bleiben die Aufgeklärten dann nicht faul hinterm Ofen sitzen, sondern erheben laut ihre Stimme gegen den Mief der Traditionen!

  7. @ EvaK

    Danke für den ganz ausgezeichneten Kommentar!

    „Weiter so, Junx, dann schafft ihr es vielleicht auch, euch von den geistigen Ketten zu emanzipieren. Nur müßt ihr es wirklich selbst tun, ich bin als Frau in erster Linie für mich da.“

    Der Kampf gegen die rituelle Knabenbeschneidung wird allerdings gerade auch von feministischer Seite unterminiert, wenn beispielsweise Alice Schwarzer mit Inbrunst verkündet, dass sie „die Verurteilung der männlichen Beschneidung für eine realitätsferne politische Correctness [hält].“
    Von daher sollten die „Junx“ schon auch ganz entschieden von weiblicher Seite unterstützt werden, finde ich.

  8. @ EvaK, #3
    Auch wenn mir manche Ihrer Äußerungen (so der erste Satz) reichlich apodiktisch erscheinen, sehe ich Ihre Hinweise auf den sexualfeindlichen Kontext und auf die mythische Bedeutung von „Reinheit“ und „Reinigung“ in abrahamitischen Religionen doch als wichtig und weiterführend an.
    Auch im „christlichen“ – sprich dogmatischen sowie volkstümlichen – Verständnis von „unbefleckter Empfängnis“ und „Jungfräulichkeit“ finden sich Parallelen. (Auf den Unfug der 72 Jungfrauen im Jenseits nach islamistischem Verständnis braucht hier nicht eingegangen zu werden.) Dabei wäre zu unterscheiden zwischen ursprünglicher Funktion im Rahmen des zur Entstehungszeit vorherrschenden Gottes- und Menschenbilds und nachträglichen Interpretationen mit meist instrumentalisierendem Charakter (besonders deutlich beim Islamismus).
    So entspringt der Gedanke der „Jungfrauengeburt“ nicht christlichem Denken, sondern stellt symbolisch die Abgrenzung von Göttlichkeit von menschlichen Zusammenhängen nach altägyptischer Vorstellungswelt dar. Dazu schreibt Hans Küng in „Credo“ (München 1992):
    „Ja, der Pharao Ägyptens wird als Gottkönig wunderbar gezeugt: aus dem Geistgott Amon-Re in der Gestalt des regierenden Königs und der jungfräulichen Königin. (…) Etwas exklusiv Christliches ist gerade die Jungfrauengeburt aus sich selber heraus nicht! (…) Ist also die Jungfrauengeburt bereits Ausdruck christlicher leib-, sexual- und ehefeindlicher Tendenzen? Jedenfalls findet sich im Neuen Testament noch nicht jene Hochstilisierung der Jungfräulichkeit Mariens zum großen Ideal, die für viele Zeitgenossen symptomatisch geworden ist für die ‚sexuelle Verklemmtheit‘ der Kirche. (…) Die Erzählung von der Jungfrauengeburt ist kein Bericht von einem biologischen Faktum, sondern ist Deutung von Wirklichkeit mit Hilfe eines Ursymbols.“ (S. 63-66)
    Zu eben einem biologischen Faktum hat insbesondere die katholische Dogmatik, Bedürfnisse naiven Volksglauben aufgreifend, den Gedanken der „Jungfrauengeburt“ aber gemacht und in patriarchaler Hinsicht funktionalisiert, mit verheerenden Auswirkungen auf das Frauenbild. Und hat, wie es sich für einen echten religiösen Fundamentalismus gehört, die eigene Interpretation zum authentischen „Wort Gottes“ erklärt, ihre eigene Interpretation somit sakrosankt gemacht.
    Es ist stark zu vermuten (unabhängige Religionsforscher wären hier gefragt, Klarheit zu schaffen), dass es sich im Falle des Beschneidungsrituals ähnlich verhält: Dass aus symbolischer Wirklichkeitsdeutung ein Dogma mit Absolutheitsanspruch gemacht wurde. Wobei – bei aller Kritik an der Dogmatik des Katholizismus – immerhin festzustellen ist, dass hier zwar sehr wohl psychische Erpressung und Präformierung stattfindet, nicht aber ein irreversibler körperlicher Eingriff in die Sexualsphäre. Auch der (etwa von Navid Kermani als Akt der Vergewaltigung verstandene) rituelle Taufakt ist symbolischer Natur und wird durch Bekenntnisformeln beim Ritual der Firmung wiederholt.
    Festzuhalten bleibt weiterhin, dass es neben der Funktion, einen Ausbruch aus der Gemeinschaft zu verhindern, eben auch um sexuelle Prägung (so etwa Verhinderung von Onanie) und um Errichtung von Denktabus geht.
    So etwa ist noch von niemandem „erklärt“ worden, warum die Aufnahme von Mädchen in die jüdische Gemeinschaft per Namensgebung, also symbolisch erfolgen kann, es bei Jungen aber eines solchen irreversiblen Eingriffs in die körperliche Integrität bedarf. Auf meine wiederholte Frage, warum ein ähnliches Ritual wie bei Mädchen nicht auch für Jungen möglich sein soll, habe ich nie eine Antwort bekommen. D.h. eine habe ich erhalten. Und die lautete sinngemäß, ich habe offenbar noch nicht verstanden, dass es Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt.

  9. @Anna: Danke!

    Mir ist Schwarzers Sichtweise durchaus bekannt, aber Schwarzer kennt auch meine Sichtweise. Die Reaktion seitens der Emma war verhalten. Die Meinung Schwarzers ist für mich allerdings keine Hintertreibung aus feministischer Sicht per se, sondern eine Meinung von vielen. Feminismus ist so wenig eine uniforme Bewegung wie Schwarzer lediglich aus einer sehr retardierten öffentlichen Sicht die Ikone und Führungsfigur des Feminismus in Deutschland ist.

    Ich bin mir nicht sicher, ob bei Emma überhaupt angekommen ist, daß sich der Text nicht nur gegen die männliche Beschneidung richtet, denn diese ist nur ein Symptom, sondern allgemein gegen die per religiösen und sozialen Riten erzwungene Zurechtstutzung, Unterwerfung und Kontrolle von Menschen. Vielmehr habe ich den Eindruck, dort will man das Thema mit der Zange nicht anfassen, weil man fürchtet, schnell in eine antisemitische und rassistische Ecke gedrängt zu werden und so in die Defensive zu geraten.

    Aber in puncto Unterstüzung von Männern habe ich eine klaren Standpunkt. Die „Junx“ sind schon groß, die müssen ihren Kopf selbst freischaufeln. Die Zeiten sind vorbei, daß Frauen sie immer wieder dahin führen wollen, denn haben sie zu schon zu lange gemacht, die Resultate sehen Sie allenthalben. Solange Männer noch immer Vorteile und Privilegien aus diesem Wahnsinn ziehen oder nur die Illusion dessen haben, können sich Frauen ein Leben lang daran abarbeiten, ihnen zu helfen, alle Mühe ist vergeblich. Deshalb werden sie von mir nicht mehr Unterstützung als diesen Kommentar bekommen, den Rest müssen sie als ihre ureigenste Angelegenheit selbst erledigen.

  10. Ausgerechnet Schwarzer erhebt den Vorwurf politischer Korrektheit.

    Schön , daß die Debatte auch eine unterhaltsame Seite hat.

  11. @ EvaK.

    „Solange Männer noch immer Vorteile und Privilegien aus diesem Wahnsinn ziehen oder nur die Illusion dessen haben, können sich Frauen ein Leben lang daran abarbeiten, ihnen zu helfen, alle Mühe ist vergeblich. Deshalb werden sie von mir nicht mehr Unterstützung als diesen Kommentar bekommen, den Rest müssen sie als ihre ureigenste Angelegenheit selbst erledigen.“

    Ein sehr vernünftiger und respektabler Standpunkt.:-)

  12. „den Rest müssen sie als ihre ureigenste Angelegenheit selbst erledigen.“

    Ein seltsames Beispiel der Entsolidarisierung, können doch nur Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen und Männer mit Männern gemeinsam die privateste Vollständigkeit fordern, nämlich einen richtigen Mann und eine richtige Frau, in der Richtigkeit, die die persönliche Vollständigkeit des Körpers erfordert, so wie sie die Natur gegeben hat und wie sie geliebt wird.

    Der einfache Satz:“Ich liebe Dich, wie Du bist“,genauer:“Ich liebe Dich, weil Du so bist.“ sollte doch genügen.

    Wenn man einen Menschen verändern(beschneiden) muß, um ihn zu lieben, entstellt man die Liebe zu einer Mode und verwirft auch die Liebe des Gottes zu seinem Geschöpf. Es ist tatsächlich eine Frage der Emanzipation. Wenn ich nicht zu „Seinem“ Bunde gehören darf, so ich nicht beschnitten bin, nun denn, so gehöre ich doch lieber zu unserem Bunde. Da mag sich die Liebe der Menschen als größer erweisen, als die Liebe des Gottes.

    „Liebe überwindet selbst der Götter Wille.“ Das ist gut, wahr und schön. Das soll so bleiben.

  13. Glauben man wahrhaft dass das Abschneiden der Vorhaut, des sexuell empfindlichsten männlichen Teil, welches außer dem Klitoris den weiblichen Schamlippen entspricht und noch dazu 8 Tage nach der Geburt, zu rechtfertigen ist, nur weil sich die Abrahamistischen Relgionen es als Ritual als identitätstiftend halten? Dem Gesetzentwurf nach könnte ich ja jetzt meinen Sohn kastrieren lassen solang das man „ärztlicher Kunst“ geschieht, ditto weibliche Beschneidung. Einen fauleren Kompromiss als diesen Entwurf habe ich wohl seit langem nicht zu sehen bekommen. Sowie ich es sehe, haben sich inzwischen alle Christlichen Obrikeiten mit den Haredim Orthodoxen unterstützt, und auch Sie scheinen nicht nur keine blasse Ahnung von Physiognomie noch von unterschiedlichen Jüdischen Stellungen. Warum wird jemand wie Professor Michael Wolffsohn nicht ueber andere Juedischen Ansichten befragt?
    http://analytic-comments.blogspot.com/2012/10/michael-wolffsohns-foreskin-of-heart.html

    http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article108847257/Die-Vorhaut-des-Herzens.html

    http://www.tagesspiegel.de/meinung/andere-meinung/gastkommentar-zur-beschneidungsdebatte-danke-deutschland/7160872.html

    Die Skepsis der Pädiater

    Unausgegoren, katastrophal – die Kritik der Pädiater am Gesetzentwurf zur Beschneidung ist eindeutig. Sie sehen die UN-Kinderrechtskonvention verletzt – und das Gesetz quasi schon zur Verhandlung in Karlsruhe. Aber die Kinderärzte haben einen Kompromissvorschlag.

    Von Raimund Schmid

    http://www.aerztezeitung.de/politik_gesellschaft/gp_specials/beschneidung/article/824592/beschneidung-skepsis-paediater.html

    Die Tabuisierung jeglichen Vergleichs von männlicher mit weiblicher Genitalverstümmelung ist der große Skandal der Debatte. In beiden Fällen wird der empfindsamste und erogenste Teil des menschlichen Körpers amputiert oder schwer beschädigt. In beiden Fällen geht es in erster Linie um die Beschneidung menschlicher Sexualität.

    http://evidentist.wordpress.com/2012/09/11/beschneidung-ignoranz-und-sexismus/

    Und hier das Archiv fuer die ganze Debatte, auch jetzt in der USA
    http://analytic-comments.blogspot.com/2012/08/the-circumcision-debate-links-and.html

    Sollte es zu einer Volksabstimmung kommen, wuerde sich das Volk 75 %zentig gegen das neue Gesetz stimmen.

  14. Wieso überkommt mich bei der Entscheidung des Bundestages das Gefühl, dieses Gesetz wäre niemals so ausgefallen, wenn männliche Beschneidung aussließlich ein Ritual des Islam wäre? Es bleibt die vage Hoffnung, dass eines Tages das BVG entscheiden muss, ob das Recht auf körperliche Unversehrtheit über dem der religiösen Freiheit steht.

  15. In aufgeklärten Konsumgesellschaften westlichen Typs sind die Religionen zumindest insofern ins Hintertreffen geraten, daß ein deutlicher Anhängerschwund zu verzeichnen ist… unabhängig davon, ob der jetzt eher durch Aufklärung oder durch Ablenkung durch die Freuden (und Mühen) des Konsums zustandekommt. Wie dem auch sei, es besteht ja der Eindruck, daß eine der wichtigsten Vorstellungen in den Religionen seit archaischen Zeiten die Notwendigkeit der MEHRUNG der Anhänger ist. Gibt es stattdessen eine Minderung, hat die Religion doch irgendwie versagt, jedenfalls in diesem ihrem Wunsch.

    Die Fragen, die sich Religionen stellen müssen, wären also: a) wie behalte ich meine Anhänger, und b) wie gewinne ich neue hinzu.

    Was letzteres angeht, so kann Religion auch als Marke verstanden werden, die außerhalb stehenden Sinnsuchenden attraktiv erscheinen muß. Ich glaube, man kann schon vermuten, daß religiöse Gebote, am Penis eines Kleinkindes herumzuschnipseln zu müssen, die Markenattraktivität der betreffenden Religion eher mindert. Und ich glaube auch, daß dies nicht nur die außerhalb stehenden, Sinnsuchenden betrifft, die in bestimmten Religionen erst nur Optionen für den künftigen Lebensweg sehen, sondern auch für viele Mitglieder der Religionsgemeinschaft selber gilt… denn das sind ja ganz größtenteils auch Menschen, die mit beiden Beinen in der Gesellschaft stehen und deren Werte und Ideen auch mehr als ein Stückweit teilen… da kann man mir noch so sehr versichern, wie identitätsstiftend angeblich solch ein Ritual sein soll, daß es nicht auch viele religiöse Juden gibt, die sich insgeheim fragen: „Muß das denn wirklich sein?“, mag ich irgendwie nicht glauben.

    Religionen können heute zwei Wege einschlagen. Sie können sich wieder mehr auf die genauen Buchstaben ursprünglicher Texte konzentrieren, die Wichtigkeit archaischer Riten und Gebote wieder mehr betonen, mit anderen Worten, sich „fundamentalistischer“ gebärden… mit dem Ergebnis, daß sich dann irgendwann eine fundamentalreligiöse Enklave innerhalb der Gesellschaft bildet, die vom Rest der Gesellschaft mehr oder weniger als ein Haufen Irrer angesehen wird (ein Beispiel, das schon auf einem solchen Wege zu sein scheint, wäre Israel)… der andere Weg wäre, sich von den am schwersten verständlichen und am wenigsten in die moderne Zeit passenden Ritualen behutsam zu trennen, auch gern neue Rituale zu entwickeln, die den religiösen Hauptfunktionen (allgemein gesellschaftssteuernden sowie individuell psychotherapeutischen) in einem modernen Kontext besser dienen… die dann auch letztendlich attraktiver für die Menschen sind, und die religiösen Marken aufwerten, statt sie abzuwerten. Diese wechselseitige Permeabilität von religiöser und nichtreligiöser Gesellschaft wäre dann eine Chance für die Religion, ihre wesentlichen Kerngedanken weiter in die nichtreligiöse Gesellschaft zu verbreiten, auf Kosten von unwesentlichen Randgedanken wie „Du musst die kleinen Pimmelchen beschneiden“, die fallengelassen werden müssten.

    Es mag sein, daß in diesem Fall der Rechtsstaat der Verlierer ist… es scheint mir aber auch, daß die jüdische Religion hier der Verlierer ist, sie verliert durch solche Mätzchen wie eine unverhandelbare Forderung nach Beschneidung der Jungen an Markenattraktivität, wenn nicht bei den eigenen Anhängern, so jedenfalls beim Rest der Menschen. Wenn ihre Vertreter, ähnlich wie Benedikt in Sachen Katholizismus, sagen, das ist uns egal, kann man das nur zur Kenntnis nehmen und staunen.

  16. @Sixty-Four: Sie reden von Entsolidarisierung, wo es noch nie Solidarität gab, sondern nur Herrschaftsverhältnisse. Sie zupfen sich ein Bröckchen aus meiner Argumentation und versuchen einmal mehr, einen Kniefallreflex und Schuldgefühle daraus zu konstruieren. Gleichzeitig ist das der Versuch, mich damit als unsolidarische Feindin und Außenseiterin dastehen zu lassen. Eine sehr abgenutzte und durchschaubare Technik.

    Und noch was: Reden Sie nicht von Liebe, das gehört eher in Weichspülerreklame, Kaffeewerbung und Schlagerschnulzen. Das Wort ist einfach nur abgedroschen und eine Hirnwäschefalle für Frauen, sonst nichts.

  17. @Michael Rohloff: Streng genommen entspricht das Präputium beim Mann dem Präputium der weiblichen Klitoris. Die Entsprechung der Klitoris ist die Glans, den Labien entspricht das Scrotum.

  18. So nun ist das geklärt.
    Religionsfreiheit steht über körperlichen Eingriffen.
    Gut gemacht, Bundestag.

    Persönliche Religionsfreiheit bedeutet, sich jederzeit für eine Religion oder eine andere oder keine Religion entscheiden zu können. Immer und immer wieder, wechselnd und wie man will. Es gibt keine Pflicht, einer Religionsgemeinschaft anzugehören.

    Es ist deshalb verboten, Menschen irreversible Zeichen einer Religionszugehörigkeit „anzubringen“.

    Falls die Religionsgemeinschaften dieses Gesetz ernstnehmen, dürfen sie niemanden mehr beschneiden, denn sie nehmen diesem das Recht, auf dessen Grund sie selbst handeln.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Religionsfreiheit

  19. @EvaK

    Sie können mich aus Ihrem Feindbild entlassen.
    Die Solidarität hat es gegeben und gibt es auch heute noch, und das Beste, was Sie den Herrschaftsverhältnissen andienen können, ist eine Trennung der Interessen von Frauen und Männern. Wie zu lesen war, habe ich mich auf alle denkbaren Konstellationen der Liebe bezogen, von Kniefällen kann da keine Rede sein.

    Wie im Beitrag #12 zu lesen war, erwarte ich einen vollständigen, unverstümmelten Partner, so wie ihn die Natur geschaffen hat, ohne „korrigierendes“ Eingreifen Unbeteiligter. Zur Verdeutlichung: Ich rede vom absichtlichen Verstümmeln, nicht von zufälligen Abweichungen. Was Ihnen vielleicht auch entgangen ist: Ich verlange, daß ich selbst aussuchen darf, wen ich liebe, unabhängig von Konventionen oder Idealvorstellungen. Wen ich liebe und wie dieser ist, geht niemanden etwas an. Darin steckt nicht nur eine Toleranz gegenüber Schönheit oder Häßlichkeit, es steckt vor allem die Forderung darin, daß niemand darüber zu befinden hat, was ich als liebenswert empfinde oder was „gesellschaftlich“ als schön, rein etc empfunden wird.

