Das Wort „Gerechtigkeit“ im Munde

Peer Steinbrück ist nun auch offiziell zum Kanzlerkandidaten gekürt worden. Der SPD-Parteitag am vergangenen Wochenende wählte ihn mit 93,5 Prozent und spendete anschließend elf Minuten lang Beifall. Der Kandidat ließ sich feiern – und hatte diesen Erfolg auch verdient, denn zuvor hatte er eine rund zweistündige, mitreißende Rede gehalten und ist unverkennbar näher an seine Partei gerückt, die SPD, die ihn keineswegs uneingeschränkt liebt. Aber sie unterstützt ihn. Reden kann er ja, das ist unbestritten. Und die Politik braucht solche rhetorischen Talente dringend. Wäre nur schön, wenn es nicht bei der Rhetorik bliebe.

Zwei Stunden hat er geredet. Hat klargemacht, dass er für eine Große Koalition nicht zu haben sei. Hat die Vortragshonorare, die er zuvor nur zögerlich öffentlich gemacht hatte, als Wackersteine bezeichnet und dann auch gleich wieder zum Angriff auf die beste Regierung geblasen, die dieses Land laut Kanzlerin Merkel je hatte: „Tatsächlich blendet die Bundesregierung die Realität aus; es ist ungefähr so, als ob im Winter jemand vor der Strandmotiv-Tapete steht und sich mit Sonnenmilch einreibt.“ Hat reinen Wein eingeschenkt: „Die Zeiten sind stürmisch. Die Krise in Europa wird ab dem kommenden Jahr auch Deutschland erreichen; machen wir uns also nichts vor: Es wird kein leichtes Regieren in den kommenden Jahren.“ Und er hat gesagt: „Deutschland braucht wieder mehr WIR und weniger ICH. Miteinander können wir eben mehr!“

Wie wahr. Man möchte ebenfalls applaudieren. Vielleicht keine elf Minuten, aber vielleicht zwei oder drei. So ein bisschen Sozi-Nestwärme tut doch irgendwie gut. Wenn das Gesagte nur glaubhaft wäre aus eben diesem begabtem Rednermund! Warum man daran Zweifel haben kann, das beschreibt der erste Leserbrief von Reiner Fröhlich aus Kierspe:

„Im Jahre 1982 hat Helmut Schmidt als Bundeskanzler die sozialliberale Koalition platzen lassen, weil Otto Graf Lambsdorff vom Koalitionspartner FDP ein für Schmidt unannehmbares Papier aufgestellt hatte. Die FDP wollte die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik radikal in Richtung Neoliberalismus à la Thatcher verändern. Schmidt stand als Fels dagegen und wurde von der FDP gestürzt.
In den 16 Jahren der CDU mit der FDP hat sich Helmut Kohl nur stückchenweise auf diesen von der FDP geforderten Kurs eingelassen. Er traute sich nicht mehr, wegen des erwartbaren Aufschreis der damaligen Volkspartei SPD. Erst Gerhard Schröder, der gegen das Parteiprogramm der SPD von oben putschte, zog mit seiner Agenda 2010 das Lambsdorff-Papier in voller Härte durch: „Verbilligung“ des Faktors Arbeit, „Begrenzung“ des Arbeitslosengeldbezuges auf maximal ein Jahr, Anhebung der Altersgrenze für Rente (1982 gab es noch kein „demografisches“ Problem, da hieß es: längeres Lebensalter), Senkung von Körperschaftssteuer und Spitzensteuersatz, Ausbau der „Selbstbeteiligung“ im Krankenversicherungsbereich. Natürlich unterstützten und trieben ihn Frau Merkel und Herr Westerwelle. Der „Modernisierer“ Peer Steinbrück war dabei einer der kühnsten Recken, der unter Merkel in gleicher Richtung weitermarschierte (von ein paar Kosmetika für die „Alten“ aus der SPD abgesehen).
Wenn Helmut Schmidt nun diesen Peer Steinbrück massiv unterstützt, muss man sich fragen: Raucht der jetzt Joints, damit er nicht mehr an seine Grundüberzeugungen von 1982 denkt? Es gab 1998 (Wahlprogramm der damaligen SPD) und es gibt heute Konzepte, die auch in einer neoliberalen Großwetterlage der Welt dagegensteuern und das Wort „Gerechtigkeit“ nicht nur im Munde führen.“

