Blogtalk: Zwei sehr unterschiedliche Zeitzeugen

ankunft-nach-fluchtIm Zuge des Projekts „Ankunft nach Flucht“ ergeben sich manchmal Kontakte zwischen FR-Leserinnen und -Lesern. Von einem solchen soll hier die Rede sein. Leser Josef Ullrich ist im Beitrag „Auf den Neuanfang kam es an“ (Veröffentlichung im Print-Leserforum am 20. August 2016) von Karl Pfeil über die Tatsache gestolpert, dass dessen Mutter vom Massaker von Aussig (31.7.1945) indirekt betroffen war. Herr Pfeil hatte über seine Mutter geschrieben:

„Elisabeth war gerade mal 25 Jahre jung als sie 1945 ihre Heimat  verlassen musste. Sie musste fliehen, denn sie wurde vertrieben. Ein Opfer der Beneš-Dekrete. Ein Opfer des Aussig-Massakers. Elisabeth blieb keine Zeit mehr. Sie musste lieb gewonnene Dinge zurücklassen. Nur das Nötigste befand sich im verbeulten Koffer.“

Herr Ullrich stammt aus derselben Gegend, die er 1948 verlassen hatte. Auch er hat einen Beitrag zu „Ankunft nach Flucht“ geliefert: „Die Anpassung war für mich nicht einfach“ (Veröffentlichung im Print-Leserforum vom 19. Dezember 2015).Er hatte geschrieben:

„Unsere Familie hätte wegen ihrer Anerkennung als Antifaschisten in Aussig/Elbe (heute Usti nad Laben) bleiben können. In den Beneš-Dekreten waren wir von der Vertreibung ausgenommen. Mein Vater wurde nämlich als Sozialdemokrat 1938 von den Nazis inhaftiert. Ich war gerade vier Wochen alt. 1948 wurde ihm jedoch von den Tschechen dieser Status wieder aberkannt. So kam auch für uns die Einsicht, dass es für die verbliebenen Deutschen keine Perspektiven in der neuen Tschechoslowakei gab.“

Joseph Ullrich richtete über das FR-Blog die Frage an Herrn Pfeil, wo dessen Mutter im Sudentenland gelebt hatte. So hat „Ankunft nach Flucht“ mit seinen Zeitzeugenberichten zu einem Kontakt in der Gegenwart geführt. Über diesen Kontakt möchte ich mit den beiden in einem Blogtalk unterhalten.

Zwei sehr unterschiedliche Zeitzeugen

Josef Ullrich 2Karl PfeilJosef Ullrich (links) ist Jahrgang 1938 und lebt in Frankfurt. Er ist seit 50 Jahren verheiratet, hat einen Sohn und zwei Enkel und ist Autor des Buches „Bei uns war es anders“. Karl Pfeil (rechts) aus Rabenau zeichnete die Geschichte seiner Mutter nach deren Bericht auf. Er ist Jahrgang 1947. Bilder: privat.

Zwei sehr unterschiedliche Flucht- und Ankunftsberichte. Zwei sehr unterschiedliche Zeitzeugen. Einer ist vor dem Krieg geboren, der andere gehört schon zur Nachkriegsgeneration, doch der Altersunterschied zwischen ihnen beträgt nur neun Jahre. Der eine hat eigene Erinnerungen unter anderem an seine Schulzeit im Sudetenland, der andere kennt die Heimat seiner Mutter nur aus deren Erzählungen. Ich bin sehr gespannt auf diesen Blogtalk.

Start: Montag, 16. Januar, gegen 10:30 Uhr

Bei Blogtalks im FR-Blog gilt diesmal wie sonst auch: Jeder kann mitreden und Fragen stellen. Unter Umständen veröffentliche ich Ihre Fragen bzw. Beiträge nicht sofort, doch keine Sorge: Sie werden nicht übergangen, sondern nur auf einen Zeitpunkt verschoben, an dem sie voraussichtlich besser in den Gesprächsverlauf passen.