  20. Hallo, ich hatte mich in diesem Blog schon einmal zu Wort gemeldet und will es jetzt noch einmal tun. Ich kann aus eigener Erfahrung die immer wieder vorgebrachte Behauptung, die Abtrennung der männlichen Vorhaut (bei mir vor 30 Jahren wegen einer Phimose) führe zu einer Beschädigung oder Reduzierung der Sexualität, in keiner Weise nachvollziehen. Nach meiner Erfahrung kann man(n)ohne Vorhaut alle Lust dieser Welt erleben. Nachfragen von mir bei Freunden, von denen ich weiß, das sie beschnitten sind (im Erwachsenenalter) und bei einer Freundin, die mit einem muslimischen Mann verheiratet war, haben mir das bestätigt. Auch die Behauptung, der Verlust der Vorhaut würde die Selbstbefriedigung erschweren, halte ich für Unsinn. Ich wundere mich auch, dass in dem ach so aufgeklärten Deutschland weder meine Eltern noch irgendwelche Ärzte noch meine Partnerinnen mich darauf angesprochen haben, dass ich mit einer mittelschweren Vorhautverengung kaum eine befriedigende Sexualität haben kann (zumindest vor 30 Jahren wurde dieses Thema totgeschwiegen). Was den Vorwurf des Antisemitismus betrifft: Wer die männliche Beschneidung ernsthaft mit Witwenverbrennung, Zwangsheirat etc. vergleicht und in der Diskussion Begriffe wie „Genital-verstümmelung“ benutzt, darf sich m. E. nicht darüber wundern, dass ihm/ihr unbewusste andere Motive unterstellt werden. Dann will ich noch den Leserbrief von Herrn Christopher N. in der FR vom 18.12. loben, der dankenswerterweise wieder den Begriff der Abwägung und der Verhältnis-mäßigkeit in die Diskussion gebracht hat.

  21. @Sixty-Four: Für Feindbilder sind mir meine Wände zu schade, da hängen andere Bilder. Ich bezog mich nur auf Ihre Worte und vor allem deren subtilen Hintergrund.

    @Werner Engelmann: Apodiktisch? Nein, ich habe mir nur die verbalen Weichspüler wieder abgewöhnt, die mir zu Schulzeiten andressiert wurden. Klare Worte, klare Aussagen, und das gerne auch provokativ, alles andere langweilt, ist Politikergefasel. Dabei setze ich voraus, daß Sie das als meine Meinung erkennen und nicht als Dogmata, denen nicht widersprochen werden darf.

    Küngs Thesen treffen die Sache, wobei Mary Daly, auf die ich mich beziehe, aus ihrer radikalfeministischen Sicht noch ein erhebliches Stück über Küng hinaus geht. Daly (1928-2010) war Philosophin und kath. Theologin, sie hatte von 1966-1999 eine Theologieprofessur am jesuitischen Boston College. Die weiblichen Kerngestalten des christlichen Glaubens, Eva und Maria, sind als deutlich erkennbare Dichotomie konstruiert. Eva ist die schmutzige, sexuelle Frau, Verführerin und Ursünderin, die nach Erkenntnis stebte und dafür aus dem Paradies der naiven Unschuld und Unwissenheit vertrieben wurde – samt ihrem Mann, der ihr folgte, sich verführen ließ und dafür nun der Frau auf ewig die Schuld am Verlust der Naivität zuweisen konnte. Maria hingegen bietet als Symbol der Reinheit und Keuschheit Frauen die Chance, unter Verlust all ihrer Fähigkeiten sich zum bloßen Austragegefäß des männlich-göttlichen Prinzips zu reduzieren, um so seine Gnade wieder zu erlangen. Das kann aber nur für Maria selbst funktionieren, der das Privileg der „unbefleckten Empfängnis“ und reinen Jungfrauengeburt zugestanden wurde. Die „normale“ Frau aber muß nach wie vor schmutzigen Sex haben, um Kinder bekommen zu können, kann also das Ideal der Reinheit nach Maria nie erreichen – und bleibt daher immer in Schuld verstrickt. Eine wunderbare Zwickmühle, neudeutsch auch Doublebind genannt, als Frauenfalle. Dabei sind sowohl Eva als auch Maria letztlich nur eingefangene, gezähmte und verniedlichte Projektionen archaischer Muttergottheiten, die nicht so einfach zum bloßen Gefäß zu reduzieren waren und eine unwüschte eigen-ständige, eigen-mächtige Weiblichkeit darstellen. – Tiamat, Ishtar, Astarte, Aphrodite, Lilith (die Schlange im Paradies), Kybele…

  22. Im Angesicht eines „Das haben wir immer schon so gemacht“ lohnt sich immer auch die Frage nach dem Warum, das ja offensichtlich in Vergessenheit geraten ist, wenn man keine andere Antwort mehr weiß als das „War immer schon so“, „Ist halt Tradition“ o.ä.

    Im Fall der männlichen Beschneidung kann man natürlich nur spekulieren, da diejenigen, die sich diese Rituale ausdachten, für eine Befragung nicht mehr zur Verfügung stehen.

    Die männliche Beschneidung hat natürlich auch eine Auswirkung auf die Masturbation, und zwar eher eine negative… Vergnügen an der Masturbation zu empfinden wird deutlich schwieriger. Stellt eine Religion Masturbation in einen eher negativen Kontext, werden Rituale gut erklärbar, in deren Folge Masturbation behindert ist. Es ist also nicht weit hergeholt, hier, in der Behinderung der Masturbation, den ursprünglichen Sinn der männlichen Beschneidung zu sehen. (Völlig offen zugegeben wird ja als Hauptweck der weiblichen Bechneidung von ihren Anhängern, die Lust am Sexuellen mindern zu wollen).

    Es ist also etwa so sinnvoll, die Frage der männlichen Beschneidung zu diskutieren ohne die Frage, ob Masturbation (unter bestimmten, gegebenen Rahmenbedingungen) gut ist oder nicht, wie es sinnvoll ist, die Frage zu diskutieren, ob man am offenen Herzen herumschnipseln soll, ohne die Zwecke zu berücksichtigen, die dabei verfolgt werden… sonst läge die klare Ablehnung ja auf der Hand.

    Am vordergründigsten ist noch der Nachteil der Masturbation, daß sie die Fortpflanzung behindert… was ja zentraler Bestandteil der Geschichte von Onan im ersten Buch des jüdischen Tanach ist. Eine Behinderung der Fortpflanzung wird um so deutlicher als schlecht gewertet, je prekärer die Bevölkerungslage ist… also wenn sich einzelne Stämme etwa gegen eine Überzahl anderer, feindlicher Stämme erwehren muß, oder in einer unerbittlichen Natur überleben muß, die hohe Säuglings- und andere Sterblichkeitsraten, durch Dürren, wilde Tiere, Krankheiten usw. verursacht, so zählt jeder Zuwachs der eigenen Population und wird doppelt wichtig. Für eine Religion ist überdies wichtig, daß jedes Kind eines ihrer Anhänger in der Regel ein neuer Anhänger ist. Da alte Anhänger auf natürlichem Weg wegsterben, ist man auf diese neuen Anhänger angewiesen… je mehr, desto besser.

    Die Negativwirkungen natürlicher Widrigkeiten wurden durch Wissenschaft und Technik so weitgehend gezähmt, daß in dieser Hinsicht also eine kritische Haltung gegenüber Masturbation wohl nicht mehr notwendig ist. So kann z.B. eine Ernährung von Milliarden mit einem menschlichen Arbeitseinsatz sichergestellt werden, der um viele Größenordnungen unter dem ehemals notwendigen liegt. Keine Kinder zu kriegen bedeutet also vorerst nicht, hungern zu müssen.

    Die Idee, daß kulturell zusammengehörige Bevölkerungen gegenüber anderen kulturell zusammengehörigen Bevölkerungen ins Hintertreffen geraten, wenn die Anzahl ihrer Mitglieder abnimmt, ist nicht nur nicht mehr verbreitet, sondern teilweise ausgesprochen verfemt, jedenfalls hierzulande.

    Heute wird das Ausbleiben von Fortpflanzung eher unter dem Aspekt der Steuern und Abgaben diskutiert… es wird der künftige Staatsbürger gesehen, dessen Einzahlungen in verschiedene staatliche Systeme (Steuer, Sozialsysteme usw.) für das Funktionieren dieser Systeme wichtig sind, bzw. die Probleme, die für diese Systeme entstehen, wenn er gar nicht erst geboren wird. Die allgemeine Lebensqualität ist durch Wissenschaft und Technik eben ein großes Stückweit von der Bevölkerungsanzahl entkoppelt worden, aber eben nicht vollständig… der Mensch konnte bei weitem noch nicht vollständig ersetzt werden.

    Die Maßnahmen allerdings, die heute von den Autoritäten ergriffen werden, um die Fortpflanzung zu steuern, sind nicht solche, die das Fehlverhalten (also z.B. Masturbation statt Hinwendung zum Sexualpartner) bestrafen, sondern solche, die das für gut befundene Verhalten belohnen (z.B. Kindergeld, Steuererleichterungen usw. bei erfolgter Fortpflanzung).

    Letztendlich ist aber Masturbation nicht nur abträglich gegenüber der Fortpflanzung im engeren Sinne, sondern auch abträglich gegenüber der Paarbildung überhaupt, und damit abträglich gegenüber allen anderen positiven Wirkungen, die eine solche Paarbildung in der Gesellschaft bewirkt. Damit meine ich nicht das „gelegentliche Dampfablassen“… welche Auswirkungen es aber hat, wenn ganze Generationen ihre Libido und damit das Drängen zum Sexualpartner durch Dauerkonsum von youporn usw. mindern (oder durch künftige, noch „perfektere“ virtuelle Vorspiegelungen), das werden wir noch früh genug feststellen… sollte das überhaupt keine Auswirkungen oder nur ganz unwesentliche haben, wäre ich jedenfalls recht froh, mich in dieser Sache geirrt zu haben.

    Jenseits der Fortpflanzung mag es auch Gründe für eine kritische Haltung gegenüber der Masturbation geben. In den Religionen gibt es ja verbreitet eine Hierarchisierung derart, daß ein „Geistiges“ über das „Körperliche“ gestellt wird… Das hat sicher auch seine Berechtigung, allerdings nicht unbedingt in einer verabsolutierten Form. Die enormen Zivilisationsleistungen des Menschen wären ja überhaupt nicht denkbar, wenn der Mensch zu jedem Zeitpunkt unbeirrt den Regungen nachginge, die ihm seine körperlichen Befindlichkeiten diktieren. Aber das ist ein weites Feld, das gründlich zu diskutieren hier der Platz nicht ausreicht.

    Wie dem auch sei, jede vom Menschen entwickelte „Technik“ hat auch ihre schädlichen Nebenwirkungen. So sind im Zusammenhang mit der „Kulturtechnik männliche Beschneidung“ eigentlich grundsätzlich nur diese schädlichen Nebenwirkungen besprochen worden. Vermutlich deshalb, weil ihr Hauptzweck, die Dämpfung bzw. Verhinderung der Masturbation, heutzutage allgemein als so jenseitig allen Vernünftigen oder Gebotenen und damit Diskutierbarem erscheint… und dabei vermutlich sogar bei den Anhängern dieser Technik aus den Augen verloren wurde, was zu vermuten ist, wenn denen nichts anderes mehr einfällt zur Rechtfertigung dieses Rituals als „Identitätstiftung“.

  23. @Peter Haidorfer, #20

    daß man Ihnen nach der Diagnose einer Phimose die gesamte Vorhaut entfernte, ist aber ein ganz unübliches Verfahren. Es gibt eine Reihe chirurgischer Eingriffe, die das Problem lösen können, und die Vorhaut dabei dranlassen. Na ja, Sie werden natürlich am besten wissen, was man bei Ihnen gemacht hat.

    Was die Erschwerung der Masturbation angeht… die Menschen sind nun mal unterschiedlich, das fängt beim Hormonhaushalt an, d.h. der Funktionsfreudigkeit bestimmter Drüsen, und endet bei organischen Gegebenheiten wie Anordnung und Dichte von Nervenbahnen, Hautdicken usw. Es gibt hier eine gewisse Varianz zwischen den Menschen. Daher kann auch die Entfernung der Vorhaut unterschiedliche Auswirkungen haben, z.B. im Hinblick auf eine Erschwernis der Masturbation. Die negativen Auswirkungen, die der eine verspürt, etwa durch übergroße Empfindlichkeit der Eichel gegen Berührungen, sind bei einem anderen aus organischen Gründen vielleicht weniger ausgeprägt. Die Erschwernis der Masturbation ist also eine statistische, d.h. nicht unbedingt in jedem individuellen Fall vorhandene, aber doch über alle Fälle zusammengenommen signifikante, jedenfalls laut der Studien, die es dazu gibt.

    Außerdem kommt hinzu, daß im Lauf von 30 Jahren (vermutlich sogar weit schneller) sich ein ehemals empfindliches Organ auch eine gewisse Unempfindlichkeit zulegt, etwa durch Herausbildung zusätzlicher Hautschichten, Rückbildung/Absterben von Nervenbahnen usw. Die unangenehme Überreizung nimmt mit der Zeit ab. Für eine Religion, der die Gesellschaftssteuerung unter archaischen Bedingungen bezweckte, ist das aber kein Problem… für sie ist ja wichtig, daß sich junge Männer von ca. unter 25 Jahren eher der Frau widmen als der Selbstbefriedigung… nach 30 Jahren, wenn die 10 Kinder schon geboren sind, ist auch Selbstbefriedigung kein Problem mehr, die ehemalige Beschneidung hat ihren Zweck dann ja schon erfüllt.

  24. „Ich bin fassungslos!“ Herr Nyncke berauscht sich so sehr am bombastischen Wortschwall seiner selbstgefälligen Betroffenheitsrhetorik im Zeichen vermeintlich aufgeklärter Vernunft, für die religiöse Menschen nur Idioten sind, dass er auf den eigens kreierten Neologismus vermutlich bannich stolz ist. Während er sich geradezu autosuggestiv in die Kaskade angeblicher Ignoranzen hineinsteigert, entgeht ihm völlig, was er selbst absolut ignoriert: das in der schwierigen Beschneidungsdebatte längst erreichte (auch in der FR dokumentierte) sehr differenzierte Argumentations-Niveau. Der einzig greifbare Inhalt seiner Tirade ist der unerbittliche Hass auf das Christentum. Was dem verblüfften Leser hier geboten wird, ist das traurige Schauspiel geistiger Onanie.
    Den punktgenau treffenden Kommentar gibt in derselben FR-Ausgabe Tubia Tenenbom: Mit Besserwissern kann man nicht diskutieren. („Rechthaberische Menschen machen mir Angst.“)
    Ich frage mich betreten, weshalb die FR den Lesern nach den seitenlangen einschlägigen Ergüssen zahlreicher Leserbriefe immer noch diese intellektuelle Anspruchslosigkeit zumutet. „Alle Aufklärung scheint machtlos!“

  25. Das Beschneidungsgesetz, das die Genitalverstümmelung von Knaben regelt, ist von Bundestag und Bundesrat verabschiedet worden. Es ist das Ergebnis einer falsch verstandenen Rücksichtnahme und wird die einschlägigen Stammtische beflügeln, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeiten offener als bisher zu artikulieren. Und damit exakt das herbeiführen, was der Zentralrat der Juden und islamische Verbände mit ihrer Einflussnahme verhindern wollten.

    Die Abgeordneten Stephan Thomae (FDP), Frank-Walter Steinmeier (SPD), Diana Golze (Die Linke) und Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), die sich während der Bundestagssitzung am 12. Dezember zu Wort gemeldet hatten, ließen in ihren Beiträgen erkennen, dass sich mit Ausnahme der Linken keine Partei in grundsätzlicher Weise mit dem Themenkomplex auseinandergesetzt hat.

    Denn grob fahrlässig wird eine Sekundärtugend wie religiöse Tradition in das Rechtsdenken eingeführt, obwohl sie unaufgebbare Grundsätze wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit von Schutzbefohlenen zur Disposition stellt.

    Das seit der Aufklärung in Deutschland tonangebende liberale Judentum (z.B. Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Leo Baeck) hat die Beschneidung Neugeborener nie für allgemein verbindlich erachtet. Durch den NS-Faschismus wurde dieser Traditionsstrang jedoch abgeschnitten – bezeichnenderweise haben die Befürworter des Gesetzes das nicht erwähnt! Diese Tradition passte anscheinend nicht ins politischen Weltbild. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hingegen, der von osteuropäischen Einwanderern geprägt ist, vertritt überwiegend konservative bis orthodoxe Strömungen, die biblische Texte unhistorisch interpretieren (ähnlich wie christliche Fundamentalisten).
    Die islamische Theologie bewertet die Beschneidung nicht einheitlich, während die muslimischen Verbände in Deutschland zumeist Vertreter einer unreflektierten Volksfrömmigkeit sind (auch eine besondere Spielart von Tradition).

    Ähnliches gilt für den Begriff Toleranz, auf den sich Frank-Walter Steinmeier in der Debatte berufen hat. Tolerant sein kann man gegenüber einer Weltanschauung, welche die ethischen Normen des Rechtsstaats vollständig akzeptiert. CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne hingegen setzen Toleranz offensichtlich mit Gleichgültigkeit gleich.

    Erschreckend an diesem Gesetz ist, dass Grundsätze unserer Rechtsordnung der politischen Opportunität geopfert werden. Mit der Anzahl bzw. der gesellschaftlichen Bedeutung derer, die gegen ein Tabu verstoßen, wächst offensichtlich die Bereitschaft, die moralische Messlatte tiefer zu hängen oder diese völlig zu beseitigen.

    Die Raser und Drängler auf unseren Straßen haben erst unlängst ihre Lobbyisten in Marsch gesetzt, damit die bislang verbotene Warnung vor Radarfallen künftig legalisiert wird. Bald schon könnten die Pädophilen darauf verweisen, dass Inzest seit Jahrhunderten praktiziert wird (siehe Grimms Märchen) und eine Aufweichung der Gesetze angesichts dieser ungebrochenen Tradition geboten erscheint. Und die Beschneidung von Mädchen könnte nach dem Geist dieses Gesetzes auch erlaubt werden, vorausgesetzt, man bedient sich eines desinfizierten Skalpells und nicht länger einer rostigen Rasierklinge.

  26. P.S.

    „Und bei einem Mann sollst du nicht liegen, wie man bei einer Frau liegt, ein Gräuel ist es.“

    Meine obigen Erwägungen in Sachen Steuerung der Fortpflanzung in archaischen Zeiten sind sicherlich auch Hintergrund für dieses religiöse Gebot. Ein Mann kann noch so lange „bei einem anderen liegen wie bei einer Frau“… ein Kind ist jedenfalls dabei noch niemals herausgekommen… und das ist wohl das wahre „Gräuel“ gewesen.

  27. @Klaus Wolper: Wenn Religionen resp. ihre Vertreter nicht nur ständig Respekt für sich einfordern würden, sondern diesen auch insbesondere Nichtreligiösen – Agnostiker, Atheisten, Ungläubige – gewähren würden, könnte ich Ihren Zornesausbruch nachvollziehen. Dem ist aber nicht so, vielmehr wird seitens der Religionen gegen Nichreligiöse weltweit verbal massiv Stimmung gemacht und nicht selten auch Gewalt angewendet. Also brauchen Sie sich über das noch relativ milde Echo „Religioten“ nicht zu wundern und haben eigentlich keinen Grund zur Klage. Ein bißchen Gegenwind schadet nicht, sondern klärt möglicherweise den Kopf. Religionsfreiheit meint nämlich nicht nur die Freiheit der Religionen, sondern beinhaltet auch das Recht, unbehelligt frei von Religion zu sein.

  28. In vielen und auch guten Beiträgen wurde dargelegt, wie und warum diese Beschneidungsrituale entstanden sind, bzw.entstanden sein könnten.
    Warum sie aber heute noch angewendet werden, wurde m.E. zu wenig betont. Es sind ja nicht die Notwendigkeiten, von denen man vor tausenden von Jahren die Arten erhalten und pflegen wollte. Diese Argumente zählen ja längst nicht mehr.
    Nein, es ist der – da muss ich sagen „kindliche Glaube“ – dass es „da oben“ noch immer einen Gott gibt, der solche archaischen Methoden verlangt, um von ihm geliebt zu werden…Kopfschüttel, keine Worte mehr.