Roland Klose aus Bad Fredeburg:

„In Doha wird Peter Altmaier und das Kyoto-Protokoll recycelt, in Rom wird „Bunga Bunga“-Berlusconi für Bella Italia recycelt und in Hannover wird Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt in Gestalt von Peer Steinbrück recycelt. (S)Peer und Er. Recycling lebt vom Mitmachen. Oder werfen wir nicht doch besser wieder alles in die schwarze CDU-Tonne?“

Rasmus Ph. Helt aus Hamburg:

„Die Reaktionen aus der CDU zeugen davon, dass man den Spitzenkandidaten der SPD gewaltig unterschätzt. Denn erstens kann Peer Steinbrück auch beim Thema Europa punkten, da ein ausgewiesener Ökonom hierbei hohe Glaubwürdigkeit genießt und sich anhand des Beispiels Griechenland deutlich Angela Merkels fehlendes Gerechtigkeitsverständnis aufzeigen lässt. Und zweitens liegt gerade in der Tatsache, dass – wie es Baden-Württembergs CDU-Chef Thomas Strobl richtigerweise vermerkt – Rot-Grün eine ganz andere Finanz- und Wirtschaftspolitik vertritt, das wohl beste Argument, um die Gunst vieler Wähler zu bekommen. Da Steuererhöhungen für mehr Investitionen in die Bildung oder ins Pflegewesen einen deutlich größeren Anklang finden dürften als eine visionslose bürgerliche Besitzstandswahrung. Weswegen vor der SPD eine große Chance liegt, wenn sie sich nicht in den Winterschlaf verabschiedet, sondern von sofort an auf Angriff spielt!“

Dr. Jörg Mutschler aus Naila:

„Der Millionär gibt den Linkspopulisten, wer soll das schlucken? Durch seine Arroganz und Unbeherrschtheit ist er (auch) dem Ausland als Kanzler definitiv nicht vermittelbar. Spätestens im Sommer 2013 wird „Mutti“ Kraft an seine Stelle treten, da die Sozis bis dahin begriffen haben, dass sie mit Herrn S. keine Chance haben!“

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9 Kommentare zu “Das Wort „Gerechtigkeit“ im Munde

  1. Ich habe gerade das Politbarometer im ZDF gesehen und dann hier gelesen. Es zeichnet sich ein Wahlsieg von schwarz/ gelb ab, da es wohl nicht möglich ist die leute die das nicht wollen zu vereinen. Man muß sich nur fragen ob eine solche Diskussion auf der rechten Seite möglich wäre.Die stehen im September klar auf Linie und geben der FDP ein paar Leihstimmen dann reichts wieder. Ich glaube vielen eher links stehenden ist das ganz recht so, denn dann hat man wieder für 4 Jahre ein unkomplziertes Feindbld.Wobei ich schon auch sagen muß das die Regierung Schröder eine ziemliche Entäuschung war.Allerdings geht immer wieder zu sehr unter das der Gesetzgeber in dieser Zeit der Vermittlungsausschuss war.

  2. Nee, dieser Steinbrück geht mir, pardon, am Allerwertesten vorbei. Das ist die rosa lackierte Ausgabe der seitherigen CDU/FDP-Politik. Weiter so mit den Hartz-Gesetzen, weiter mit Armutslöhnen, Armutsrenten (auch die Verhohnepipelung mit den Betriebsrenten). Leiharbeit, Scheinselbständigen und und und. Natürlich auch der weiteren Spreizung und dem Auseinander-Driften unserer Gesellschaft in unten und oben. Mag sein, daß hier einige Mittelschichtler sich von der Redegewandheit des Peer einseifen lassen. Aber wer die Geschichte der SPD kennt, der wird wieder sagen: Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Das alte Lied, und das alte Spiel. Für die Arbeiter, Angestellten und Rentner singt man: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Und im Hinterzimmer stimmt man dann die Songs der Arbeitgeber und der Vermögenden an, nach dem Motto: Jeder ist seines Glückes Schmied, und für sein Unglück können wir nix.