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85 Kommentare zu “Blogtalk: Zwei sehr unterschiedliche Zeitzeugen

  1. Herzlich willkommen zum ersten Blogtalk des Jahres 2017 auf FR-Blog. Ich möchte mich heute und an den kommenden Tagen mit zwei Menschen unterhalten, die auf gewisse Weise Experten zum Thema Flucht und Integration sind: Josef Ullrich aus Frankfurt und Karl Pfeil aus Rabenau. Beide sind FR-Leser, beide haben Beiträge zum FR-Projekt „Ankunft nach Flucht“ geleistet, die veröffentlicht wurden. Herzlich willkommen, die Herren, und einen schönen guten Morgen! Wie finden Sie es, als „Experten zum Thema Flucht und Integration“ bezeichnet zu werden?

  2. Zunächst danke ich für das Interesse an meiner Familiengeschichte, die ja etwas abweicht von den üblichen Vertreibungserlebnissen. Für mich als 10jährigen war es 1948 mehr Abenteuer als Flucht – der Grenzübertritt im duklen Wald bei Asch. Aus politischen Gründen hätte nämlich unsere Familie in der Tschechoslowakei bleiben können. Unsere Übersiedlung war daher halb Vertreibung halb Ausreise.

  3. Diese Wahrnehmung – mehr Abenteuer als Flucht – teilen Sie mit anderen Autorinnen und Autoren der „Ankunft nach Flucht“-Serie. Ich würde sagen, es spricht für die begleitenden Erwachsenen, dass der Ernst der Lage nicht völlig auf Sie durchgeschlagen ist, oder?

  4. @ all

    Kurz was Organisatorisches: Wenn Sie längere Kommentare schreiben – wovon ich Sie keinesfalls abhalten möchte -, kann es passieren, dass unterhalb des Kommentarfeldes die Mitteilung „Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.“ erscheint. Klicken Sie dann einfach auf das kreisförmige Pfeilsymbol und lassen Sie sich eine neue Rechenaufgabe geben, bevor Sie den Kommentar abschicken. Dann sollte eigentlich alles klappen.

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  5. Guten Morgen,
    na ja, ganz ehrlich: Es ist zwar ehrenhaft als Experte für ein spezielles Thema bezeichnet zu werden, aber als Experte hierfür sehe ich mich dennoch nicht, da dies ja eine noch tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Thematik erforderlich machen würde. Was meinen Beitrag betrifft, so habe ich die Erzählungen meiner Mutter wiedergegeben.

  6. Das stimmt. Für uns war es auch Familienzusammenführung, denn unsere ganze Verwandtschaft war schon 1946 in den Westen ausgesiedelt. Mein Großvater glaubte bis zu letzt, alle würden wieder zurückkommen, denn das Unrecht der Vertreibung könne von den Siegermächten nicht hingenommen werden. Unsere Familie, als aktive Sozialdemokraten vor 1938, hatte den Status der Antifaschisten von den Tschechen bekommen und war daher in den Benes-Dekreten von der Vertreibung ausgenommen. Als es 1948 doch nicht so wurde, entschlossen sich meine Eltern zur Ausreise. Nur, zu diesem Zeitpunkt nahmen die Amerikaner keine Aussiedler mehr auf. Nur die russische Zone wäre in Betracht gekommen, dorthin wollten wir auf keinen Fall. So musste unsere Ausreise als Flucht organisiert werden. Das wurde an den Amerikanern vorbei von den Tschechen und Bayrischen Behörden vorbereitet. Dass unser Grenzübertritt in Asch, dem entlegensten Winkel der Tschechoslowakei, geschah, machte eine Flucht glaubhafter. Im bayrischen Selb auf dem Amtsgericht sagte man meinem Vater, dass sie wieder zurück müssten. Da sie sich weigerten, waren sie Flüchtlinge. Wir kamen ins Flüchtlingslager nach Hof.

  7. Nun, Herr Ullrich kann dazu ja noch Stellung nehmen. Die Bemerkung zum Experten war ohnehin eher scherzhaft gemeint. Aber immerhin haben Sie beide diese Zeit persönlich erlebt, mehr oder weniger bewusst. Herr Pfeil ist 1947 geboren, also nach dem Krieg, bereits in der „neuen Heimat“, Herr Ullrich im Jahr 1938 im Sudentenland. Damit sind Sie Zeitzeugen. Trifft diese Bezeichnung Ihrer Wahrnehmung nach besser zu?