  29. # 21 EvaK
    Danke für Ihren Beitrag. Inhaltlich bin ich damit absolut einverstanden. Ich lasse mich auch gerne darauf ein, möchte aber vorausschicken, dass wir dabei das Blogthema nicht außer Acht lassen sollten.
    Ich habe auch gar nichts gegen Klartext. Im Gegenteil. Dies ermöglicht, vorgeschobene Argumente zu durchstoßen und dahinterstehende Interessen und Motivlagen aufzuzeigen. Und dazu bedarf es auch der Interpretation, und auch radikale Ansätze, die nicht durchwegs verifizierbar sind, sind dabei m.E. legitim.
    Dies erscheint hier insofern auch weiterführend, als die Einengung der Debatte auf die Schiene der „Religionsfreiheit“ zu problematischen Schlussfolgerungen führen muss, wie der überhastete Beschluss des Bundestags zeigt, der sich hier m.E. von Interessenvertretern aufs Glatteis führen ließ.
    Zu meinem Eindruck „apodiktisch“:
    Es handelt sich hier um eine Auseinandersetzung mit fundamentalistisch geprägten Weltbildern, die eigene Interpretationen als absolute Wahrheit setzen und bei Infragestellung zu massiver, aggressiver Abwehr neigen. Die Diskussion in verschiedenen Blogs zu diesem Thema ist voll von Beispielen. (Dazu in einem anderen Beitrag.) Doch nur ein Dialog kann Denkanstöße geben und Prozesse in Gang setzen. Daher sollten wir falsche Fronten wie auch einen Ton vermeiden, der den Vorwurf erlaubt, dass man das ebenso tue. Dies erscheint mir bei Ihrer Einführung zu # 3 nicht der Fall zu sein. Wenn ich mich betroffen fühlen müsste, würde ich da sofort auf „stur“ schalten.
    Zu Ihren Ausführungen:
    Ich halte Ihre Hinweise für wichtig, da bei dem genannten fundamentalistischen Verständnis des Alten Testaments wohl ähnliche Prozesse der Übernahme eines archaischen Frauen- und Männerbilds ablaufen, die sich gegenseitig bedingen. Weshalb m.E. die Beschneidungsdebatte ebenso wenig bloße Sache von „Junx“ ist wie Feminismus eine bloße Frauensache. (Meine Frau unterrichtete bis vor 10 Jahren in einer selbst gegründeten „Schule für Erwachsenenbildung“ eine „Frauenklasse“, wo jeder Mann hochkantig zur Tür rausgeflogen wäre, wenn er gewagt hätte, sie zu öffnen. Die Zeiten sind wohl hoffentlich vorbei.)
    Zur Aufspaltung des Frauenbilds in die „keusche Jungfrau“ (Maria) und die „Hure“ (Eva):
    Auch hier gilt es, die ideologische Auswirkung auf Frauen und Männer ins Auge zu fassen.
    In einem Roman zur Emanzipation eines Flüchtlingsmädchens vom Religions- und Frauenbild der Nachkriegszeit („Maria“) versuche ich, beide Aspekte zu beleuchten. Die männliche Psyche wird dabei aus der Sicht eines Homosexuellen untersucht, dem im Priesterseminar Zweifel an seiner „Berufung“ kommen. Ich erlaube mir, hieraus zu zitieren:
    „Es dauerte recht lange, bis ich den Grund für meine Albträume erkannte: Es war mein Bildnis von Maria, der Gottesmutter. Sie verkörperte das Wunschbild einer Frau, das man mir eingeimpft. Sie war ja fürsorgliche Mutter und Jungfrau zugleich. Die fürsorgliche Mutter hatte Verständnis dafür, was sich ‚sündhaft‘ in mir regte. Die ‚unbefleckte Jungfrau‘ aber verstärkte meine Schuldgefühle noch: Sie war ja so makellos und unnahbar. Mein Bild von Frauen spaltete sich auf: Die ‚gute‘ Frau war meine eigene, ‚fürsorgliche‘ Mutter, die ‚sündhaften‘, ‚befleckten‘ Frauen waren die, die meinem Bild Mariens nicht entsprechen wollten: moderne Frauen, ungezwungen, selbstbewusst, Frauen, die sich schminkten, sich dem, was man ‚natürlich‘ nannte, widersetzten. Ich verstrickte immer tiefer mich in Schuldgefühle, die ich nicht mehr ertrug. Ich wollte ja Priester werden! – Mein Idealbild von der Frau schlug um in Verachtung und Hass – und nicht nur bei mir.
    Ich weiß nicht, ob es alle so empfinden, die Priester werden wollten oder wurden – für mich zumindest muss ich sagen: Auch ich bin in gewissem Sinne ‚vergewaltigt‘ worden. Und ich rächte mich für meine Angst vor der ‚verruchten‘ Carmen, ermordete ihr Bild in mir. Ich rächte mich für die Verführung, für den ‚Sündenpfuhl‘, in den sie mich zu führen drohte, für ‚Sodom und Gomorrha‘.“ –
    Es handelt sich (das möchte ich damit sagen), eben nicht nur um eine „Frauenfalle“, sondern auch um eine „Männerfalle“.(Bemerkenswert erscheint mir, dass Eugen Drewermann, dem ich Teile meines Entwurfs zuschickte – er ist inzwischen aus der Kirche ausgetreten – gerade diese Passagen ausgesprochen positiv kommentierte.)
    Wichtig erscheint mir im Zusammenhang der Beschneidung auch eine weitere Komponente des Frauenbilds: das Mutterbild, das die Reproduktionssphäre abdeckt (Max Wedell hat in # 22 darauf hingewiesen) und zugleich die Dichotomie von Frauen- und Männerbild verfestigt.
    In totalitären Zusammenhängen direkter Militarisierung dienend („Mutterkreuz“ im NS-System), eignet es sich auch unter demokratischen Verhältnissen dazu, die Ächtung „unproduktiver“ Gemeinschaften, z.B. gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ideologisch zu festigen. Es erscheint mir eine durchaus naheliegende These, dass im Beschneidungsritual in widersprüchlicher Weise eine ideologische Fixierung auf die Reproduktionssphäre sich mit Verteufelung des Sexuellen, soweit es dem nicht untergeordnet ist (weitgehend identifiziert mit „Weiblichkeit“) verbindet.
    Fazit: Ich halte es für kontraproduktiv, immer nur auf den archaischen Charakter solcher „Traditionen“ wie dem Beschneidungsritual zu verweisen. Entscheidend ist aufzuzeigen, welche Funktion das Aufgreifen und Beharren auf solchen archaischen Ritualen (und Denkweisen) in den heutigen Lebenszusammenhängen zukommt. Grob gesprochen: Den Stellenwert der Debatte in einem Re-Fundamentalisierungsprozess aufzuzeigen, der weit über das Problem jüdischen Selbstverständnisses hinausgeht. So etwa politische Zusammenhänge zu erfassen, die verschleiert werden (wie Moshe Zuckermann es tut, vgl. # 4), oder die widersprüchlichen Bedingungen aufzuzeigen, die ein Rekurrieren auf vermeintlich „Halt“ bietende archaische Prinzipien subjektiv nötig erscheinen lassen.

  30. @Max Wedell: Das sind sehr nette Überlegungen zur Reproduktionssteuerung zu Zeiten, die Sie archaisch nennen und die ich lieber als frühgeschichtlich bezeichne. Das Masturbations- und Homosexualitätsverbot im Leviticus hat aber nicht seinen Grund in der Fortpflanzungskontrolle, um einen kleinen Nomadenstamm gegenüber den Nachbarstämmen und Stadtstaaten in der Bevölkerungszahl zu stärken. So kritisch, wie Sie das schildern oder vermuten, war die Lebenssituation zu dieser Zeit im Nahen Osten nicht, daß ständig irgendwelche Stämme vor „kultureller Überfremdung“ oder gar vor dem Aussterben standen. Der Hauptgrund für diese Vorschriften, wie auch die sonstigen detaillierten Lebensvorschriften des Levitikus, war die kulturelle und soziale Abgrenzung der Israeliten von den Nachbarn, die tlw. ein recht lockeres Verhältnis zur Sexualität und Lust hatten. Lesen Sie dazu noch einmal über Sodom und Gomorra nach, dort wird das deutlich. Diese Abgrenzung war ein wesentlicher Teil der Identitätsstiftung für den Stamm.

  31. @abraham
    Vielleicht ist der Begriff „Verstümmelung“ tatsächlich zu stark gewählt.

    http://de.wikipedia.org/wiki/Verst%C3%BCmmelung

    Mir hat sich aber bislang kein echter Grund für die Beschneidung erschlossen. Religiöse Menschen mögen in der Religion und ihren (Vor-)Schriften echte Gründe dafür finden, für mich existieren solche nicht. Ich bin im engeren Sinne kein religiöser Mensch.
    Was allerdings bedenklich stimmt, ist der Anspruch (mancher) religöser Menschen, ihren Glauben über die wissenschaftliche Erkenntnis zu stellen und Verhaltensregeln durchzusetzen, die rational nicht vertretbar sind. Das ist nicht auf bestimmt Glaubensrichtungen oder politische Richtungen beschränkt.

    Es schwingt in diesen Vorstellungen und Verhaltensregeln immer stärker mit (siehe auch die Kreationisten), daß religiöse Ansichten einen Anspruch darauf hätten, kulturelle Grundlage von Gesellschaften zu werden. Sie haben diesen Anspruch nicht.
    Die Grundlage von Gesellschaften ist die rationale, aufgeklärte, wissenschaftliche Sicht der Welt, alles andere ist Meinung, Religiösität oder Überzeugung, die im subjektiven Rahmen Verhaltensweisen gestalten darf und soll.
    Solche Meinungen dürfen aber nicht zum Maßstab oder zur Grundlage von Gesellschaften werden, da solche Gesellschaften zur Radikalisierung und Fundamentalisierung neigen. Es ist ein Problem der Abgrenzung, das noch nicht gelöst ist.

    Ein sehr fataler Sprachgebrauch, der mich in dem Zusammenhang schon länger stört, ist die Definition des Religionsstreits als „Kulturkampf“.

    Religionen sind Teil der Kultur, können auch kulturstiftend sein, sie sind aber weder „die Kultur“ an sich, noch sind sie Weltanschauungen, sie sind keine „westliche“ oder „östliche“, keine „südliche“ oder „nördliche“ Kultur. Sie sind Religionen, die sich mit Kulturen auseinandersetzen.

  32. @ Michael Roloff, # 13
    Danke für die Links, die durchzuschauen sich wirklich lohnt, vor allem die von Michael Wolffsohn. Ich bin dabei auf drei andere Links gestoßen, die mir sehr lesenswert erscheinen:

    http://pro-kinderrechte.de/statement-von-eran-sadeh/

    forumromanum.com/member/forum/entry_ubb.user euro-circ

    http://yaelmyblog.wordpress.com/2012/08/01/gegen-barbarismus-und-archaische-brauche/#comment-4126

    Das erste ist ein Statement von Eran Sadeh aus Israel, Gründer von Protect the Child, das zweite ein Forum „Euro Circ“ zur Propagierung und Ausweitung der Beschneidung, das schon seit 6 Jahren existiert, das dritte eine bösartige Satire eines Beschneidungsbefürworters mit ebenso bösartigen Diskussionsbeiträgen.

    Persönlich finde ich den ersten Beitrag mit Abstand am interessantesten und den einzig diskussionswürdigen. Da nun leider auch Abraham meint, in das Horn des „angeblich ungerechtfertigten“ Vorwurfs des Antisemitismus stoßen zu müssen, hier eine Kostprobe der Diskussionskultur aus dem dritten Blog (als Reaktion auf einen inzwischen gelöschten Beitrag):
    „Ich habe bein zweiten Absatz aufgehört zu lesen.
    3) sollten Sie gefälligst niemandem einreden, die Juden hätten ein Problem mit ihrer Beschneidung. Wir haben keins, wir hatten keins, und wir werden keines haben.
    Freilich Sie haben eins damit. Na und? Wir Juden backen uns ein koscheres Ei drauf. (…) Sie kriegen jetzt von mir den ersten Preis des verblasenstenen, judenfeindlichsten, propaganda-geilsten Höchst-Ignoranten, oh, gar in Platin mit Stern und Schulterband.
    Könnense sich jede Menge drauf einbilden.”

    @ Abraham
    1. Meines Wissens ist das hier eine Diskussion über Beschneidungspraxis in Deutschland überhaupt nach dem Beschluss des Bundestags und kein Doktorandenseminar über „Geschichte, religiöse Entwicklung und Praxis des Judentums“, an dem gefälligst nur teilzunehmen hat, der nicht mindestens eine Ausbildung zum Rabbiner vorzuweisen hat. Es erwartet ja auch niemand von einem Andersgläubigen, dass er das römisch-katholische „Confiteor“ auswendig auf Latein vorträgt, wenn er z.B. die Einstellung der Kirche zur Sexualität in Frage stellt.
    2. Bekanntlich geht es im Kern um eine Rechtsgüterabwägung, wie sie von Markus Tiedemann in ausgezeichneter Weise dargestellt wurde, was unter anderem auch bestimmte Interpretationen von „Identitätsstiftung“ durch ein herkömmliches Ritual betrifft, was von anderen (wohl ebenso „kompetenten“ Juden wie Eran Sadeh in Frage gestellt wird. Es ist Sache der jeweiligen Religion (in #4 spreche ich von „Bringschuld“), für ein Traditionsverständnis zu sorgen, das mit Grundprinzipien des heutigen Rechtsstaates kompatibel ist.
    3. Wenn Diskutanten nach dem Prinzip „Ein jeder kehre vor seiner Tür“ auch Prinzipien oder Praxis des eigenen Glaubens kritisch hinterfragen, ist dies ein Hinweis, wie mit Glaubensfragen ohne ahistorischen Dogmatismus umgegangen werden kann (wobei, wie ich in # 30 ausgeführt habe, auch nicht in allen Einzelheiten „belegte“ Theorien diskutiert werden dürfen). Daraus ein „verkorkstes Vehältnis“, „Komplexe“, fehlende „Toleranz“ und „Antisemitismus“ abzulesen, um von eigenen Ungereimtheiten (siehe 2) abzulenken, ist nicht nur unerträglich arrogant. Es entzieht auch jeder weiteren Diskussion den Boden.
    4. Es kann von jedem Diskutanten erwartet werden, zur Kenntnis zu nehmen, was als These, als mögliche Analogie oder als Beispiel und in welchem Zusammenhang zur Diskussion gestellt wird und dies von Tatsachenbehauptungen zu unterscheiden. Wer alles partout auf sich beziehen will, hat dies wohl zuerst mit sich selber auszumachen. –
    Die Blogger hier haben Sie ja schon ganz anders kennengelernt.
    Schade!

  33. Mir ist die ganze Debatte zu rabulistisch. Als Agnostiker bin ich der einfachen Meinung, daß ein Mensch selbst über seine religiöse Ausrichtung bestimmen können muß, und dies dann, wenn er das Ausmaß der Folgen einigermaßen überblicken kann. Ein 8 Tage alter Knabe kann dies im Judentum ebenso wenig wie ein 10jähriger Muslim. D.h. für mich, Beschneidung dann, wenn die bei uns im GG verankerte Religionsmündigkeit erreicht ist, also mit 14 Jahren, und dann auf Wunsch, und dann nur von Fachärzten vorgenommen. Ein junger Mann mit Phimose geht ja auch nicht zu einem Friseur, wenn auch mit Zusatzausbildung desselben. Ich frage mich immer wieder, wenn es eine Mail-Adresse von Jahwe, Gott oder Allah geben würde, was würde dieser sagen, ob man an Säuglingen oder Kindern einfach rumschnippeln sollte? „Laßt die Finger weg von meinen Schäfchen, ich habe sie so erschaffen, wie sie sind“, und ich habe mir etwas dabei gedacht – vielleicht? Vielleicht ist die Blasphemie ja weit verbreitet, sich dauernd anzumaßen, an Gottes Schöpfung herumzudoktern, und dann noch irgendwelche archaischen Rituale, und vielleicht auch noch angebliche Gottesbotschaften hinein zu interpretieren?

    Nehmen wir uns die Jesus-Figur vor, dann könnte ich mir bei diesem absolut nicht vorstellen, daß er Gefallen an Kinder-Verstümmelung gehabt hätte, und mit Verständnislosigkeit reagiert hätte, wenn man ihm „das ist wohlgefällig für Deinen Vater“ als Argument entgegen gehalten hätte.

    Also, legt die Messer weg, es wird schon genug gemetztelt auf Erden. Ach so, und wenn ich damit zum Antisemiten werde, dann bin ich es halt, genauso, wie ich absolutes Unverständnis für die israelische Siedlungspolitik habe. Aber vielleicht wird auch dies demnächst zur jüdischen Tradition erklärt.

  34. Für mich geht es in der Diskussion nicht mehr um bestimmte Gruppen, die Rituale vollziehen oder um einzelne Rituale, sondern um die Notwendigkeit von Ritualen selbst.

    Aus meiner Sicht sind Rituale ein Ausdruck des Umgangs mit einer unverstandenen Umwelt, die unverstandene, gleichwohl lebensbestimmende Umstände mit einer Verhaltensnorm beantworten, die vorläufig, bis zu deren wissenschaftlichen Durchdringung, eine Sicherheit vermitteln, die sich nicht aus Erkenntnis, sondern aus Erfahrung ableitet.
    Sie sind daher per se unaufgeklärt und müssen sich der zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnis beugen oder dieser weichen.

    Die allfällige Pauschalisierung, daß Menschen, die Rituale vollziehen, grundsätzlich unaufgeklärt sind, teile ich nicht. Rituale haben ihre Berechtigung bis zur wissenschaftlichen Klärung, unaufgeklärt sind nur diejenigen, die sich einer erfolgten wissenschaftlichen Klärung weiterhin widersetzen.

    Es ist ein langwieriger Meinungsstreit, ab wann solche Rituale überflüssig werden und ab wann eine wissenschaftliche Klärung allgemein akzeptiert wird.

    Zu fragen wäre allerdings, ob man prägende Rituale durchführen darf oder sogar muß, bevor eine wissenschaftliche Klärung erfolgt ist. Dies ist die Frage danach, ob man Menschen zum besseren Tun erziehen muß, bevor sie dessen Grund einzusehen vermögen.