    Bleibt nur zu befürchten, daß sich wieder so viele einlullen lassen, daß es dann wieder nur zur Großen Koalition reicht. (Was wahrscheinlich Steinbrück & Co. gelegen käme – dann lägen die Entschuldigungen für nicht ausgeführte Wahlversprechen prima parat, und kuscheln läßt es sich mit der CDU noch besser als mit den Grünen). Wäre das dann eine Alternative, rot-grun? Würde es rot-grün schaffen, erhielten wir nur wieder eine Neuauflage der Jahre zwischen 1998 und 2005. Austeritätspolitik gilt ja immer nur für die unten – wer nix mehr zu beißen hat, merkt es kaum, wenn die Brötchen kleiner werden. Wer glaubt, bei rot-grün würde sich bei Sozial- und Familien-Politik, Umwelt- und Friedens-Politik, Gesellschafts- und Bildungs-Politik, Verkehrs- und Kultur-Politik außer Marginalien etwas ändern, der glaubt auch an den Weihnachtsmann. Man muß sich nur die Abstimmungen und das entsprechende Verhalten von SPD und Grünen in den letzten Jahren im Bundestag betrachten.

    Leider lockt die Linkspartei, trotz guter Ideen, mit ihrem derzeitigen Führungspersonal nicht besonders all die, welche in die Wahlenthaltung abtauchen werden, an die Wahlurnen – auch wenn Gysi im Redetalent Steinbrück nicht nachsteht. Meine Befürchtung ist die, das, nach dem Beispiel anderer europäischer Länder, bei einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise im Land in 2013 (nach dem Beispiel der frühen 30er Jahre) sich eine Mehrheit des Volkes eher sich dann Rechtspopulisten zuwenden wird. Und das die Rechte immer schon mit den Großvermögen paktiert, und diesen zuarbeitet, müßte bekannt sein. Nur – die menschliche Dummheit stirbt nicht aus.

  3. Ob die SPD wirklich wieder in eine große Koalition geht? Das Ergebniss könnte leicht sein das sie sich dann die 20% von unten ansehen kann und das wissen sie diesesmal.Wenn Niedersachsen wie derzeit vorher gesagt ausgeht und Hessen wie zu erwarten könnte man auch eine rot/grüne Minderheitsregierung die sich auf eine Bundesratsmehrheit stützt nicht ausschließen.Es wird spannend sein zu beobachten ob die SPD für die Teilhabe an der Macht bereit ist Selbstmord zu begehen,wobei mehrere Arten von Selbstmord möglich sind.
    zu@ Wolfgang Fladung
    Warum wundert mich nicht ein Wort ihres Beitrags?

  4. Ist die beängstigend verwirrte Einschätzung des Dr Mutschler jetzt nur dem Umstand geschuldet, daß die Grenze des ehemaligen Tals der Ahnungslosen jetzt nur weiter nach Westen verlagert ist?
    Stimmt es, daß in Naila auch heute noch Feldpostpäckchen abgeschickt werden und verschanzte Bürgerwehren mit Dreschflegeln so lange ausharren wollen, bis der Kaiser neue Truppen zur Verstärkung schickt?

    Man sollte vielleicht ´mal eine Brieftaube auf den Weg nach Naila schicken, um den Bewohnern dort Nachrichten über den aktuellen Stand der Politik und Zukunftsvisionen über Deutschland zu überbringen.

  5. Wer kennt denn einen besseren Kandidaten als Peer Steinbrück für die SPD ? Wer würde denn mehr Prozentpunkte einfahren ? Namen, bitte !
    Hannelore Kraft kann es nicht sein, das große Loch „Wortbruch“ würde sie gnadenlos verschlingen.

  6. „(S)Peer und Er.“

    Wie treffend…

    @ maderholz

    Das ist das Tragische für die SPD , es gibt tatsächlich keinen , ders wirklich bringt.
    Liegt aber vor allem daran , daß sich die SPD seit langen Jahren an den neoliberalen Zeitgeist anbiedert.

    Nach 89 hätte man denken können , der große Gewinner des realsozialistischen Zusammenbruchs sei die Sozialdemokratie , hat sie doch – wenigstens theoretisch – immer eine Art dritten Wegs gesucht.

    Pustekuchen , keine politische Kraft wurde so in ihrer Substanz zerstört , und hat das nicht zuletzt auch selber betrieben , wie die Sozialdemokratie , keinesfalls nur in Deutschland , die Entwicklung ist im ganzen Westen zu beobachten.