  8. Ich sehe mich schon als Zeitzeugen, aus der Sicht eines Kindes, obwohl ich auf Grund meiner Eltern während des Krieges, einiges aus den Gesprächen über die Krieglage behalten habe. Mein Vater hörte regelmäßig BBC-Nachrichten.

  9. Nun haben wir hier den Fall, dass unser Projekt „Ankunft nach Flucht“ erst zum Kontakt zwischen Ihnen beiden geführt hat. Wenn ich mich richtig erinnere, ging die Initiative dazu von Ihnen aus. Was wollten Sie denn von Herrn Pfeil wissen?

  10. Herr Pfeil erwähnte in seinem Bericht die Burg Schreckenstein und das Massaker von Aussig. Zu beiden habe ich einen Bezug, denn ich wohnte unterhalb der Burg. Dem Massaker entging mein Vater nur deshalb, weil die tschechische Werksleitung die deutschen Arbeiter rechtzeitig gewarnt hatte. Ich selbst hörte die Explosionen in dem Munionslager, die zum Auslöser des Pogroms an der deutschen Bevölkerung führten.

  11. Und nun wollten Sie von Herrn Pfeil wissen, was er an Erinnerungen seiner Mutter beisteuern konnte?

  12. Ich sehe mich eher nicht als Zeitzeuge, denn die bewusste Wahrnehmung meines persönlichen Umfeldes geht vielleicht zurück auf mein drittes/viertes Lebensjahr. Da war es bereits 1950/1951. Das war die Zeit, als die Amerikaner bei uns in Homberg/Ohm Manöver machten. Es war schon eine ganz andere Zeit. Meine Eltern waren damit beschäftigt, sich eine Existenz aufzubauen. Gespräche über Krieg, Vertreibung etc. wurden natürlich geführt. Und daran kann ich mich auch erinnern. Erinnern kann ich mich auch daran, dass meine Mutter sehr viel Positives über Aussig erzählt hat. Erst nach und nach -viel später- wurde auch über die negativen Erlebnisse gesprochen.

  13. Herr Ullrich wollte gerne wissen, in welchem Teil der Stadt meine Mutter gelebt hatte. Diese Frage hatte er mir in seinem Leserbrief gestellt. Meine Mutter wohnte in Aussig-Gleische (Glice). Das teilte ich ihm sodann telefonisch mit. Und wir hatten ein nettes Gespräch führen können.

  14. Wie weit ist das vom Stadtteil Schreckenstein (heute Střekov) entfernt? Und wie weit von Schönpriesen (Krásné Březno), wo das Munitionsdepot explodierte, was zum Auslöser des Pogroms wurde?

  15. @ Herr Pfeil

    Sie wurden ja wie schon gesagt nach dem Krieg und nach der Vertreibung bzw. Flucht Ihrer Mutter in der „neuen Heimat“ geboren. Haben Sie als Kind etwas davon bemerkt bzw. haben Alteingesessene Sie merken lassen, dass Sie eine Fluchtgeschichte hatten?

  16. Von meinem Wohnort Schreckenstein I liegen Aussig-Gleische und Schönpriesen jeweils 5 Km entfernt. In Schönpriesen wohnte meine Tante.

  17. Dann haben Sie sich verschlechtert. Damals haben Ihre Eltern fünf Kilometer voneinander entfernt gelebt, heute sind es 83. 😉

  18. Herr Ullrich, Sie haben in Ihrem Bericht im Rahmen von „Ankunft nach Flucht“ auch über Ihre eigenen Integrationsprobleme geschrieben. Bei Ihnen gab es gleich zweimal Probleme wegen der Sprachen in der Schule?