  35. Ich stimme, was die Einschätzung und den Sinn von Ritualen generell angeht, Sixty-Four völlig zu. Wie auch schon früher von mir betont, sollte man auf allgemeine Urteile und vor allem Verurteilungen, die immer unhistorisch sind, überhaupt verzichten. Es geht schließlich um konkrete Entscheidungen unter konkreten aktuellen Bedingungen.
    Dafür halte ich es auch nicht für unbedingt notwendig (wenn auch sicher hilfreich), bis ins Einzelne – sofern überhaupt möglich – etwa die Bedeutung der Beschneidung bis zu Abrahams Zeiten zurückzuverfolgen. Entscheidend ist vielmehr anzuerkennen, dass auch Aussagen religiöser Zeugnisse als Orientierungshilfen der Interpretation bedürfen, die immer vor dem Hintergrund konkreter historischer Situationen stehen und nach der Hermeneutik eines Gadamer in gewissem Sinn sogar auch vom fragenden Subjekt abhängen. Der Bezugspunkt sind dabei immer unsere heutigen Gegebenheiten und vor allem anerkannte Grundprinzipien wie Menschenrechte und Recht auf Unversehrtheit.
    Die Grenzziehung in diesem Meinungsstreit erfolgt demnach nicht entsprechend religiöser Bekenntnisse wie etwa Christentum gegen Judentum oder Islam und umgekehrt, sondern entsprechend einer Einstellung, die einer historischen Entwicklung offen gegenübersteht und fundamentalistischen Überzeugungen (bei allen dieser Religionen), die eben dies leugnen.
    Bestätigt wird diese Einschätzung auch durch die Beobachtung, dass Vertreter des Islam (von einzelnen Beschneidern abgesehen, die sich in Talkshows mit ihrer Erfahrung brüsteten) sich erstaunlich zurückgehalten haben, während Hardliner vor allem des Zentralrats der Juden von Anfang an mit dem Antisemitismus-Vorwurf vom eigentlichen Problem abzulenken suchten – obwohl auch von jüdischer Seite genügend Zeugnisse vorliegen, die dies völlig anders sehen (seltsamer Weise aber nicht in der FR dokumentiert).
    Im Gegensatz zu den pauschalisierenden Behauptungen Abrahams kann auch in mehreren Blogs beobachtet werden, dass – auch bei sehr unterschiedlichen Einschätzungen – Zeugnissen, die persönliche Reflexion und Betroffenheit ausdrücken (so etwa dem unter # 33 verlinkten von Eran Sadeh) durchaus mit Respekt begegnet wird. Dass für solche Menschen – und um die geht es vor allem – diese Diskussion eine große Verunsicherung bedeutet, die zu überwinden viel Zeit erfordert, ist sehr verständlich. In dem Sinne, ihnen dazu eine faire Chance zu geben, verstehe ich auch die eingangs zitierten Äußerungen und Erwartungen von Markus Tiedemann:
    „Es liegt nun an den religiösen Minderheiten, die Situation in einen Gewinn für alle Beteiligten zu verwandeln. Die Toleranz war vergebens, wenn die Glaubensgemeinschaften das Gesetz als ihr selbstverständliches Anrecht verstehen. Viel ist gewonnen, wenn die Religionsgemeinschaften erkennen und anerkennen, dass der säkulare Rechtsstaat bis an die Grenzen seines Selbstverständnisses gehen musste, um dieses Entgegenkommen zu ermöglichen.“
    Dies freilich schließt nicht aus, allen Versuchen, mit unerträglichen Behauptungen wie „Vertreibung des Judentums“, beleidigenden Antisemitismus-Vorwürfen oder gar Holocaust-Instrumentalisierung einen ernsthaften Dialog zu verhindern, entschieden entgegenzutreten. Im Gegenteil: Eines bedingt das andere. Toleranz ist immer nur auf der Basis von Gegenseitigkeit möglich, und dem von Charlotte Knobloch lauthals eingeforderten „Respekt vor Traditionen“ kann nur in dem Maße entsprochen werden, als dieser auch umgekehrt erfolgt und eigene Traditionen nicht über Grundprinzipien demokratisch verfasster Staaten gestellt werden.

  36. @EvaK,

    Sie haben recht, frühgeschichtlich ist sicher das bessere Wort, da es unangebrachte Negativ-Konnotationen nicht enthält…

    Über die frühgeschichtlichen, d.h. mehrere Jahrtausende zurückliegenden Ursprünge solcher (oder auch ganz anderer) Rituale muß man leider sagen, daß man völlig sichere Aussagen gar nicht machen kann. Man kann darüber wegen stark unzureichender Quellenlage eigentlich nur im Stil eines Sherlock Holmes-Romans räsonnieren, mit dem Unterschied allerdings, daß die glasklare Auflösung am Ende leider ausbleibt.

    Daß in den Anfängen (und ich spreche hier nicht unbedingt von Abraham) eher ein klar erkennbarer Zweck die Beschneidung bewirkte, ähnlich dem, den Sie nennen, und nicht ein im Vorneherein weniger klar erkennbarer, wie es die Erschwernis der Masturbation darstellt, und damit eine (statistische) Begünstigung der Fortpflanzung, halte ich auch für wahrscheinlich. Eine länger fortgesetzte Praxis der Beschneidung ergäbe aber Erkenntnisse über ihre Wirkungen, die den helleren Köpfen sicher nicht verborgen blieben.

    Abraham befand sich bzw. die religionsbestimmenden Erzählungen, die ihn postulieren, entstanden wohl in einem Gebiet, das Historiker gern als Vortex diverser Kulturen bezeichnen, ich nenne nur einmal Mesopotamien und Ägypten. Erkenntnisse über die Wirkungen von Beschneidungen könnten also in ein solches Gebiet gelangen, ohne daß es dort unbedingt eine vorherige längere Tradition der Beschneidung gegeben haben muß.

    Was Abraham angeht, seine Person oder sein Sinnbild, so sind die berichteten Visionen Gottes zahlreich, und dabei fällt auf, daß immer wieder und wieder dieselben Motive auftauchen: Das der zahlreichen Nachkommenschaft und des reichen Landbesitzes.

    Wenn ich z.B. sage, Beschneidung begünstigt (statistisch) Fortpflanzung, dann könnte man das weniger prosaisch so ausdrücken, wie es in den alten biblischen Texten steht: „Als Zeichen des göttlichen Bundes führe die Beschneidung alles Männlichen ein… dann sollen deine Nachkommen wie Sterne sein“. Noch deutlicher kann man doch eigentlich nicht darauf hinweisen, worum es hier eigentlich geht.

    Daß die Beschneidung dabei auch anderen Zwecken dienen kann, wie zusätzlich dem von Ihnen genannten, ist klar, das nennt man „Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“. Da widersprechen Sie sich allerdings ein wenig, wenn sie einen kulturellen Abgrenzungswunsch postulieren, aber darin eine Ablehnung kultureller Überfremdung nicht sehen können. Kulturelle Abgrenzung hat doch auch das wesentliche Ziel, kultureller Überfremdung entgegenzuwirken. In den alten Texten wird es aber noch deutlicher, daß es sich nicht bloß um Abgrenzung handelt, sondern schlichtweg um, wenn nicht militärische, so doch um kulturelle Eroberung und Expansion, denn der oben erwähnte von Gott versprochene künftige Landbesitz erstreckt sich ja über die Gebiete anderer Völker, die in den alten Texten sogar namentlich genannt werden: der Keniter, der Kenasiter, der Kadmoniter, der Hetiter, der Perisiter, der Rafaïter, der Amoriter, der Kanaaniter, der Girgaschiter, der Hiwiter und der Jebusiter.

    Ich denke, man kann die berichteten Versprechungen Gottes sehr gut als Indikatoren sehen, was den Menschen damals wichtig erschien, und zwar völlig unabhängig davon, ob es sich um Beschreibungen realer Vorgänge oder um Erfindungen handelt. Auch die Grimmschen Märchen sagen ja viel über die Wertesysteme tatsächlich existierender Menschen aus, ohne daß sie deswegen tatsächlich stattgefunden haben müssten.

    Nicht zuletzt besteht die Möglichkeit, die Textstellen, die vom Klagen Abrahams gegenüber Gott bezüglich seiner Kinderlosigkeit handeln, nicht wortwörtlich als Schicksal einer Einzelperson zu verstehen, sondern als Allegorie, die eben dann doch vom Aussterben von Stämmen oder Kulturen handelt.

    Dabei ist der Kinderreichtum nicht unbedingt nur eine nötige Gegenmaßnahme, um ein Aussterben zu verhindern… sondern er bestimmt auch in Umständen, die nicht mehr so prekär sind, daß unmittelbar ein „Aussterben“ droht, wesentlich das Lebensniveau… mehr Kinder = größere Schafs- und Rinderherden, mehr Arbeitskräfte zum Bestellen des Bodens usw.

    Die Überlieferungen zu Sodom und Gomorrha sind übrigens auch umstritten, was ihren sexuellen Gehalt angeht… es gibt Interpretationen, die das Vergehen der Bewohner von Sodom ganz anders als sexuell sehen: eine Verletzung der Gastfreundschaft, Hartherzigkeit, mangelnde Freigebigkeit, Geiz usw.

  37. @Sixty-Four,

    daß Sie den Wissenschaften so einen hohen Stellenwert einräumen wollen, finde ich löblich… aber ich bin ja auch Atheist. Einer Vorstellung, die Beschneidung wäre ein uraltes göttliches Gebot, das auf alle Zeiten eine bindende Verpflichtung darstellt, einen unauflösbaren Vertrag mit Gott, können Sie aber auf wissenschaftlichem Wege ja überhaupt nicht beikommen, das ist doch einfach prinzipiell unmöglich.

    @Fladung,

    was Jesus und Beschneidung angeht: Direkte Überlieferungen dazu gibt es nicht, wie überhaupt ja nahezu jede Überlieferung im Christentum von Jüngern/Anhängern ausgeht, und auch von noch späteren Anhängern vermutlich frisiert wurde, d.h. im Laufe der Zeit verschiedenen Transformationen unterlag.

    Die ganz frühen Anhänger Jesus‘ waren Juden, die sich aber recht schnell in der Frage uneins wurden, welche Bedingungen an Nichtjuden zu stellen seien, die dieser frühen christlichen Sekte beitreten wollten: sollte man von ihnen einen vorherigen Übertritt zum Judentum verlangen (welcher natürlich auch die Beschneidung bedeutet hätte) oder nicht?

    Nebenbei bemerkt: In der jüdischen Überlieferung ist die „Endzeit“ ja die Zeit, in der die Nichtjuden ins Licht Israels kommen, und der damalige Wunsch vieler Nichtjuden, den neuen Glauben an Christus als Messiahs annehmen zu wollen, wurde von manchen auch als Indiz gesehen, daß die Endzeit nahe sei. Diese Nebenbemerkung drängte sich mir am heutigen Tage irgendwie auf.

    Zurück zum beschriebenen Schismus in der frühen christlichen Sekte: in meinen Augen ist er jedenfalls ein Hinweis, daß Jesus, der übrigens selber beschnitten war, sich nicht gegen Beschneidung ausgesprochen hat, denn das hätte doch eine klare Antwort auf die Frage gegeben, ob man Beschneidung von Nichtjuden verlangen soll, wenn sie zum Glauben an den Messias übertreten. Mit der Zeit hat sich dann allerdings die Denkschule durchgesetzt, die die Beschneidung für Nichtjuden ablehnte, ihr prominentester Vertreter z.B. Paulus. Auch bei den Texten von Paulus dazu, die bekannt sind, fällt auf, daß die in ihnen enthaltene deutliche Ablehnung der Beschneidung niemals über irgendwelche direkten Vorgaben aus dem Munde des Messias verargumentiert werden, sondern immer nur indirekt und über Interpretationen.

    Es gibt also m.E. kein Anzeichen dafür, daß Jesus die rituelle Beschneidung problematisiert oder gar abgelehnt hätte.

  38. Und ein letztes noch @ Engelmann:

    Die unterschiedliche Intensität, mit der Vertreter des deutschen Judentums und religiöse Vertreter deutscher Muslime den kürzlichen Streit begleitet haben, könnte auch darauf zurückzuführen sein, daß die Beschneidung im Judentum eine ganz besonders tiefe nicht nur religiöse sondern auch kulturelle Verankerung hat, im Islam hingegen aber jedenfalls überhaupt nicht vorkommt, wenn man erstmal nur den Koran betrachtet, und ansonsten je nach Region eben eine Sache ist, die man machen kann, wenn sie einer kulturellen Tradition entspricht, oder auch nicht, wenn nicht.

    Aus dem unterschiedlichen Engagement auf eine unterschiedliche Bereitschaft zu irgendwie fundamentalistischer Halsstarrigkeit zu schließen wäre jedenfalls in meinen Augen falsch.

  39. zu 40: Abraham: ich habe Ihren Beitrag sehr wohl gelesen. Nur gehe ich von einem anderen Standpunkt aus. Ein 8-Tage alter Säugling kann ja wohl die jahrtausendalte Jüdische Tradition der Beschneidung nicht kennen, und sich darüber kein Urteil bilden. Es heißt, weg mit der Vorhaut, ist halt Elternrecht, begründet aus und mit der Tradtion. Natürlich hat jeder mosaisch-Gläubige das Recht, nach Erreichen der Religionsmündigkeit seinen Glauben abzulegen und sich ggf. einen anderen zu suchen. Nur, wer gibt ihm dann seine Vorhaut wieder? Gilt natürlich auch für Muslime. Ich kann das Beharren auf Ritualen verstehen, übe ich ein solches ja auch aus, wenn ich mein Glas erhebe, den Anderen Gesundheit wünsche und klingend anstoße. Ich wünsche mir eben Rituale, die keinen Schmerz bereiten, und keine Verstümmelung sind. Und die Beseitigung einer Phimose, die ähnlich schmerzhaft ist wie ein Überbein oder ein Fersensporn, ist etwas anderes als eine Beschneidung, weil medizinisch indiziert – was man von einer Beschneidung nicht behaupten kann. Aber Sie haben Recht, daß wir da nicht zueinander kommen, wohl genauso wenig, wie es in einer Debatte über die Siedlungspolitik versus angebliche Zwei-Staaten-Lösung passieren würde. Ich hätte einen Riesen-Krach mit meinen Eltern bekommen, wenn mir diese z.B. anstatt des abwaschbaren Aschenkreuzes bei der Firmung ein Kreuz als Tattoo auf die Brust hätten tätowieren lassen. Aber das kann man wohl nicht vergleichen.

    Das ist eben das schöne an Ihrer und der islamischen Tradition, eben der der abrahamitischen Hirten-Religionen, daß Sie uns Ungläubigen immer vorwerfen können, diese nicht verstehen zu wollen bzw. nachvollziehen zu können. Soll halt so sein. Amen.

  40. @ Abraham, # 40
    Dass Sie meinen Beitrag # 36 als Beispiel für „Phantasieren“ über „Ursprung oder angebliche Bedeutung von jüdischen religiösen Ritualen“ nennen, verwirrt mich, wo ich nicht einmal andeutungsweise eine Aussage darüber mache. Darf ich erfahren, an welcher Stelle Sie Anstoß nehmen und warum?
    Was die Bedeutung solcher „Spekulationen“ für die aktuelle Debatte angeht, bin ich durchaus der gleichen Meinung wie Sie. Allerdings nicht aus Geringschätzung. Die meisten Erkenntnisse, vor allem über historisch entfernte Verhältnisse, sind zunächst Spekulationen, bis sie sich eines Tages verifizieren lassen – oder auch nicht. Meine Skepsis beruht vielmehr darauf, dass ich die Chancen der Verifizierbarkeit in absehbarer Zeit für recht gering halte und dass ich auch nicht erkennen kann, inwiefern eine eindeutige Antwort eine Voraussetzung für die Entscheidungsfindung in der aktuellen Frage sein soll.
    Wenn ich mir (nebenbei) eine Bemerkung erlauben darf: Wer wiederholt auf die „Unwissenheit“ anderer Diskutanten verweist, um ihre Beiträge (und Meinung) abzuwerten, ist m.E. den Nachweis schuldig, was ihn denn (im Unterschied zu anderen) zu einem „Wissenden“ macht. Da ich dies aber, wie gesagt, nicht für entscheidend halte, insistiere ich nicht auf eine diesbezügliche Antwort.
    Zu Ihrer Aussage in 3) „Die Vorhautbeschneidung ist rechtlich zulässig.“
    Dieser Meinung kann man wohl sein, was noch lange nicht bedeutet, dass sie auch richtig ist. Die Justizministerin jedenfalls hat (bevor sie offenbar unter Druck gesetzt wurde) große Bedenken in dieser Hinsicht geäußert. Und da man wohl davon ausgehen kann, dass sich – früher oder später – das Bundesverfassungsgericht damit befassen wird, können wir diese Frage getrost offen lassen. Zudem gehöre ich nicht zu denen, die meinen, eine – zugegebenermaßen – sehr alte Tradition würde durch ein Urteil eines Landgerichts von heute auf morgen beendet.
    Wenn diese Diskussion sinnvoll sein soll (und ich meine, sie ist es), dann in der Weise, dass die Probleme und Gewissenskonflikte betroffener Menschen in den Blick kommen (damit meine ich Kinder und Eltern). Sie sind es, die „Respekt“ verdienen, nicht eine – fragwürdig gewordene – „Tradition“ an sich.

    Nun aber zu der m.E. (wie ich in # 36 ausführe) entscheidenden Frage des Umgangs mit historisch gewordenen Traditionen und ihrer Interpretation:
    Gibt es nach Ihrer Auffassung überlieferte „göttliche“ Überlieferungen, die
    a) als unmittelbare Anweisung in praktischen Lebensfragen zu verstehen sind
    b) keinen Symbolcharakter besitzen und damit keinerlei Interpretation bedürfen
    c) keinerlei Entscheidungsspielraum zulassen
    d) zeitlos sind und für alle Ewigkeit Gültigkeit besitzen.
    Wenn ja:
    – Auf welcher Grundlage beruht dieses Wissen?
    – Wie ist dann ein Nebeneinander von absolut unabänderlichem Handlungsakt der „Beschneidung“ bei Jungen einerseits als Voraussetzung für den „Bund“, symbolischem Akt der Aufnahme von Mädchen durch Namensgebung andererseits zu verstehen und zu rechtfertigen, ohne sich dem Vorwurf des „Sexismus“ auszusetzen?
    – Wie ist, wenn „Glaube“ zu exklusivem „Wissen“ wird, noch Toleranz gegenüber „Ungläubigen“, sprich: „Unwissenden“ möglich?
    – Welches Menschenbild liegt dem dann zugrunde? Wie kann dann überhaupt noch von „freier Entscheidung“ und „eigener Verantwortung“ gesprochen werden?
    Wenn nein:
    – Wie kann dann noch von dieser „Tradition“ als unabdingbarem Bestandteil „jüdischer Identität“ gesprochen und die Möglichkeit jeglicher historischer Veränderung derselben von vornherein ausgeschlossen werden?
    – Woher nehmen die, die das behaupten, das Recht, die Besitzer der alleinigen „Wahrheit“ zu sein und anderen Interpretationen den Wahrheitsanspruch verweigern zu dürfen – wo sie doch nur, wie die anderen auch, interpretieren ?

    An einer Antwort auf diese Fragen wäre mir allerdings sehr gelegen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Werner Engelmann

  41. Das Recht der Kinder auf genitale Autonomie
    http://hpd.de/node/14688

    „Jonathan Friedman wurde in eine orthodoxe jüdische Familie hineingeboren und ist dort groß geworden. Als er älter wurde, begann er dann auf dem College die Beschneidung von Knaben in Frage zu stellen und zu recherchieren. Heute ist er „Intactivist“ und arbeitet für die „Anwälte für die Rechte der Kinder“(ARC) in den USA.“

  42. Falls man sich überhaupt zu diesem Thema austauschen will, müsste man sich zunächst darüber vereinbaren, in welcher Art man die religiösen Schriften überhaupt wahrnimmt.

    Fall 1: Wenn sie blosse Literatur des damaligen Zeitgeistes sind, kann man sie schwerlich als Beweis anführen. Sowohl Befürworter, als auch Kritiker der Rituale müssten also darauf verzichten, aus diesen Schriften historische Wahrheiten zu konstruieren. (Die Existenz Gottes kann nicht bezweifelt werden, wenn man Gott gegen sie anführt.)

    Fall 2: Wenn man die Schriften tatsächlich als Gottes Wort ansehen will, so muß man akzeptieren, daß dieses Wort ein sehr altes ist und sich darin so manche Irrtümer finden, die heute aufgeklärt sind. Man muß also entweder feststellen, daß Gott sich irren kann, oder die Erkenntnis den Menschen vorenthält bis daß sie selbst solche erlangen.