    @ Wolfgang Fladung

    In der Tat , bestes Futter für eventuelle Rechtspopulisten.

    Willkommen in einer Art Lightversion der 30er-Jahre.

  7. Natürlich wäre Frau Kraft – rein theoretisch – die bessere Kandidatin, die auch der SPD mehr Stimmen bringen würde. Aber sie weiß natürlich, das sie im Wort steht. Und ich halte sie auch für so klug, das sie sich diese Kandidatur – auch ohne „Wort“ – nicht antun würde. Das überläßt sie dem „Alphatier“ Steinbrück. Viele, mit denen ich geredet habe, sagen: Nee, Steinbrück, dann lieber das Original Merkel. Und wenn es eine GroKo-Neuauflage gibt, dann kommt Steinbrück sowieso wieder, wie das Springteufelchen, als Finanzminister. Hat ja auch damals prima geklappt. Wenn die SPD nicht begreift, daß sie deutschlandweit nur sozialpolitisch punkten kann, und es Zeit wäre, die meisten Agenda-2010-Gesetze in den Orkus zu treten, dann geschieht es ihr Recht, wenn sie wieder unter 30% landet. Rein theoretisch gäbe es ja die Möglichkeit rot-lila-grün anzugehen, aber da legt man sich lieber mit den Neoliberalen der FDP in einer Ampel in die Koje (sofern diese die 5%-Hürde wuppt).

    Also, CDU 38 – 40% mit Angela, und der Peer dann wohl, wenn’s hoch kommt, so 28%. Und wenn dann die Grünen nicht noch gewaltig zulegen, reicht es nicht zum rot-grünen Regieren – da nutzen auch die verbalen Klimmzüge und das Kreidefressen nix!

    Die SPD hat eben den Kandidaten, den sie verdient, gekürt.

  8. Die SPD hat es schlicht versäumt, sich rundzuerneuern. Angegfangen mit der skandalösen Selbsternennung von Steinmeyer zum Fraktionschef nach einer auch und vor allem von ihm zu verantwortenden Wahlschlappe hat die SPD offensichtlich nicht begriffen, in welche Richtung die Wähler geflüchtet sind. Steinbrück wird sie nicht zurück holen. Es wird wohl wieder eine große Koalition unter Mutti. Ohne Steinbrück? Die Botschaft hör´ich wohl – allein, es fehlt der Glaube!

  9. Nicht das ich falsch verstanden werde, mit der FDP des Freiburger Programms von 1971 könnte ich recht gut leben, und mit solchen Menschen wie Hirsch, Baum und Flach. Habe damals als junger Mann sogar mein Kreuz mal dort gemacht. Nur, damals galt noch, das zur persönlichen Verantwortung auch die für Fehler und deren bittere Folgen dazu gehörte. Übersetzt also: wer sich verzockt, muß auch die Folgen tragen, und nicht direkt – oder indirekt über seine Bank – nach dem Staat und damit der Rettung rufen. Ordoliberal ist eben was Anderes als neoliberal. Scheibner würde sagen und singen (zum Unterschied zwischen beiden Richtungen): das macht doch nix, das merkt doch keiner.

    Natürlich gehört dazu auch die allgemeine Korruption, siehe derzeit Deutsche Bank, und mal kurz ein Anruf oben, oder die ganzen Jahrzehnte mit jüdischen Vermächtnissen, geschassten Steuerfahndern, wohlfeilen Pöstchen nach dem Politik-Abschied und Ausstieg (gilt für alle Parteien). Womit wir wieder bei der SPD wären: das Verhalten von Steinbrück oder Schröder – wäre das für Willy Brandt ebenfalls denkbar gewesen? Und daher verstehe ich nicht, oder nur aus wohlfeilem Mitnahme-Interesse heraus, warum immer noch so viele um das Goldene Kalb Steinbrück herum tanzen. Ich hatte es vor Jahren schon einmal beschrieben: Dieser hehre Satz der Väter und wenigen Mütter unseres tollen Grundgesetzes, das „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll dem Wohle der Allgemeinheit dienen“, ist inzwischen zur leeren, hohlen, Worthülse verkommen, welche bestenfalls noch durch persönliche Bank-, Steuer- oder Rechtsberater individuell gefüllt wird.

    Na dann, gut Nacht, Sannsche.

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