  19. Ja natürlich. Eingeschult wurde ich noch 1944. Nach etwa einem halben Jahr war dann wegen der Luftangriffe die Schule für mich vorbei. Nach Kriegsende gab es für Deutsche keine Schulen. Erst nach zwei Jahren nahm man mich in die tschechische Grundschule, zweite Klasse, auf. Tschechisch lernte ich praktisch von den neuen Freunden. Ich sprach aktzentfrei. Als der Lehrer meine Nationalität erwähnte, schaute mich die ganze Klasse ungläubig an. Meine Eltern konnten kein Tschechisch. Von wegen Sprachförderung wie heute. In Friedberg/Hessen kam ich in die dritte Klasse und hatte natürlich in deutscher Rechtschreibung Probleme. In Schreckenstein übte meine Mutter mit mir während ich nicht zur Schule ging Rechnen und Schreiben.

  20. Ich bin schon beim Lesen Ihres Berichts damals über dieses Detail gestolpert, dass Ihre Eltern kein Tschechisch sprachen. War das bei den Sudetendeutschen nicht üblich?

  21. zu Ihrer 14.00 Uhr Frage: Nein! Außerhalb der Familie baute sich schnell ein Freundeskreis auf. In diesem Kreis der Spiel- und Schulfreunde vermischten sich die „Flüchtlingskinder“ mit „Einheimischen“. Ich kann mich heute nicht daran erinnern, dass es da größere Probleme der angesprochenen Art gegeben hat.

  22. @ all

    Ich habe blöderweise meine Kladde mit den Fragen an Sie in der Redaktion liegenlassen. Daher schlage ich vor, dass wir morgen ab elf Uhr noch ein wenig weitermachen, wenn Sie noch Lust haben.

  23. Gerne. Ich kann morgen erst so gegen 14.00 Uhr in die Diskussion einsteigen. – Von meiner Mutter weiß ich, dass sie Tschechisch in der Schule als Fach hatte. Ob das ein Pflichtfach war, ist mir nicht bekannt. – Ihre Lehrzeit absolvierte sie bei einem tschechischen Schneidermeister. –

  24. Das Sudetenland war zu 80% deutschsprachig. Nach der Zerschlagung der K.u.K.-Monarchie 1918 wurde entgegen dem Willen der Sudetendeutschen diese nicht dem Deutschen Reich zugeschlagen. In der neu entstandenen Tschechoslowakei gab es deutsche und tschechische Schulen. Aus unserer Familie lernte keiner Tschechisch. 1938 holte Hitler die Sudetendeutschen „Heim ins Reich“ und die unheilvolle Entwicklung begann. 1945 lebten in Aussig 60.000 Deutsche und 3.000 Tschechen.
    Was meine Integration in Deutschland betrifft, hatte ich keine Probleme, dank meines großen Gummi-Balles, den ich mitgebracht hatte.

  25. Nachtrag: Im Entlassungszeugnis von 1914 meines Vaters aus der Aussiger Bürgerschule ist Böhmische Sprache (Tschechisch) als unverbindliches Fach aufgeführt.

  26. Guten Morgen zusammen!

    Ich habe mal nachgesehen — aber vielleicht wissen Sie das besser: Deutsch war in der Tschechoslowakei vor 1939 regional auch Amtssprache. Ist das richtig?

  27. Frage an Herrn Pfeil: Für mich ist neu, dass Ihre Mutter im Dritten Reich in der Schule Tschechisch gelernt hat – wenn auch vielleicht nur als Wahlfach.

  28. Herr Pfeil hat weiter oben geschrieben, dass er sich heute erst gegen 14 Uhr einklinken wird. Ich habe dann natürlich noch ein paar Fragen. Aber an dieser Stelle machen wir mal einen kleinen Exkurs.

    Herr Ullrich, Sie haben ein Buch geschrieben. Es heißt „Bei uns war es anders“. Sie schreiben darin über Ihre Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Erzählen Sie mal davon. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Buch zu schreiben?

    Mein nächster Beitrag kommt gegen 11:45 Uhr.

  29. Ja, das stimmt Herr Bronski. Ich habe einige Urkunden, die in Tschechisch und Deutsch abgefasst sind. Die Sudetendeutschen waren vor 1938 (Münchner Abkommen) Tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit. Ich selbst bin noch als solcher geboren. Durch die generelle Sammeleinbürgerung wurden alle Sudetendeutschen im April 1939 Deutsche Staatsbürger, wenn sie dem nicht widersprachen, was aber bedeutet hätte, ins Innere der Rest-Tschechoslowakei ziehen zu müssen.
    Meine Eltern hatten insgesamt 4 Staatsbürgerschaften, und mein Vater wurde dreimal gemustert: von den Österreichern, von den Tschechen und von der Deutschen Wehrmacht.