    Aus beiden Fällen ergibt sich, daß Menschen bei Gottes Wort ein erhebliches Wörtchen mitzureden haben und aufgefordert sind, an den Schriften weiterzuschreiben.

  43. @abraham#40
    „Die Vorhautbeschneidung ist rechtlich zulässig. Wäre sie mit so schwerwiegenden Folgen für die physische und psychische Gesundheit oder die Sexualität verbunden, wie manche Kritiker behaupten, müsste sie generell (also auch für Erwachsene) verboten werden. Für die Entscheidung über das Wohl des Kindes lässt unsere Rechtsordnung den Eltern erhebliche Spielräume, auch wenn die Gesundheit des Kindes betroffen ist.“

    Sie verkehren die rechtliche Zulässigkeit hier in ihr Gegenteil. Ein Eingriff in die körperliche Integrität ist nur im Sinne des Kindeswohls zulässig. Dieses Kindeswohl im Falle der religiös motivierten Beschneidung zu begründen, ist bislang nicht gelungen. Man kann annehmen, das Kindeswohl bestünde darin, gottgefällig zu sein, im Sinne des Gebots, man muß es aber nicht. Dies hängt allein von Glauben ab. Da Glaube aber rein subjektiv ist (und sein muß), folgt daraus keine objektive Rechtfertigung. Eine objektive Rechtfertigung muß aber aus der Sicht eines Rechtstaates verlangt werden.
    Ihr Argument, daß keine negativen Folgen aus der Beschneidung resultieren, ist ein Negativargument, ergibt also keine positiven Grund und keine Notwendigkeit der Beschneidung. Eine Beschneidung muß nicht aufgrund negativer Folgen verboten werden, sie ist schon aufgrund der Menschenrechte verboten. Eine Beschneidung muß bewußt und positiv entgegen den Menschenrechten, also als begründete Einschränkung oder Erweiterung der Menschenrechte stichhaltig begründet werden, weil hier ein menschliches Gebot aufgrund subjektiver Maßgaben übertreten wird. Subjektiv ist diese Entscheidung deshalb, weil es kein Pflicht einer Zugehörigkeit zu einem Glauben geben kann. Wenn Sie die Unbedingtheit des göttlichen Gebot hiergegen anführen wollen, scheitert dies daran, daß es keine Unbedingtheit des Göttlichen gibt. Es gäbe sonst keine unterschiedlichen Religionen.

    Wenn, wie Sie selbst anführen, eine Religionsfreiheit dahingehend gegeben ist, daß sich der Mensch trotz unwiderruflicher Zeichen zu einer anderen Religion bekennen kann, verlieren diese Zeichen umso mehr an Bedeutung. Letztlich bestätigen sie damit die höhere Bedeutung der persönlichen Überzeugung gegenüber der Zeichnung, was meiner Ansicht entgegenkommt.

    Dies mündet in die Frage nach der persönlichen Religionsfreiheit, die für mich die wichtigste ist.

    Ein religiöses Bekenntnis darf nicht die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft begründen, es muß Ausdruck religiöser Freiheit bleiben. Aus meiner Sicht ist daher der Verzicht auf eine körperliche Kennzeichnung ein Schritt zur Akzeptanz der bewußten, individuellen Überzeugung und des Bekenntnisses, die beide zu respektieren sind. Religiöse Rituale dürfen deshalb nicht Ausdruck des Ausschlusses werden, weder aktiv, noch passiv, sie müssen sich als Teil der Gemeinsamkeit dem rechtlichen Rahmen anpassen.

  44. Wenn mehr als 70% der Deutschen gegen das neue Beschneidungsgesetz sind, befinde ich mich ja in guter Gesellschaft. Mit dem Alternativ-Vorschlag hätte ich gut leben können. Aber unsere Abgeorneten haben sich ja weg geduckt, vor diesem rituellen „Schwänzchen kupieren“. Bleibt zu hoffen, daß eine Klage vor dem BGH/BVG Erfolg hat.

    Hier der Link auf SPON: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/studie-mehrheit-der-deutschen-gegen-beschneidungsgesetz-a-874473.html

  45. @ W.Fladung

    „Wenn mehr als 70% der Deutschen gegen das neue Beschneidungsgesetz sind, befinde ich mich ja in guter Gesellschaft.“

    Die Argumente gegen die Beschneidung männlicher Säuglinge sind eben so stichhaltig, dass sich deswegen eine derart überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dagegen ausspricht. Die Diffamierung der Beschneidungsgegner als angebliche „Antisemiten“ und „Islamhasser“ (oder: die „Stammtische“) entlarvt sich damit als simple Agitation und Propaganda.

    Worauf gründen Sie eigentlich Ihre Hoffnung, das BVG werde/würde dieses unsägliche Gesetz kippen?

  46. Es soll ja schon Zeiten gegeben haben, zu denen der, der dasselbe meinte wie mehr als 70% der Deutschen, sich nicht in guter Gesellschaft befand. Ansonsten sind Minderheitenangelegenheiten nun mal nicht über die Frage lösbar, was die Mehrheit meint.

    Wikipedia schreibt zur Beschneidung: „Die Beschneidung wird heute bei Muslimen als ein Zeichen der Religionszugehörigkeit im Kindesalter – bis zum Alter von 13 Jahren – durchgeführt“. sowie über Brit Mila, die Beschneidung bei Juden „Falls die Beschneidung versäumt wurde, soll sie spätestens mit Vollendung des 13. Lebensjahres vollzogen werden.“

    Wer also den Alternativ-Vorschlag erarbeitete, der als Kompromiss eine mögliche Beschneidung frühestens ab dem Alter von 14 Jahren vorsah, muß wirklich ein ziemlicher Intelligenzbolzen gewesen sein… Wäre es so unmöglich gewesen, da eine 13 hinzuschreiben statt einer 14?

  47. „Ansonsten sind Minderheitenangelegenheiten nun mal nicht über die Frage lösbar, was die Mehrheit meint.“

    Sorry, ich meinte natürlich die religiösen Angelegenheiten. Die katholische Kirche interessiert ja auch recht wenig, was die Mehrheit zu Zölibat und weiblichen Priestern sagt.

  48. @ all
    Zunächst allen frohe und besinnliche Tage – gleich welchen Glaubens.
    Vielleicht ist es doch nicht so unangemessen, sich in diesen Tagen über Kindeswohl Gedanken zu machen.
    Dies legen zumindest Äußerungen nahe, die Harald Stücker recherchiert hat und zu denen ich die Links hinzufüge:

    http://evidentist.wordpress.com/2012/06/29/hoert-ihr-die-kinder-weinen/
    “Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.”
    So beginnt Lloyd de Mause seine Geschichte der Kindheit, im Deutschen erschienen unter dem Titel Hört Ihr die Kinder weinen.

    http://evidentist.wordpress.com/2012/12/21/wurden-sie-ihrem-gott-ihr-kind-opfern/

    „Im Laufe dieser Debatte war von rabbinischer Seite des Öfteren zu hören, dass Betäubung aus religiösen Gründen nicht in Frage komme – eine Ansicht mit altehrwürdiger Tradition. So schreibt der mittelalterliche jüdische Philosoph Maimonides in Führer der Unschlüssigen:
    Der körperliche Schmerz, der diesem Körperteil zugefügt wird, ist der eigentliche Zweck der Beschneidung.
    Mit entwaffnender Offenheit schrieb Paul Spiegel 2004 in seinem Buch Was ist koscher? über die Notwendigkeit des Schmerzes (S. 36):
    Das Baby wird nicht betäubt, es erhält nicht einmal eine örtliche Narkose, denn den Bund mit Gott muss man sozusagen bei vollem Bewusstsein vollziehen.
    In seinem Film Cut. Slicing through the myths of circumcision interviewt Eliyahu-Ungar-Sargon den Rabbi Hershy Worch
    Rabbi Worch: Ich bin ein Täter. Ich missbrauche Kinder, weil ich in einem Bund mit Gott bin. Und letzten Endes gehört Gott meine Moral. Ihm gehört mein Körper. Und ihm gehört meine Vergangenheit und meine Zukunft, und das ist die Bedeutung dieses Bundes; dass ich zugestimmt habe, die Schmerzen und die Rechte und das Trauma meines Kindes zu ignorieren, um in diesen Bund einzutreten.
    Die Beschneidungsfrage ist also im Kern die Gretchenfrage. Deshalb ist sie so zentral für unser aller Selbstverständnis. Und deshalb polarisiert sie. Sie fordert auf zum Schwur. Es wäre nämlich im Lichte der Ausführungen des Rabbi Worch vollkommen grotesk, Menschenrechtsverletzungen nur deshalb zu legalisieren, weil andernfalls gläubige Menschen sehr traurig wären. Nein, wer den Kindesmissbrauch legalisiert, legt eine religiöse Metaphysik zu Grunde und bestätigt implizit, dass sie zentrale Menschenrechte einfach aushebelt. Ein solches Gesetz ist daher im Grunde nur in einer Theokratie möglich, in einer säkularen Demokratie eigentlich undenkbar.“

    Als Drittes bin ich dem unter # 33 genannten Forum „euro-circ“ nachgegangen. Unter dem dort genannten Verweis über Google kommt man nur in das Forum hinein wenn man sich vorher anmeldet. Über den folgenden Link ist es aber möglich, die Diskussion bis 2009 zurück zu verfolgen. Ich füge dem Auszüge hinzu:

    http://240904.forumromanum.com/member/forum/entry_ubb.user_240904.2.1107260336.1107260336.1.beschneidung_fuer_alle-euro_circ_diskussionsforum.html

    „Pro-Circ: Beschneidung für alle, 02 May. 2009 17:13
    Hallo, ich wäre für eine Beschneidung für alle Kinder. So spätestens nach dem 4 Schuljahr oder so. Dann sind sie kurz vor der Pubertät, ihr Schamgefühl ist noch nicht so extrem, aber sie brauchen keine Vollnarkose mehr -> minimierung des Risikos
    Pro-Gründe:
    – es ist sauberer
    – keiner wird mehr gehänselt, wie er aussieht
    – die Vorhaut ist fast sinnlos
    – keine Probleme mehr mit enzündungen
    – veringerung des risikos von Geschlechtskrankheiten
    – wenn sie bis da nicht beschnitten sind, geht es erst wieder wenn sie älter sind, weil sie sich oft in der Pubertät nciht trauebn mit den Eltern darüber zu sprechen.
    – sie wissen nur wie SB ohne Vorhaut geht und trauern ihr nicht nach
    Was meint ihr dazu?

    Foren Neuling:
    hallo das finde ich toll die idee

    Pro-Circ: Das wär ja dann wie impfen, wärs noch nicht hat, bekommts gemacht.
    Nach dem 4.Schuljahr z.B. gäbs ne Schuluntersuchung und da wird dann geguckt wärs noch nicht hat und der bekommt dann direkt den Bescheid zum Urolgen zugehen und dann in den nächsten Ferien wirds gemacht.“

    Mein Kommentar dazu:
    Glaubt jemand tatsächlich noch, es ginge hier allein um „Religionsfreiheit“, Erhalt einer „Tradition“ oder „jüdische Identität“?

    @ Sixty-Four, #45:
    „Dies mündet in die Frage nach der persönlichen Religionsfreiheit, die für mich die wichtigste ist. Ein religiöses Bekenntnis darf nicht die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Gesellschaft begründen, es muß Ausdruck religiöser Freiheit bleiben.“
    Dies erscheint schlüssig. Ob dies aber allein oder vorwiegend eine juristische Frage ist? –
    Mir erscheint, dass die Reduktion auf eine juristisches Frage (so wichtig diese ist) ebenso problematisch ist wie die Verengung auf „Religionsfreiheit“. Das oben aufgeführte Zitat von Lloyd de Mause und der Kommentar von Harald Stücker zu Rabbi Worch bestätigen m.E., dass nur unter Einbezug des historischen Bezugs (konkret: Entwicklung der Menschenrechte) die Tragweite des Problems erkennbar ist.
    Falls ich die Zeit dazu finde und dies von allgemeinem Interesse wäre, könnte ich ein paar Thesen dazu formulieren.
    Einstweilen mit freundlichen Grüßen
    Werner Engelmann

  49. Herr Abraham, was Sie hier abliefern, grenzt an Real-Satire. Sie scheinen oder wollen nicht verstehen (und dies halten Sie sicherlich auch wiederum mir vor), was ich, als Nicht-Religiöser und Außenstehender, an der Beschneidung kritisiere:

    1. Sie ist nicht selbstbestimmt, sondern fremdbestimmt. Nicht der Beschnittene entscheidet, ob er dies will, sondern die Gruppe, die Eltern, die Religion, die Tradtion etc. pp.
    2. Der Vergleich mit irgendwelchen gesundheitlichen Vorteilen hinkt. Wenn Eltern ihre Kinder impfen lassen, wollen sie diese vor Krankheiten und Infektionen schützen. Bei einer Beschneidung geht es nicht um Schutz, sondern um Traditionen. Auch wenn, vorausgesetzt, es gäbe hinreichende Nachweise, eine Beschneidung vor irgendwelchen Erkrankungen schützen würde, dann wäre dies Sache einer Entscheidung des Individuums oder der Gesellschaft, begründet durch medizinischen Erfolgsnachweis.
    3. Religion ist halt Opium für Volk. Wer glaubt, auch an Tradionen, weiß nicht, und will auch gar nicht wissen. Er verlangt einfach, daß seine Glaubensausübung toleriert wird, auch wenn sie mit den Menschenrechten – z.B. denen auf körperliche Unversehrtheit – nicht vereinbar ist.

    Und damit Buch zu, Affe tot. Eine Mehrheit in Israel scheint ja auch zu glauben, daß die Fortführung der Siedlungspolitik Frieden schafft. Bin mal gespannt, wie die Einsparungen, die demnächst in den USA aufgrund der Fiscal Cliff getroffen werden müssen, und auch die US-Unterstützung Israels betreffen werden, z.B. von den Ultra-Orthodoxen (nix schaffen, null Wehrdienst, viele Kinder etc.) aufgenommen werden. Die können sich dann allerdings mit den Salafisten zum Tee treffen – ist ja eine Glaubens-Ausrichtung.

  50. @ # 51, # 52

    In ihrer Stellungnahme zur Anhörung im Bundestag betreffs der rituellen Beschneidung von Knaben im Judentum hat sich Dr. Antje Yael Deusel folgendermaßen geäußert:

    „Über allen Debatten für oder wider eine rituelle jüdische Beschneidung ist jedoch zu bedenken, daß es sich bei der Brit Mila NICHT UM EINE ANGELEGENHEIT HANDELT, ÜBER DIE JÜDISCHE ELTERN FÜR IHRE SÖHNE BZW. ERWACHSENE JÜDISCHE MÄNNER FÜR SICH SELBST NACH FREIEM BELIEBEN ENTSCHEIDEN, SONDERN DAß SIE EINES DER WICHTIGSTEN GEBOTE DES JUDENTUMS DARSTELLT – und damit eine Verpflichtung dem Ewigen gegenüber, als Zeichen des immerwährenden Bundes mit seinem Volk.“

    Und auch der jüdische Filmemacher Victor Schonfeld hat in dem Dokumentarfilm „It’s a Boy“ nicht nur darauf aufmerksam gemacht, welche schwerwiegenden Risiken die Knabenbeschneidung birgt, sondern auch welcher enorme Druck die Religionsgemeinschaften auf die gläubigen Eltern ausüben, damit sie ihre Söhne beschneiden lassen.

    Hier Schonfelds Position zur deutschen Beschneidungsdebatte :

    „Man hat von führenden Vertretern der Juden in Deutschland gehört, dass eine Nation mit dem historischen Erbe der Ermordung jüdischer Kinder nicht das Recht habe, jüdischen Eltern vorzuschreiben, was sie mit ihren Kindern tun dürfen und was nicht. Dieses Argument ist emotional und manipulativ – und muss zurückgewiesen werden. Es gibt Juden auf der ganzen Welt, die es ablehnen, den Holocaust herabzusetzen, indem er dazu missbraucht wird, Dinge zu verteidigen, die nicht zu verteidigen sind.
    Als ein jüdischer Vater mit tiefen Wurzeln im jüdischen Leben bitte ich Sie eindringlich, sich die filmisch dokumentierten Belege anzuschauen und den Eltern und Kindern Beachtung zu schenken, die – als Ergebnis eines sozialen Anpassungsdrucks, dem sie sich selbst nicht widersetzen können – schwer leiden. Es ist Zeit für einen historischen Wandel in Sachen Beschneidung.“

  51. @ Abraham

    „Allerdings sollte es auch keinen Zwang zur Nichtbeschneidung geben, worin Sie mir vermutlich nicht zustimmen werden.“

    Einen generellen Zwang zur Nichtbeschneidung darf es natürlich nicht geben, nur die Kinder müssen vor nicht medizinisch indizierten Genitalbeschneidungen geschützt werden – nur darum geht es.
    Und das stellt doch auch keine wirkliche Einschränkung der Religionsfreiheit dar, denn eine religiöse Erziehung kann doch auch ohne Beschneidung stattfinden.
    Es geht wirklich nur um Kinderschutz und nicht etwa um die Unterminierung eines religiösen Glaubens, weshalb auch nicht die Rede davon sein kann, dass die rituelle Beschneidung generell verboten werden soll.

  52. „Wenn sich auch nicht-religiöse oder gar a-religiöse jüdische Eltern für die Beschneidung ihres Sohnes entscheiden, tun sie es nicht aus religiösem Zwang, sondern als (manchmal das letzte praktizierte) Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk.“ (Abraham #56: http://www.frblog.de/beschneidung-3/#comment-38269)
    @ Abraham: Wenn ich bisher eine Zahl zum Anteil der beschnittenen Juden in Deutschland gehört habe, lag die immer unter 50%. Haben Sie eine belastbare Zahl, wie hoch dieser Anteil wirklich ist, oder könnte es sein, dass dieser ganze Zirkus Beschneidung nur die sowieso besonders lautstarken Juden wirklich interessiert?

    Ansonsten halte ich die Hoffnungen auf Karlsruhe, wie sie auch hier regelmäßig geäußert werden, für illusorisch. Was man dem Kölner Urteil vorwarf, dass es durch eine Nicht-Verurteilung der Eltern bzw. des Arztes die Möglichkeit einer verfassungsrechtlichen Klärung der festgestellten Rechtswidrigkeit der Körperverletzung durch die medizinisch nicht indizierte Beschneidung des nicht einwilligungsfähigen Kindes verunmöglichte, ist das einzig „Gelungene“ an diesem Gesetz***: Wenn nicht ein Viertel des Bundestages zu einer abstrakten Normenkontrolle aufruft, bräuchten wir den Fall von Eltern, die ihr Kind erst beschneiden ließen und dann hinterher (vielleicht wegen eines dieser seltenen Fälle schwerer Implikationen) ihren Sinn zu änderten und anstelle ihres Kindes dagegen klagten, dass sie das tun durften. Klingt nicht sehr wahrscheinlich dieser Fall, und davon dass es eine Initiative von MDBs gäbe, eine abstrakte Normenkontrolle einzuleiten, habe ich auch noch nichts gehört. Auch die Einleitung der abstrakten Normenkontrolle durch ein Land ist unwahrscheinlich. Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine Institution, die sich den Papst zu persönlichen Belehrungen einlädt, und deren Vertreter handverlesene Kirchgänger sind, ausgerechnet bei diesem Thema eignet, diese Überprüfung wirklich vorzunehmen.

    Ansonsten Herr Abraham, halte ich ihre Analogie mit der Impfung nicht für ganz richtig. Die Impfung als prophylaktische Handlung zu unterlassen ist etwas anderes als eine Handlung zu vollziehen. Die Unterlassung einer angezeigten Heilbehandlung, die eine Impfung nicht darstellt, kann sehr wohl den Verlust der Erziehungsgewalt nach sich ziehen. Außerdem maße ich mir nicht an, das ziemlich eindeutige Votum der Kinderärzte weltweit zum Thema Knabenbeschneidung in Frage zu stellen. Die waren es auch, die das Votum der amerikanischen Kinderärzte als nicht sach-, sondern umsatzbezogen zurückgewiesen haben.

    Ansonsten hat die ganze Diskussion dafür gesorgt, dass die wirklich Betroffenen, diejenigen, die mit negativen Folgen ihrer Beschneidung kämpfen, sich getroffen haben und feststellen konnten, dass sie nicht allein sind, auch wenn sie bezeichnenderweise nicht zur Anhörung im Bundestag eingeladen wurden. Ich hoffe einfach mal, dass die auf Dauer etwas mehr Druck entfalten werden, als es ihnen bisher erlaubt war. Allein dass die jetzt offiziell existieren, wird Zweifel säen. Wie auch der Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Beschneidung der Frauen in den betroffenen Gesellschaften erst gesät werden musste. Bis dahin hielten die die Nachteile, die sie erlitten, auch nicht für erwähnenswert, und die beschnittenen Mütter waren die eifrigsten Verfechterinnen dieser Maßnahme. (Deshalb mag man mir verzeihen, dass ich die Aussagen der beschnittenen Väter nicht sehr Ernst nehme.)

    *** „dieses Gesetz“: Reinhard Merkel hat es in seinen „Minima moralia“ in der FAZ wunderschön charakterisiert: „Der fundamentalistische Vater, der seinen Achtjährigen beim Onanieren erwischt und ihm zur Abgewöhnung eine heftige Ohrfeige gibt, macht sich strafbar. Beschließt er stattdessen, ihn zu demselben Zweck und unter der (wahren!) Angabe „religiöse Gründe“ beschneiden lassen, ebnet ihm das neue Gesetz den Weg.“ Das bedarf eigentlich keines weiteren Kommentars, und ich glaube auch nicht, dass die Abgeordneten, die für dieses Gesetz gestimmt haben, damit so leicht davon kommen werden; die Abstimmung war namentlich und diese Namen lassen sich nachlesen. Ich werde mich in meinem Umkreis daran beteiligen, jeder dieser Geigen die Beteiligung an diesem Unsinn öffentlich unter die Nase zu reiben, wenn die hier auftreten, um öffentlich für ihre Arbeit zu werben. Die nächste Wahl kommt bestimmt.

  53. @ Abraham

    „Warum den Eltern die Entscheidung über die Beschneidung ihrer Söhne aus Gründen des Kinderschutzes entzogen werden sollte, während sie nach wie vor – um ein weiteres Beispiel zu nennen – frei über das Essverhalten und die Sauberkeitserziehung entscheiden dürfen, obwohl auch hier Fehlentscheidungen irreversible physische und psychische Folgen haben, auch dafür fehlt mir jede Begründung.“

    Falsche Essgewohnheiten können sich natürlich schon nachteilig auf die Gesundheit eines Kindes auswirken. Können, wohlgemerkt. Eindeutig feststellbar ist es aber nicht, ob ein gesundheitliches Problem nur durch falsche Essgewohnheiten entstanden ist. Meist sind da ja auch noch andere Faktoren mit im Spiel.

    Die Amputation von intaktem, völlig gesundem Gewebe, das zudem auch noch wichtige Körperfunktionen erfüllt, widerspricht dagegen direkt dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Der Eingriff ist irreversibel, das Risiko für Komplikationen gegeben und gewisse Einschränkungen (vermindertes sexuelles Lustempfinden) unvermeidbar, auch wenn nicht jeder Betroffene darunter leiden mag.

    @ Frank Wohlgemuth

    „Ich werde mich in meinem Umkreis daran beteiligen, jeder dieser Geigen die Beteiligung an diesem Unsinn öffentlich unter die Nase zu reiben, wenn die hier auftreten, um öffentlich für ihre Arbeit zu werben. Die nächste Wahl kommt bestimmt.“

    Gute Idee. Ich hoffe sie findet viele Nachahmer.

  54. @ Anna und andere
    Hier werden jetzt aber schwere Geschütze aufgefahren. Amputation, Verstümmelung….Es geht um einen Teil der Vorhaut. Auch bei einer geringfügigen Verengung kann es zu körperlichen und seelischen Komplikationen kommen. Unser Nachbarkind hatte solch eine kleine Verengung, die Mutter war angehalten, auf besondere Hygiene zu achten. Diese betonte Aufmerksamkeit wurde der Mutter später zur Last gelegt, als das Kind aus anderen Gründen in die Psychiatrie kam.

    Abraham hat doch sehr deutlich gemacht, welche Bedeutung die Beschneidung für Juden hat. Warum ist das so schwer zu akzeptieren? Ich unterstelle niemanden hier im Blog (in anderen Foren sehr wohl) unlautere Motive, es geht jedem hier um das Kindeswohl, aber den muslimischen und jüdischen Eltern doch auch.

    Zunächst ist erst mal Rechtssicherheit hergestellt, was ich ausdrücklich begrüße, die Diskussion über die Folgen einer Beschneidung wird in den betroffenen Gemeinden sicher auch stattfinden. Und die Mediziner sind mit ihrer Weisheit vielleicht auch noch nicht am Ende ihrer Erkenntnisse.

    Die Idee, die Abgeordneten für ihr Votum an den Pranger zu stellen, finde ich eher abscheulich. Da gäbe es ganz andere Themen, bei denen man sich fragen muss, ob wir dort redlich und sachkundig vertreten werden.

  55. @ I. Werner

    „Hier werden jetzt aber schwere Geschütze aufgefahren. Amputation, Verstümmelung….Es geht um einen Teil der Vorhaut.“

    Ich vermute, Sie haben sich noch nicht über die Funktion der Vorhaut informiert. Ich schon. Deshalb halte ich „Amputation“ der Vorhaut für eine treffende und Beschneidung eher für eine verharmlosende Formulierung für diesen Eingriff.

    Lesen Sie z.B. hier:

    http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/wichtige-trendumkehr-in-den-usa/was-sind-die-funktionen-der-vorhaut.html

    „… es geht jedem hier um das Kindeswohl, aber den muslimischen und jüdischen Eltern doch auch.“

    Ich bezweifle kein bisschen, dass es auch den muslimischen und jüdischen Eltern um das Kindeswohl geht. Allerdings befürchte ich, dass die meisten gläubigen Eltern blindlings darauf vertrauen, dass die männliche Vorhaut ein nutzloser und verzichtbarer Körperteil ist.

    http://pro-kinderrechte.de/statement-von-eran-sadeh/

    „Die Idee, die Abgeordneten für ihr Votum an den Pranger zu stellen, finde ich eher abscheulich.“

    Ich finde es abscheulich, wenn unsere gewählten Volksvertreter für ein Gesetz votieren, dass klar gegen das Grundgesetz verstößt.

    @ Abraham

    Ich habe Verständnis dafür, wenn Sie sich als religiöser Mensch dagegen wehren, wenn ein als wichtig und identitätsstiftendes Ritual modifiziert werden soll.

    Allerdings halte ich kein einziges Ihrer Argumente für überzeugend genug, um die Zwangsbeschneidung von entscheidungsunmündigen Kindern rechtfertigen zu können.
    Da die männliche Vorhaut wichtige Funktionen hat (s.o.), halte ich es für geboten, dass die Beschneidung aus religiösen Gründen so lange aufgeschoben wird, bis die Betroffenen reif genug sind, selbst darüber entscheiden zu können.

  56. @ Abraham, # 51,52,56, all

    Zweifellos wird Ihre Bereitschaft zum Dialog, auch, wenn Auffassungen unvereinbar scheinen, hier geschätzt. Schwierig wird es allerdings, wenn auf explizite (und wiederholt geäußerte) Fragen nicht eingegangen wird, wohl aber auf Äußerungen allgemeinster Art oder Vorwürfe, die hier im Blog gar keine Rolle spielen. So habe ich mich vom Begriff „archaische Rituale“, von EvaK einmalig in # 3 verwandt, distanziert und er wurde auch von niemandem aufgegriffen.
    Dagegen möchte ich darauf verweisen, dass meine in # 42 noch einmal explizit gestellte Frage nach der Interpretation von Gen. 17,10-14 als „identitätsstiftender“ Tradition und dem daraus resultierenden Verhältnis der Geschlechter noch immer einer Antwort harrt. Bloßes Versehen oder Indiz dafür, dass es aus einem ahistorischen Verständnis von „Tradition“ heraus keine widerspruchsfreie Erklärung gibt?
    Mir erscheint vieles Ihrer Äußerungen diskussionswürdig und bedenkenswert. Ich beschränke mich daher auf Aspekte, auf die noch nicht näher eingegangen wurde.

    1. „Bei dem nun beschlossenen ‚Beschneidungsgesetz‘ handelt es sich auch nicht um den Sieg der Religion über die Aufklärung, zumal lediglich die bisher in Deutschland und anderswo gültigen Rechtsverhältnisse, die Eltern die Zustimmung zur Beschneidung ihres männlichen Kindes nicht abspricht, bestätigt wurden.“ (# 51)
    – Diese Einschätzung ist offensichtlich falsch. Der Beschluss von Bundestag und Bundesrat ist keine Rückkehr in „bisher gültige Rechtsverhältnisse“, sondern eine Fortschreibung und Ausweitung der Beschneidungspraxis. Dafür gibt es folgende Indizien:
    a. Obwohl angeblich zur „Klarstellung“ und zum Schutz von „Religionsfreiheit“ beschlossen, hat (wie auch Bettina Vestring am 12.12. schreibt) „der Gesetzgeber darauf verzichtet, ein religiöses Motiv vorzugeben“. Aktivitäten wie den (auch Ihnen als „Verrückte“ eingeschätzten) Beschneidungsfanatikern von „Pro Circ“ wird also Tür und Tor geöffnet. Die Verantwortung dafür wird demnach nicht bestimmten Religionsgemeinschaften, sondern dem Parlament zuzuschreiben sein.
    b. Der Status ante war, dass gar keine Äußerung des Gesetzgebers zu dieser Frage vorlag. Die Verantwortung lag also ausschließlich bei den jeweiligen Religionsgemeinschaften bzw. den praktizierenden Eltern. Diesen Status aufrecht zu erhalten, hätte bedeutet, dass sich der Gesetzgeber gar nicht dazu hätte äußern dürfen bzw. bestenfalls in der Weise, dass er (ähnlich wie bei der Abtreibungsfrage) aufgrund bestimmter politischer Erwägungen auf eine Strafverfolgung verzichtet. Dies wäre soweit für einen Außenstehenden auch noch nachvollziehbar gewesen.
    Nun hat der Gesetzgeber aber mit der Definition mit der Definition des „Zulässigen“ selbst die Initiative an sich gerissen, ist also Partei geworden – mit allen von Frank Wohlgemuth in # 59 aufgeworfenen Konsequenzen.

    2. „Ich bin mit Ihnen einig, dass es in einer säkularen, freiheitlichen Gesellschaft keinen Zwang zur Beschneidung geben darf.“ (# 56)
    Hierauf werden sich wohl alle einigen können, und es wäre schön, wenn man das verallgemeinern könnte. Fragt sich nur, ob das der Zentralrat der Juden in Deutschland auch so sieht. Dazu Herr Graumann (Kommentar zum Beschneidungsgesetz, 2.12.2012):
    „Für uns Juden ist die ‚Brit Mila‘, die Beschneidung jüdischer Knaben, ein elementares Gebot und identitätsstiftendes Merkmal der jüdischen Religion, das bereits seit Jahrtausenden fortbesteht“. Die Debatte sei vor allem auch im Internet grob missbraucht worden. «Viele haben Beschneidung gesagt, aber plumpen Antisemitismus gemeint.»
    Und in http://www.zentralratdjuden.de/de/article/3731.html:
    „Sie ist nicht nur Brauchtum, sondern zentraler Bestandteil jüdischer Identität. Sie ist von essentieller Bedeutung und konstitutiv für das Judesein.“
    Symptomatisch, dass Herr Graumann nicht einmal in einem Moment der Genugtuung plumpe Polemik unterlassen kann. Wohl ebenso, keinen Widerspruch duldend, die Gleichsetzung seiner eigenen Position mit „Judesein“ generell – wo doch die Zeugnisse von Juden (wie auch von Ihnen eingestanden), die dadurch in erhebliche Gewissenskonflikte gestürzt werden, Legion sind.
    Was mich, und sicher viele, daran erschreckt, ist der Zwang zu Ab- und Ausgrenzung in doppelter Hinsicht: Abgrenzung von Nicht- und Andersgläubigen, Ausgrenzung von Menschen gleichen Glaubens, mit gleicher Ernsthaftigkeit, welche durch andere Interpretation auch zu anderen Einstellungen kommen. – Und das hat mit Zwang nichts zu tun? Und wenn diese Menschen, denen definitorisch die „Identität“ abgesprochen wird, dann auch noch als Feigenblatt und „Nachweis“ für aufgeschlossene Positionen „des“ Judentums in Anspruch genommen werden, wie soll man das dann anders als zynisch nennen?

    3. „Schon der Titel des Threads lenkt die Diskussion in eine falsche Richtung, weil er diejenigen, die Knabenbeschneidung für rechtlich zulässig halten, zu Gegnern der Aufklärung erklärt.“ (# 51)
    Zunächst kann ich nicht erkennen, wo Herr Bronski dies tun soll – wo er den Thread doch ausdrücklich in den Zusammenhang des Bundestagsbeschlusses stellt und sich, was die Debatte angeht, gegen den Vorwurf des „Antisemitismus“ wehrt.
    Wesentlicher aber erscheinen mir grundsätzliche Überlegungen zu Prinzipien und Bedeutung von „Aufklärung“.
    Was das Verhältnis von „Aufklärung“ und „Religion“, und insbesondere zum Judentum betrifft, ist wohl niemand so berechtigt, als Kronzeuge genannt zu werden wie G.E. Lessing. Und dies auch, was die Missdeutung von „Aufklärung“ als bloß „rationaler“ Gegenposition angeht.
    Grundlage seines Toleranzbegriffs (und der Wirkung seiner Dramen) sind eben nicht nur rationale Erwägungen, sondern – mehr noch – die allgemein-menschliche Fähigkeit zu „Mitleid“ (besser übersetzt durch „Mitempfinden“) über Standesschranken, religiöse und andere Schranken hinweg. Ausgrenzung ist danach mit Toleranz unvereinbar, ist nur durch diese überwindbar. Und es kann einen Juden wohl zu Recht schmeicheln, wenn Lessing im „Nathan der Weise“ als Verkörperung der Einheit von Weisheit, Gerechtigkeit und Mitempfinden einen Juden wählt. Nun kann freilich – mit Recht – eingewandt werden, dass damit nicht unbedingt ein realistisches Bild der Verhältnisse seiner Zeit gezeichnet wird. Sicher ist die Schärfe der Attacken auf „christlichen“ Fundamentalismus auch im Zusammenhang seiner Fehde mit dem fundamentalistischen Pastor Goeze („Anti-Goeze“) zu sehen, und ist die Idealisierung des Judentums auch wesentlich durch seine Freundschaft mit Moses Mendelssohn bedingt, dem zudem, obwohl von der „Königlichen Academie“ geehrt, von Friedrich II. als Juden die Aufnahme in „Preußische Akademie der Wissenschaften“ verwehrt wurde.
    Dennoch bleibt die präzise Bestimmung der Bedingungen von „Toleranz“ und Grenzen der Religion, nicht nur in der „Ringparabel“, sondern auch im Verhalten Nathans, dessen Weisheit gerade auch darin besteht, dass er, als Pflegevater der Christin Recha in jeder Hinsicht um deren Wohl besorgt, es wohlweislich unterlässt, ihr in irgendeiner Weise seinen eigenen Glauben aufzudrängen (im Unterschied zum christlichen Kindermädchen Daja). –
    Dieses „aufgeklärte“ und „tolerante“ Verhalten eines Nathan steht in deutlichem Widerspruch zu Ihrer Rechtfertigung eines elterlichen „Rechts“ auf Beschneidung. Eine solche Frage lässt sich eben nicht in der Allgemeinheit beantworten, dass wir alle „durch gesellschaftliche, kulturelle und weltanschauliche Prägungen und Traditionen bestimmt und damit in unseren Entscheidungen nicht gänzlich frei“ seien (# 56). Es gilt sehr genau zwischen allgemeinem Wohl und Gewissensentscheidungen zu unterscheiden. Letztere haben prinzipiell frei zu sein und dürfen nicht durch unumkehrbare Vorentscheidungen oder Festlegungen prädestiniert oder eingeschränkt werden. Eben das ist ein wesentliches Merkmal psychischen Zwangs – unabhängig davon, wie gut man es als Eltern meint.
    Und es bleibt ebenso (auch wenn keine ausdrückliche Positionierung in Bezug auf Beschneidung vorliegt) die Erkenntnis eines Moses Mendelssohn:
    „Anders als das Christentum beruhe das Judentum nicht auf übernatürlich offenbarten Glaubenswahrheiten. Lehrmeinungen offenbare der Ewige Juden wie allen anderen Menschen durch Natur und Sache, nicht durch Wort oder Schrift.“ (Wikipedia) – Eine Erkenntnis, welche eindeutig im Gegensatz zur Position des Zentralrats der Juden steht und diese als dezidiert anti-aufklärerisch erweist. Und in dieser Hinsicht erscheint die Thematisierung des Threads durch Bronski auch als völlig korrekt.

    Zum Jahresabschluss (vielleicht auch als Versöhnungsangebot) erlaube ich mir, ein Lessing-Zitat zur Reflexion anzubieten, das m. E. auch in dieser Diskussion weiterhelfen könnte:
    „Und wenn Gott in seiner Rechten die reine Wahrheit hielte, in seiner Linken aber den steten Trieb nach Wahrheit, wiewohl mit dem Zusatz, mich immer wieder zu irren – ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: ‚Gib, Herr! Die reine Wahrheit ist doch nur für Dich allein.‘“
    Ich wünsche in diesem Sinn allen Mitdiskutanten einen guten „Rutsch“ und ein – hoffentlich – gesundes, friedliches und segensreiches Neues Jahr.
    Mit freundlichen Grüßen
    Werner Engelmann

  57. @ #62 Abraham @ #61 Werner

    „Wenn sich also nur ein Teil der jüdischen Familien für die Beschneidung ihrer Söhne entscheidet, dann ist die Beschneidung unwichtig und kann verboten werden.“ (Abraham)

    Verboten gehört sie sowieso (s.u.) – es geht hier nur um die Offenlegung der Argumentation, wie wichtig die Beschneidung für wen ist.

    „Außer dem Historiker Michael Wolffsohn (dessen Markenzeichen provokative Positionen gegen den Mainstream sind) kenne ich niemanden aus der Mitte der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, der sich gegen die Beschneidung ausgesprochen hat, wobei mir aus den Veröffentlichungen nicht klar ist, ob Wolffsohn ein Verbot der Beschneidung oder nur eine freiwillige Änderung dieses Religionsrituals befürwortet. Soviel zur Klarstellung der jüdischen Realität in Deutschland.“ (Abraham)

    Es ist verwunderlich, dass ihnen Gil Yaron nicht aufgefallen ist – er widerspricht ihnen in zweifacher Weise: Sowohl mit der vernehmbaren Argumentation dafür, dass Judentum ohne Beschneidung möglich ist und auskommen sollte, als auch mit dem öffentlichen Eingeständnis, dass er seinen Entschluss, seinen Sohn nicht beschneiden zu lassen unter dem Druck seiner Umgebung nicht aufrecht erhalten konnte. Sehr viele dieser Entscheidungen scheinen nicht so frei, wie Sie hier tun.