  30. Warum ich meine Erinnerungen geschrieben habe? Nun, ich bin jetzt 78 Jahre alt und da ist halt einiges zusammengekommen. Ich bin selbst erstaunt. Bevor es vielleicht in der Versenkung des Vergessens verschwindet, dachte ich und vielleicht interessiert es einmal meine Enkel. Als ich vor einigen Jahren damit anfing, war mir schon klar, dass das Buch nicht fertig werden würde. Je mehr ich geschrieben hatte, umso mehr fiel mir noch ein. Und fällt mir immer noch ein.
    Schon etwas bewusster erlebte ich das Kriegsende (ab 1943): Die Bombardierungen Aussigs und auch Dresdens (über uns flogen die ganze Nacht die Bombergeschwader), die panische Flucht der Wehrmacht und SS, dann die Rote Armee und schließlich die Tschechen, die auf Revanche aus waren. Die samstäglichen Besuche meines Großvater, bei denen ständig über den Kriegsverlauf diskutiert wurde. Beide hörten „Feindsender“ BBC und Radio Moskau. Mein Vater wurde Mitglied des Antfabüros und musste die Nachbarn beurteilen, ob sie Nazis waren, was entscheidend für die Vertreibung mit Handgepäck innerhalb weniger Stunden war. Das war keine leichte Aufgabe, denn, obwohl der Ortsgruppenleiter (unser Nachbar) wusste, dass mein Vater Sozi war, verhielt er sich immer korrekt. Dann natürlich unsere Ausreise und die Eingewöhnung in Friedberg-Fauerbach.
    Warum war es bei uns anders? In unserer Familie gab es keine Nazis. Und nach dem Krieg wurde das Ende immer als Befreiung gesehen und nicht als Niederlage. Auch bei einigen meiner Lehrer hörte ich das unterschwellig. Der Widerstand im Dritten Reich war passiv. Nur gegen Kriegsende gehörte mein Vater zu einer Gruppe, die die geplante Sprengung der Elbestaufufe durch die Wehrmacht verhindern half. Mit Heil Hitler grüßte man nur, wenn es unvermeidbar war und dann nur genuschelt. Mein Vater stand kurz nach meiner Geburt vor dem Transport nach Dachau. Er wurde nämlich verhaftet.

  31. Mein Vater wurde nach dem Einmarsch Hitlers ins Sudetenland von den Henlein-Leuten (suddt.Nazis) verhaftet und in ein Lager gesteckt. Zuvor wurde ihm aus politischen Gründen als Schlosser bei den Schicht-Werken fristlos gekündigt.
    Mein Vater gehörte der Republikanischen Wehr, der Kampforganisation der Sozialdemokraten an. Man warf ihm vor, er hätte ein Gewehr zu Hause, was er bestritt. Einmal hieß es im Lager: Bereithalten, morgen fahrt ihr nach Dachau. Am nächsten Tag wurde die Ankündigung wieder aufgehoben. Aufgelöst wurde das Lager nach fünf Wochen von einem Wehrmachtsoffizier. Auf seine Frage: Was sind das für Leute? – Rote, Sozis und Kommunisten, befahl er: Schicken sie die Leute alle nach Hause. Eine unglaubliche Geschichte, aber wahr. Zum Glück fand mein Vater sofort wieder Arbeit.

  32. Ihr Vater hat ein geradezu unwahrscheinliches Glück gehabt. Anschließend konnte er unbehelligt mit der Familie in Aussig leben?

  33. Guten Tag,
    zur Tschechisch-Frage von Herrn Ullrich: Meine Mutter war Jg.1920. Es kann doch daher gut sein, dass sie bis 1933 dieses Fach hatte!

  34. Die ganze Familie hatte Glück. Das ist mir mehr und mehr heute bewusst geworden.
    Für die nächsten 2 Stunden klinke ich mich jetzt aus.