    „Für die Einstufung, ob die Knabenbeschneidung ein zulässiger oder rechtswidriger Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes darstellt (denn zweifelsohne gibt es auch zulässige Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit), kommt es zentral auf die Bewertung deren Folgen. Frank Wohlgemuth beruft sich dabei auf „das ziemlich eindeutige Votum der Kinderärzte weltweit“ gegen die Knabenbeschneidung, das es meines Wissens so nicht gibt.“ (Abraham)

    Das ist insofern richtig, als es gibt keine weltweite Organisation von Kinderärzten gibt. Gleichwohl gibt es kinderärztliche Organisationen, die sich eindeutig gegen eine nichtmedizinisch indizierte Beschneidung nichtzustimmungsfähiger männlicher Kinder ausgesprochen haben, in folgenden Ländern:
    Australien, Neuseeland, Kanada, Finnland, Schweden, Niederlande, Deutschland.
    All diesen Organisationen standen die selben Daten zur Verfügung wie der AAP, doch kam man komischerweise zu anderen Ergebnissen. Speziell die neueren Daten von 2005 bis 2009 aus Südafrika, auf die sich die AAP beruft, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen als noch 1999, sind sowohl von ihrer Qualität umstritten als auch ihrer Anwendbarkeit auf Europa oder Nordamerika. Außerdem sind sie mit keinen erkennbaren Zusammenhang zu der Frage behaftet, ob man Beschneidungen im Kindesalter vornehmen sollte.

    Eine eher unverdächtige Betrachtung des UUP-Reports fand in einem Ethik-Blog der Universität Oxford statt:
    „The AAP report on circumcision: Bad science + bad ethics = bad medicine“.
    http://blog.practicalethics.ox.ac.uk/2012/08/the-aap-report-on-circumcision-bad-science-bad-ethics-bad-medicine/

    Der Vollständigkeit halber: Von der AAP gab es auch schon mal eine Zustimmung zum „ritual nick“, einer Form der Mädchenbeschneidung, um diese OPs im Lande zu halten.

    „Abraham hat doch sehr deutlich gemacht, welche Bedeutung die Beschneidung für Juden hat. Warum ist das so schwer zu akzeptieren? Ich unterstelle niemanden hier im Blog (in anderen Foren sehr wohl) unlautere Motive, es geht jedem hier um das Kindeswohl, aber den muslimischen und jüdischen Eltern doch auch.
    Zunächst ist erst mal Rechtssicherheit hergestellt…“ (Werner #69)

    Es darf bezweifelt werden, ob die Beschneidung für „die Juden“ wirklich die Bedeutung hat, die Abraham hier darstellt – der Papst erzählt auch regelmäßig irgendwelchen Mist, der ihm sehr wichtig, der Mehrheit der deutschen Christen jedoch ziemlich egal ist. Aber was viel wichtiger ist, ist die Widersprüchlichkeit der Argumentation in sich und zu den Grundrechten, auch wenn Abraham und unsere kirchenhörigen Volksvertreter Klimmzüge machen, um das nicht so zu sehen:

    Auch mit dem Elternrecht ist ja nicht einfach alles zu begründen, schwerwiegende Eingriffe, und die Bagatellisierung der Amputation, die hier regelmäßig stattfindet, ist unpassend (s.o. Die Kontroverse um den Report der AAP) bedürfen der Begründung durch das Kindeswohl.

    Ich beschränke mich mal auf das Judentum: Was bliebe dem Kind denn versagt, wenn man auf seine Zustimmungsfähigkeit wartete? Ist dieser Gott so bescheuert, dieses Kind nicht anzunehmen, weil seine Eltern es nicht beschneiden ließen? Nein. Das behauptet auch kein Rabbi. Oder droht die jüdische Gemeinschaft, die Kinder, die sie nicht beschneiden durfte, auszugrenzen und zu drangsalieren? Weder befürchte ich das, noch wurde bisher eine Selbstauskunft dieser Art erteilt. Wer allerdings im Gegensatz zu Abrahams Ausführungen erkennbar unter Druck gerät, sind Eltern, die nicht beschneiden lassen wollen – siehe dazu auch Gil Yaron. Es geht hier also weniger um das Wohl der Kinder als um das der Eltern – wie auch das göttliche Gebot eines an die Eltern ist. Die Kennzeichnung eines Kindes durch Amputation der Vorhaut ist eine religiöse Handlung an einem anderen und damit rechtlich genau solange gedeckt, solange dieser andere nicht über eigene Rechte verfügt und sich damit in Leibeigenschaft befindet.
    Das Kindeswohl wird hier vorgeschoben, um auf diese Weise die Leibeigenschaft der Kinder wieder einzuführen, unterstützt durch alle Kirchen, bei denen die bestandssichernde Rechtsgrundlage der Leibeigenschaft der Kinder seit Alters her überliefert ist.

    In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal auf Tiedemann (s.o.) verwiesen:
    „All dies ändert nichts daran, dass eine Untersagung der Knabenbeschneidung theoretisch geboten ist. Das Primat der Individualrechte ist ein Grundprinzip des Rechtsstaates, das durch die letztgenannten Argumente nicht relativiert werden kann. Gleichwohl können Gründe für eine legale Knabenbeschneidung genannt werden. Hiermit wäre die Bedingung der Möglichkeit für echte Toleranz erfüllt.“

    Der letzte Satz scheint mir allerdings etwas daneben, denn worum es hier geht, ist nicht Toleranz. Toleranz bedeutet es, über eigenes Leiden hinwegzusehen, etwas um des Anderen willen zu erdulden, zu ertragen. Nur sind nicht wir es, die unter dieser Entscheidung leiden, sondern Kinder, und deren Leiden zu „ertragen“ ist nicht Toleranz, sondern Ignoranz. Eine Ignoranz, die wir alle noch nicht so lange begonnen haben, abzulegen, wie die noch sehr junge Entscheidung gegen die Körperstrafe zeigt. Nachdem wir aber dabei sind, diese Ignoranz abzulegen, können wir auch der Beschneidung nicht länger einfach zusehen, oder vielmehr wegsehen, wie wir es früher gemacht haben, bevor uns ein paar Juristen mit der Nase daraufgestoßen haben.

  58. @Abraham: Sie schreiben „Ein Verbot der Knabenbeschneidung wäre definitiv eine Einschränkung der Religionsfreiheit von jüdischen und muslimischen Kindern und Eltern, weil über den Umfang und Form des „Kerns“ einer Religion ausschließlich die Religionsgemeinschaften und die Religionsangehörigen entscheiden, nicht Außenstehende wie Sie.“ Ich formuliere das mal für Sie zuende: Mit dieser Begründung rechtfertigen Sie alles, wie eben die körperliche Zurechtstutzung auf das vorgegebene „Normalmaß“ oder sogar Menschenopfer, und stellen somit Religion über die Gesetze und verfaßten Menschenrechte. Anders gesagt, sollen sich doch diese Ungläubigen an das säkulare Menschenrechts- und Gesetzesgedudel halten, wir Rechtgläubigen aller Religionen hingegen stehen darüber und machen unser eigenes Recht und Gesetz.

    Leider hat sich eine unheilige Allianz von Lobbyisten der drei abrahamitischen Religionen damit durchgesetzt und den Bundestag in die Knie gezwungen, mit verbrieftem Sonderrecht für religiöse Willkürhandlungen gegen die körperliche Unverletzlichkeit die im Grundgesetz verbrieften Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Da wurde in unerträglicher Weise eine Grenze überschritten und ein Präzendenzfall geschaffen, daß zukünftig jeder abergläubische Wahn per Berufung auf Religionsfreiheit gerechtfertigt wird, notfall durch das nächste Sondergesetz.

    Was Ihre Aussage ansonsten betrifft, so lasse ich mir auch nicht vorschreiben, ob und wie ich über Religionen und ihre Inhalte zu befinden habe, auch nicht als von Ihnen als „außenstehend“ gekennzeichnete Person. Religionsfreiheit bedeutet nicht, daß Religionen sakrosankt und damit jeglicher Beurteilung durch Dritte entzogen sind. Das Grundrecht der Meinungs- und Redefreiheit erachte ich als vorrangig, und in diesem Sinne äußere ich mich auch, lasse mich nicht von Denk- und Sprechverboten per Drohung mit den üblichen Abwürgekeulen Christenhaß, Antisemitismus, Muslimfeindlichkeit u.ä. beeindrucken. Es ist also völlig unnötig, daß Sie mir großzügig das „gute Recht“ zugestehen, Religionen abzulehnen, denn dieses Recht habe ich auch so schon.

  59. @ #65 Abraham
    „um den Eltern die Entscheidung über die Beschneidung ihrer Söhne zu untersagen (was keineswegs eine „Zwangsbeschneidung“ ist)“ (Abraham)
    Es ist symptomatisch für ihre Argumentation, nicht aus der Sichte des Kind sehen zu können. Was soll es aus der Sicht des Kindes anders sein, als eine Zwangsbeschneidung, wenn sein möglicher Einspruch weder abgewartet noch (bei den Moslems) in der Regel später erhört wird?

    Zur Wortwahl – Wikipedia schreibt:
    „Als Amputation (lat. amputatio) wird die Abtrennung eines Körperteils bezeichnet.“
    Dieser Begriff ist neutral, er kommt aus der Medizin stellt nur fest, was ist. Auch kleine Körperteile sind Körperteile. Schon allein der Innervierungsgrad dieses Stückchen Hauts sollte sie misstrauisch machen, was die Geringschätzung seiner Funktion angeht.

    Es ist natürlich so, dass alle Lebewesen sich dynamisch auf Ausfälle einstellen, und das betrifft die Sensorik genauso wie die Motorik. Wir können feststellen, dass Menschen, die eines Sinnes beraubt werden, lernen, die verbleibenden Informationskanäle besser zu nutzen (deshalb wehren sie sich auch dagegen, behindert genannt zu werden). So ist es z.B. ziemlich wahrscheinlich, dass man die Statistik benutzen muss, um Unterschiede in der Lebensqualität von Geburt an einäugiger Kinder zu normal zweiäugigen Kindern zu finden. Aber das zweite Auge erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich eine Augenentzündung zuzuziehen um satte 100%. Wir können also feststellen, dass das zweite Auge verzichtbar ist und nur das Kranheitsrisiko erhöht. Also sollten wir es den Eltern freistellen, ein Auge ihrer Kinder nach der Geburt entfernen zu lassen? Spricht da jetzt wirklich nur das höhere OP-Risiko dagegen?

    Und natürlich haben Sie auch Recht, wenn sie feststellen, dass die Ausfälle, die mit der Entfernung der Vorhaut einhergehen, mit den Ausfällen identisch sind, die uns Männer im Alter sowieso treffen. Aber ich halte es für eine schlechte Begründung einer Erschießung, nur festzustellen, dass der Betreffende sowieso irgendwann gestorben wäre. Ich plädiere dafür, ihm ein Mitspracherecht über diese kleine Verkürzung einzuräumen.

    Das waren jetzt sehr bösartige Karikaturen ihrer Argumentation. Ich hoffe, Sie haben sie (und sich selbst) trotzdem wiedererkannt.

    Aber ich will Ihnen für Ihre Ehrlichkeit an einer anderen Stelle danken:
    „Auch die Verschiebung der Beschneidung auf ein Alter von 14 oder gar 18 Jahren ist meiner Meinung nach keine Alternative, weil sie (abgesehen vom Beschneidungstourismus) angesichts der höheren Risiken und der hohen psychologischen Schwelle praktisch fast einer Abschaffung der Beschneidung gleich käme.“
    Ich bin mir nicht sicher, ob das mit dem größeren Risiko wirklich stimmt, ich möchte nur auf eine andere Ebene dieser Aussage aufmerksam machen. Die Wichtigkeit der Beschneidung besteht, wenn ich Sie richtig verstehe, in ihrer Zeichenhaftigkeit Ihres persönlichen Vertrages mit Ihrem Gott. Aber was wäre dieser Vertrag, den man nicht selbst eingehen konnte, unter freien Menschen wert? Er erhält seine Gültigkeit nur unter der Zusatzbedingung der Leibeigenschaft des Kindes, die damit gleichzeitig transportiert wird.

    Oder sprechen Sie vielleicht wieder nur von den Handlungen und dem Vertrag der Eltern, der eben an einer andern Person, die sich in der Verfügungsgewalt der Eltern befindet, vollzogen wird? Auch diese Sicht transportiert die Leibeigenschaft.

    Aber eigentlich sollten wir uns einig sein, dass auch religiöse Freiheiten vor der Nase des Anderen enden und nicht erst dahinter. Das ist der erste Inhalt der Menschenrechte. Ich räume ausdrücklich ein (s.o. #66), dass auch wir erst dabei sind, den Zustand der Ignoranz gegenüber den Kinderrechten zu verlassen, dass also ein Grund zur Hochnäsigkeit nicht besteht, allerdings auch kein Grund, wieder in den alten Zustand zurückzufallen.

  60. Die Beiträge drehen sich um eine Frage mit drei Bedingungen herum

    1. Gibt es positive Gründe für die Beschneidung?
    Wenn ja, ist diese erlaubt und unterliegt der Entscheidung des Betroffen und vertretungsweise entsprechend Befugten.

    Positive Gründe sind:

    a. Ein medizinischer Grund, der im körperlichen Eigeninteresse des Betroffen liegt.
    b. Religiöse Gründe, die zum religiösen Wohl des Betroffenen beitragen.
    c. Soziale Gründe, die zur gesellschaftlichen Akzeptanz des Betroffenen beitragen.

    Alle anderen Gründe sind durch das Recht auf körperliche Unversehrtheit ausgeschlossen und deshalb „negative“ Gründe.

    Wenn man um die Antworten auf die drei Unterfragen streiten will, müsste man sich zunächst in deren Bezugsrahmen bewegen. Später können sich Verbindungen und Einflüsse ergeben, aber derzeit kommt es mir so vor, als würden die Fragen jeweils mit Argumenten aus den anderen Bereichen erstickt.

  61. @ #70 Abraham
    „Das Verständnis des religiösen Judentums ist es, dass der Bund Gottes mit Israel durch die Beschneidung vollzogen wird. Ohne den Eintritt in den Bund, so das überwiegende rabbinische Verständnis des Religionsrechts, kann ein Knabe z.B. nicht zur Tora gerufen werden (also auch nicht mit 13 seine Bar Mizwa feiern) oder an der Seder-Feier an Pessach aktiv teilnehmen. Er ist also an der vollen Ausübung der Religion gehindert.“ (Abraham)

    Das hieße übersetzt: Wenn die Eltern sich nicht fügen, bestrafen wir das Kind (aus religiöser Sicht). Soviel zum Thema freie Entscheidung.

    Aber ist das wirklich so, dass sie unbeschnittene Kinder auschließen?

    Ansonsten verweise ich auf den letzten Teil von #68

  62. @ Frank Wohlgemuth

    „Ich räume ausdrücklich ein (s.o. #66), dass auch wir erst dabei sind, den Zustand der Ignoranz gegenüber den Kinderrechten zu verlassen, dass also ein Grund zur Hochnäsigkeit nicht besteht, allerdings auch kein Grund, wieder in den alten Zustand zurückzufallen.“

    Ich finde das haben Sie sehr schön und treffend ausgedrückt.

    Dazu ist mir das Gedicht des libanesischen Dichters und Philosophen Khalil Gibran wieder eingefallen:

    Eure Kinder sind nicht eure Kinder.
    Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.
    Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,
    Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
    Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
    Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
    Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
    Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
    Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
    Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern.

    Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden.
    Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
    und Er spannt euch mit Seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.
    Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;
    Denn so wie Er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

  63. @Abraham: Berechtigungen brauche ich mir nicht zuteilen oder verweigern lassen. Ich beziehe mich auf genau den einen Satz, den Sie geschrieben und ich zitiert habe. Der reicht mir als Kern vollkommen aus, der Rest ist Herumgerede und Beschwichtigung. Das Recht der Eltern, über das vorgebliche Wohl ihrer Kindes zu entscheiden, halte ich für mehr als zweifelhaft, denn Kinder sind nicht totales Eigentum ihrer Eltern oder derer Glaubensgemeinschaften, sondern freie Individuen mit allen Grundrechten. Die gehen dem Elternrecht vor. Die irreversible körperliche Kennzeichnung und Zurechtstutzung, um ein Kind einer Religionsgemeinschaft als körperlich erkennbares Eigentum zuzuführen, ist ein Mißbrauch dieses Elternrechts.

  64. @Abraham #74
    “ Wie soll diese subjektive Einschätzung objektiv überprüft werden?“

    Zu Punkt 1, der medizinischen Indikation, könnte man den Meinungsstreit zumindest auf die Frage des „Lege artis“ https://de.wikipedia.org/wiki/Lege_artis reduzieren und so eine Klärung auf wissenschaftlichem Wege anstreben.

    Zu Punkt 2 könnte man sich darauf beschränken, die Gültigkeit, Berechtigung und Angemessenheit von religiösen Regeln zu diskutieren, ohne diese ständig mit den anderen Komponenten durcheinanderzuwerfen, um die „Freiheit“ im religiösen Zusammenhang zu betrachten.

    Bei Punkt 3 wäre es wichtig, die sozialen Komponenten zu betrachten, die letztlich die menschliche Seite der Freiheit oder Unfreiheit der Entscheidungen bedingen.

  65. @ #74 Abraham
    “Ich habe nicht festgestellt, dass „Ausfälle“ (gemeint sind sexuelle Probleme) „mit der Entfernung der Vorhaut einhergehen“, sondern dass für solche Probleme kaum die Beschneidung ursächlich ist, weil sie bei beschnittenen und unbeschnittetenen Männern wohl gleich häufig auftreten, und zwar nicht erst im Alter. Sie sollten schon genau lesen.“ (Abraham)

    Nicht alles, was ich weiß, weiß ich von Ihnen. In einer Statistik, die ich zu diesem Thema gesehen habe, ist nicht allgemein von Ausfällen die Rede, die durch die Beschneidung verursacht würden, sondern von Ausfällen die mit der Beschneidung früher und häufiger kommen. Derartige Phänomene sind häufig nur statistisch erfassbar, in tabuisierten Bereichen noch schwieriger als sonst.

    “Wenn Sie dabei sind, „den Zustand der Ignoranz gegenüber den Kinderrechten zu verlassen“, heißt das, dass Sie gesetzlich regulieren und durch Kindeswoh-Ämter überwachen wollen, ob Kinder vegetarisch oder vagan ernährt, homöopathisch behandelt, wie geimpft werden und welchen Sport sie treiben dürfen? “ (Abraham)

    Sie haben völlig Recht: Den Kindern ein Mitspracherecht über ihre körperliche Unversehrtheit einzuräumen, bedeutet, das Elternrecht zu schmälern. Allerdings ist es von der Sache her eine Lapalie gegen die Ächtung der Körperstrafe. (…)

    Passage gelöscht, Anm. Bronski

  66. @Abraham: Ihre Formulierungen sind und bleiben widersprüchlich. Einerseits pochen Sie darauf, daß Religionen sich nicht fremdbestimmen lassen müssen. Damit rechtfertigen Sie letztlich alles, auch Menschenopfer, wie ich bereits schrieb. Dann wiederum schreiben Sie, daß die Religionsfreiheit in einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung ihre Grenzen in den Grundrechten anderer findet. Na prima, dann ist das ja geklärt, die körperliche Unversehrtheit von Kindern hat Vorrang, bis sie in Eigenverantwortung entscheiden können – wie auch immer hergelaufene Experten die Grundrechte mit viel Geschwurbel verdrehen und verbiegen, damit es den Religionsgemeinschaften ins Geschäft paßt.

    Aber letztlich sind wir an dem Punkt angelangt, wo sich die Diskussion im Kreis dreht und wir uns nichts mehr zu sagen haben. Die Mitglieder von Religionsgemeinschaften ziehen sich im Zweifel immer in die Irrationalität ihres Glaubens, seiner Dogmata und seiner Rituale zurück und verteidigen deren Unhinterfragbarkeit und Absolutheit mit Zähnen und Klauen. Dem kann ich noch so viel Rationalität und Logik entgegenhalten, es ist zwecklos und den Titel der Diskussion kann ich nur als „250 Jahre Aufklärung waren offensichtlich vergeblich!“ formulieren.

  67. @Abraham

    Die Frage ist, ob die Unversehrtheit eines Kindes ein höheres Gut darstellt als jegliche Tradition.

    Die Frage stellt sich nicht nur für die jüdische und islamische, sie stellt sich auch für alle anderen Religionen, besonders für die christliche.
    Sie stellt sich letztlich aber auch für die „Rationalität und Logik“, auch für die Aufklärung und die wirtschaftlichen Realitäten, mit denen wir leben.

  68. @ Abraham, # 70
    Danke für Ihre Erläuterungen. Die Tradition guter Vorsätze, um einen Neuanfang möglichst unbelastet zu starten, hat offensichtlich seinen Sinn.
    Natürlich bin ich mir dessen bewusst, dass es auf eine komplexe Fragestellung keine einfache Antwort geben kann. Aber bei einem Problem, von dem, wie Sie meinen, die eigene Identität abhängt, wird man wohl auf den Grund gehen müssen. Und ich sehe auch Ihre redliche Bemühung. Als wichtig, um Fehldeutungen zu vermeiden, und soweit auch überzeugend halte ich vor allem Ihre Deutung vom „Bund Gottes mit Israel“ als „zusätzliche Aufgabe“, nicht als „Privileg“. Ich kann nur hoffen, dass dies nicht nur Ihre persönliche Sicht ist. Dennoch möchte ich auf Unbefriedigendes bzw. Missverständnisse verweisen:
    (1) „Die unterschiedliche Rituale zur Aufnahme in den Bund für Knaben (Beschneidung) und Mädchen (Namensgebung) empfinde ich nicht als sexistisch (…) Auch die jüdischen Richtungen, für die die Gleichheit der Geschlechter in allen religiösen Fragen konstitutiv ist, praktizieren diese unterschiedlichen Rituale.“
    – Ich habe den modernen Begriff „sexistisch“ bewusst vermieden, der in Anwendung auf eine völlig andere historische Situation wohl auch unangemessen ist. Ebenso wenig sehe ich darin eine Benachteiligung von Mädchen – eher umgekehrt. Verwirrend ist es aber allemal, wenn religiöse Praktiken und Rituale geschlechtsspezifisch sortiert werden.
    (Freilich ist da, etwa was die Frage des Priesteramts für Frauen angeht, die katholische Kirche noch um einiges dogmatischer. Hans Küng hat denn auch Johannes Paul II. auf seine kindische Begründung, Jesus habe nur Männer als Apostel gewählt, treffend geantwortet: „Aber ein Pole war auch nicht dabei.“ – Wobei man, bezogen auf den jetzigen Papst, „Pole“ getrost durch „Deutscher“ ersetzen darf.)
    – Der 2. Teil Ihrer Begründung trifft offenbar nicht zu. Zumindest die „humanistischen Juden“ lehnen aus eben den von mir genannten Gründen die „Brit Mila“ ab und verwenden für Jungen und Mädchen ähnliche Namensgebungszeremonien. Die haben also offenbar keine Probleme mit den wesentlichen vorgebrachten Einwänden und demnach auch keine Veranlassung, „antisemitische Einstellungen“ dahinter zu vermuten. Und genau in diesem Sinne habe ich es auch gemeint.
    – Was wäre gegen eine solche Praxis eigentlich einzuwenden? Haben die „humanistischen Juden“ keine „jüdische Identität“? Und sind sie also im Kern auch „Antisemiten“?
    (2) „Moses Mendelssohns Position ist weit komplexer, als es ein Wikipedia-Eintrag vermitteln kann, und es gibt zahlreiche andere Meinungen zu diesem Thema.“
    – Mir erscheint Moses Mendelssohns Äußerung von Offenbarung „durch Natur und Sache, nicht durch Wort oder Schrift“ ebenso eindeutig wie die Äußerung Herrn Graumanns. Auch ohne einen weiteren Kontext einzubeziehen, erscheinen diese Positionen unvereinbar. Unterschiedliche „Meinungen“ sind wohl zu dem Sachverhalt möglich, über den sie sich äußern, nicht aber zur Faktizität ihrer Äußerung selbst.
    Aufgeschlossenheit – so meine Kritik an der Position des Zentralrats der Juden – zeigt sich nicht im Hinweis auf mögliche andere Positionen (die man für sich selber ausschließt), sondern in der eigenen Praxis und zumindest der fairen Auseinandersetzung und dem gelten Lassen anderer Positionen ohne apodiktische Setzungen.
    Es wäre ja schon viel gewonnen, wenn die Schützengräben der Rechthaberei und Unterstellung unredlicher Motive verlassen würden und die Diskussion hier im Blog eben dazu beitragen könnte. In den Positionen eines Moses Mendelssohn wie auch der humanistischen Juden sehe ich dazu durchaus Ansätze, in den Verlautbarungen des Zentralrats der Juden bislang nicht.

    @ Anna,# 76
    Vielen Dank für das Gedicht von Khalil Gibran. Ich finde es nicht nur in seiner Bildhaftigkeit und Symbolik sehr beeindruckend, es führt m.E. auch zu einem wesentlichen Punkt dieser Debatte.
    Besonders der Vers „Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken“ drückt sehr schön aus, worum es m. E. auch bei dieser Diskussion im Kern hier geht: nicht um „Religionsfreiheit“, sondern um einen Dissens zwischen Positionen institutionalisierter „Religion“ und „Religiosität“. Letztere drückt eine persönliche Haltung zum Transzendenten aus, die, wie Frank Wohlgemuth treffend äußert, „vor der Nase des Andern endet“ (# 69). Erstere tendiert – und bei der Definition der Beschneidung als Zeichen des „Bunds Gottes mit dem VOLK Israel“ ganz explizit – auf Extension, auf Überindividuelles. Ein solches Verständnis beinhaltet notwendigerweise das Eingreifen in „Gedanken“ und „Seelen“ derer, die selbst noch nicht mündig sind. Nach einem seit der Aufklärung eingebürgerten Religionsverständnis bedeutet dies also eine Grenzüberschreitung, die es in Konflikt bringt mit der Anerkenntnis individueller Integrität, gerade auch für Unmündige.
    Mir scheint, dass es nicht nur die lange „Tradition“ ist, die diesen Dialog so schwer macht, sondern auch das Verwobensein von religiösen Gefühlen mit (gelenktem) Traditionsverständnis, Erziehungsfragen und vielem mehr. Einzelne Positionen in Frage zu stellen, löst so gleich Bedrohungsgefühle und Abwehrhaltungen aus, hier natürlich verstärkt durch eine historisch bedingte (und von manchen auch gepflegte) „Opferrolle“.
    Vielleicht bewirkt hier Dichtung, der man nicht gleich das Etikett des „Antireligiösen“ anhängen kann, wirklich mehr.

  69. @ #79 Abraham – dieser Beitrag ist leider etwas länger geworden

    “Falls Sie sich damit auf die von Beschneidungsgegnern genannten Studien beziehen, zweifle ich deren Aussagekraft sehr an. Siehe dazu meinen früheren Beitrag http://www.frblog.de/beschneidung-2/#comment-37903. “
    Ich weiß es nicht mehr genau, ich merke mir meistens nur Zusammenhänge, und keinen Namen. Aber um ihnen keinen Antwort schuldig zu bleiben, eine kurze Suche bringt Folgendes: Es gibt eine dänische Befragung von ca. 5000 Leuten, die in diese Richtung zielt (Frisch M, Lindholm M, Grønbæk M. Male circumcision and sexual function in men and women: a survey-based, cross-sectional study in Denmark ), es gibt eine amerikanische Untersuchung zur Sensibilität des Penis, die in diese Richtung geht (Sorrells ML, Snyder JL, Reiss MD, et al. Fine-touch pressure thresholds in the adult penis. BJU Int 2007;99:864-9 ) und noch eine weitere amerikanische Untersuchung eines benachbarten Themas, die auch dieses Ergebnis quasi als Beifang über die Häufigkeit der Benutzung erektionsfördnernder Medikamente transportiert (Dan Bollinger, Robert S. Van Howe : Alexithymia and Circumcision Trauma: A Preliminary Investigation) . Da kommen wir zum eigentlichen Kernpunkt – ich habe aus Versehen mal Biologie studiert: Homo sapiens hat ein komplexes Sexualverhalten, dessen männliche finale Aktion beim Zeugungsvorgang, die Ejakulation, mindestens so stark emotional gesteuert wird, wie über die beteiligte Sensorik. Schon allein die Existenz der Ejaculatio praecox zeigt diese Situation. Praktisch ist es also möglich, einen Verlust an Sensibilität durch eine Steigerung der Erregung auszugleichen, ohne am Endeffekt etwas zu ändern. Aber was ist z.B. mit zunehmendem Alter, langanhaltenden Beziehungen, deren Begegnungen stärker über das Oxytocin gesteuert werden als über das Testosteron? Der Gedanke, man könne am männlichen Geschlechtsteil einen großen Teil des beteiligten sensiblen Gewebes entfernen, und zusätzlich noch die Sensibilität im verbleibenden Restgewebe dadurch verringern, dass man die natürliche Schleimhaut zur „normalen“ Haut austrocknet, ohne dass das alles messbare Folgen sowohl im Sexualverhalten selbst als auch in den Möglichkeiten dazu hätte, ist von der Sache her ähnlich absurd, wie der Gedanke, das sensible Gewebe der Vorhaut mit seiner empfindlichen Schleimhaut hätte nur dem Schutz des Penis beim Klettern in den Bäumen gedient, wie der Mediziner und Beschneidungsspezialist Işik locker schwadroniert. Und für diese Feststellung brauche ich als Biologe keine einzige dieser Veröffentlichungen. Die sind nur der Hinweis an Sie, Abraham, dass die Mediziner beim genauen Hingucken in der Realität auch tatsächlich finden, was man sinnvollerweise schon vorher erwarten konnte.

    Und von diesem Punkt einmal zu den Kriterien zur Bewertung wissenschaftlicher Aussagen: Wann ist es sinnvoll, diese zu bezweifeln? Politisch üblich ist der öffentliche Zweifel, wenn jemand eine andere als die gewünschte Aussage macht. Unter Wissenschaftlern ist die Schwelle da etwas höher. Brian Earp weist in seiner Blog-Kritik zum AAP-Report auf innnere Widersprüche, fehlende Daten in der Gesamtsicht und offensichtlich falsche Einordnung der Datenqualität ausgerechnet der Daten hin, die die AAP zur Änderung ihrer früheren Aussagen bewogen haben sollen. Erst wenn soetwas sichtbar ist, lohnt es sich nach den Ursachen der bemängelten Schräglage zu forschen, die auch in den beteiligten Personen liegen können, zum Beispiel in kommerziellen Interessen von Personen, die ihren Lebensunterhalt zu einem erheblichen Anteil mit der Ausübung der untersuchten Tätigkeit bestreiten. Dabei braucht man gar nicht von Absicht auszugehen, wir neigen dazu, Bedrohliches auszublenden oder zu verdrängen.

    An der Stelle kommen wir aber auch ganz zwanglos zu einem wahrscheinlich erheblich wesentlicheren Hintergrund für persönliche Wahrnehmungsdefizite. Wir haben es hier mit einem in der Summe sehr schmerzhaften Eingriff zu tun, bei dem – abgesehen vom Vertrauensbruch gegenüber dem Kind – gar nicht der Eingriff die besonderen Schmerzen auslöst, sondern die Heilung. Wenn man Nervengewebe kurz durchtrennt, ist der Schmerz relativ klein. Das muss nicht einmal ein besonders sauberer Schnitt sein, meine letzte eigene Erfahrung zu diesem Thema war das Wegfräsen einer Fingerspitze mit einer Kreissäge. Meine Frau war von der Schweinerei erheblich stärker mitgenommen als ich, ich bin auch selbst mit dem Auto ins Krankenhaus gefahren. Die Schmerzen kamen am nächsten Tag nach der OP und hielten eine Woche an. Aber diese Schmerzen will ich gar nicht weiter thematisieren, sondern was das Kind daraus macht: Spätestens seit Alice Miller („Du sollst nicht merken“) ist folgender Zusammenhang eigentlich überall bekannt: Eltern sowohl als Person als auch in ihrer Annahme durch das Kind sind die zwingende Voraussetzung für jedes Kind, und das ist etwas, was ins Unbewusste übernommen wird. Deshalb dürfen schlechte Erlebnisse durch die Eltern nicht als solche wahrgenommen werden, und werden, wenn es sich um rituelle Erfahrungen handelt, an den eigenen Kindern perpetuiert, weil bereits die Unterlassung als Kritik an den Eltern und damit als existenzbedrohend wahrgenommen wird. Ein „wunderschönes“ Beispiel zu diesem Thema ist der Widerstand der Mütter in den betreffenden Gesellschaften, mit der Beschneidung der Töchter aufzuhören, die übrigens auch dann von allen (außer den Betroffenen) Verstümmelung genannt wird, wenn sie medizinisch und funktional mit der Zirkumzision bei Jungen identisch ist (Typ 1).

    Was, Abraham, macht Sie so sicher, nicht unter dieser Wahrnehmungsschwäche zu leiden? Ich habe mir den älteren Beitrag von Ihnen, auf den Sie verwiesen, nocheinmal angesehen und fand darin Folgendes:
    “Laut der Statistik der jüdischen Zentralorganisation in Großbritannien, dem „Bord of Deputies“, dem alle (jüdischen) Beschneidungen gemeldet werden, kommt es bei 0,5 % der Erwachsenen und 1 % der Babys nach der Beschneidung zu Komplikationen, wobei nur bei jeder 400. Beschneidung eine medizinische Maßnahme (Stillen der Blutung, Verabreichung einer Salbe gegen Entzündung) notwendig ist.“ (Abraham http://www.frblog.de/beschneidung-2/#comment-37903 )
    In diesem Thread hier steht Folgendes:
    “Auch die Verschiebung der Beschneidung auf ein Alter von 14 oder gar 18 Jahren ist meiner Meinung nach keine Alternative, weil sie (abgesehen vom Beschneidungstourismus) angesichts der höheren Risiken und der hohen psychologischen Schwelle praktisch fast einer Abschaffung der Beschneidung gleich käme. “ (Abraham #64)
    Wo kommt dieses hohe Risiko plötzlich her? Da kommt mir zuerst Pippi Langstrumpf in den Sinn: “Ich mach‘ mir die Welt Widdewidde wie sie mir gefällt … “, aber das ist es nicht, es müsste heißen “wie ich sie brauche.“

    Zum Thema Selbstwahrnehmung gehört auch Folgendes:
    “Wenn Sie glauben, ich würde “als furchtloser Ritter mit gezücktem Beschneidungsmesser am Eichelkranz des Sohnes die Freiheit der Eltern gegen den Überwachungsstaat” verteidigen, dann kann ich Sie auch nicht Ernst nehmen.“ (Abraham #79)

    Tun Sie das nicht? Folgende Frage ist nur sehr schwer anders zu verstehen als eine direkte Verknüpfung des Beschneidungsverbotes mit einem Überwachungsstaat:
    “Wenn Sie dabei sind, „den Zustand der Ignoranz gegenüber den Kinderrechten zu verlassen“, heißt das, dass Sie gesetzlich regulieren und durch Kindeswoh-Ämter überwachen wollen, ob Kinder vegetarisch oder vagan ernährt, homöopathisch behandelt, wie geimpft werden und welchen Sport sie treiben dürfen? “ (Abraham #74)

  70. @ Werner Engelmann #86
    “Vielen Dank für das Gedicht von Khalil Gibran. Ich finde es nicht nur in seiner Bildhaftigkeit und Symbolik sehr beeindruckend, es führt m.E. auch zu einem wesentlichen Punkt dieser Debatte.
    Besonders der Vers „Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken“ drückt sehr schön aus, worum es m. E. auch bei dieser Diskussion im Kern hier geht: nicht um „Religionsfreiheit“, sondern um einen Dissens zwischen Positionen institutionalisierter „Religion“ und „Religiosität“. Letztere drückt eine persönliche Haltung zum Transzendenten aus, die, wie Frank Wohlgemuth treffend äußert, „vor der Nase des Andern endet“ (# 69). Erstere tendiert – und bei der Definition der Beschneidung als Zeichen des „Bunds Gottes mit dem VOLK Israel“ ganz explizit – auf Extension, auf Überindividuelles. Ein solches Verständnis beinhaltet notwendigerweise das Eingreifen in „Gedanken“ und „Seelen“ derer, die selbst noch nicht mündig sind. Nach einem seit der Aufklärung eingebürgerten Religionsverständnis bedeutet dies also eine Grenzüberschreitung, die es in Konflikt bringt mit der Anerkenntnis individueller Integrität, gerade auch für Unmündige. …“

    Hier war ich zwar nicht der Adressat, ich antworte aber, weil ich auch zitiert werde.

    Ich meinte meine Nase sehr direkt, sehr körperlich, die Formulierung stammt auch nicht von mir, sondern von dem amerikanischen Rechtsphilosophen Z. Chafee und lautet wörtlich “Your right to swing your arms ends just where the other man’s nose begins.“

    Das Gedicht von Khalil Gibran ist eine sehr schöne Mahnung an uns Eltern, uns etwas zurückzunehmen und Freiraum zu geben, aber sollte nicht überstrapaziert werden. Trotz aller Eigenständigkeit der Kinder entstehen diese erst durch ihr Zusammenspiel mit ihrer Umgebung, an erster Stelle sind das ihre Eltern, von denen sie die Sprache und damit die wesentlichen Bestandteile ihrer Welt übernehmen. Wenn Eltern nicht selbst in einer Welt der Lüge leben, ist es für sie unmöglich, ihrem Kind das, was sie für wichtig halten, vorzuenthalten. Ich kann meinem Kind keine Sprache geben und von mir erzählen, ohne in sein Inneres einzugreifen, weil dieses Innere erst in diesem Kontakt zu mir entsteht. Was wir aber machen sollten, und so würde ich auch Khalil Gibrans Gedicht verstehen wollen, wir sollten dabei unsere Welt als Angebot verstehen, weniger als Aufforderung und schon gar nicht als Gebot.

    Den Körper des Kindes zu kennzeichnen ist damit allerdings ganz weit außerhalb des für mich möglichen. Dass ich ihn dagegen im Inneren kennzeichne, und zwangsläufig nicht immer nur positiv, Millers Feststellung trifft auf alle von uns zu, ist nicht zu vermeiden. Auch Eltern sind Menschen.

  71. @ all

    Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass in diesem Thread plötzlich einige Kommentare fehlen. Abraham hat mich gebeten, seine Beiträge zu löschen. Seine Argumente können jetzt leider nur noch den verbliebenen Kommentaren der anderen Diskutanten entnommen werden.

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