  35. Guten Tag, Herr Pfeil! Schön dass Sie wieder da sind.

    Kommen wir noch mal zu Ihrem Telefonat mit Herrn Ullrich. Was haben Sie dabei herausgefunden, abgesehen davon, dass Ihre Mutter ca. fünf Kilometer von Herrn Ullrichs Heim entfernt gewohnt hat?

  36. Ich möchte es mal humorvoll formulieren: Ich habe herausgefunden, dass uns neun Jahre trennen! Aber diese neun Jahre (Herr Ullrich Jg. 1938, ich Jg. 1947) sind wesentlich für die Beurteilung der Situation. Er hat mir sehr viel von den bereits in dieser Diskussion genannten Erlebnissen erzählt. Und ich habe ihm von den Erzählungen meiner Mutter berichtet. Fazit: Zwischen diesen neun Jahren liegen Welten! Ich bin in einer Zeit groß geworden, die man schon etwas stabil bezeichnen konnte während Herr Ullrich die chaotischen Zeiten des Nachkrieges noch hautnah miterlebt hatte.

  37. Neun Jahre, das ist nicht besonders viel, finde ich. Aber in dieser Zeit hat Einschneidendes stattgefunden. Empfinden Sie es als eine Art Gnade der späten Geburt, um mal einen Ex-Bundeskanzler zu bemühen, dass dieses Einschneidende an Ihnen vorbeigegangen ist?

  38. Vielleicht kann man das so sehen. (Auch wenn ich mit der seinerzeitigen Formulierung von Herrn Kohl so meine Schwierigkeiten habe). Das Einschneidende ist an mir vorübergegangen, eben weil ich später auf die Welt kam. Aber das heißt ja nicht, dass unsere Generation nicht um eine Aufarbeitung und Aufklärung der Geschehnisse bemüht war. Sehen Sie, mein Jahrgang gehört zu den 68ern. Das heißt, wir haben die für uns wichtigen Fragen unseren Eltern erst zu einem Zeitpunkt gestellt, als wir schon erwachsen waren. Und warum war das so? In der Zeit vorher wurde nicht viel über diese Dinge gesprochen. Man machte einen Schnitt und fing neu an. Heute kann ich diese Haltung sogar verstehen und nachvollziehen. Kritisch muss ich aber mit mir selbst sein: Uns hat m.E.das Feeling gefehlt, auch mal zuhören zu müssen. Diese Erkenntnis kam viel später.

  39. Ich bin Jahrgang 64, zu mir kam diese Debatte erst deutlich später, und über die „Gnade der späten Geburt“ habe ich mich sehr geärgert. Darin steckt ja ein Vorwurf. Schließlich kann man nichts für den Zeitpunkt seiner Geburt. Zuhörenkönnen ist eine bemerkenswerte Fähigkeit. Ich habe den Eindruck, dass diese Gesellschaft sie allmählich verliert. Das war für mich eines der Motive, die „Ankunft nach Flucht“-Serie zu beginnen.
    Man machte einen Schnitt und fing neu an, schreiben Sie. So ähnlich lautete auch die Überschrift zu Ihrem Beitrag, wissen Sie noch? „Auf den Neuanfang kam es an“ (Printversion) bzw. „Entscheidend war der Neuanfang“ (Blog-Version). Die 68er-Bewegung war entscheidend dafür verantwortlich, dass über „diese Dinge“ trotzdem endlich gesprochen wurde. Ist das in Ihrer Familie mit großem Konflikt oder mit Ruhe geschehen?

  40. Es wurde versucht, beidseitig sachlich darüber zu diskutieren. (Obwohl ich das zum damaligen Zeitpunkt nicht so gesehen habe!!)
    Grund hierfür war wohl auch, dass ich in einer sozialdemokratischen Familie aufgewachsen bin. Da wurde – im Nachhinein betrachtet – schon sehr viel Toleranz gezeigt.

  41. Gehen wir noch mal nach Aussig. Ein weiterer Unterschied zwischen Ihrer Geschichte und der von Herrn Ullrich, dass Ihre Mutter als Folge des Aussig-Massakers fliehen musste. Sie bezeichnen sie in Ihrem ANF-Beitrag als Opfer. Mich würde natürlich interessieren, was ihr damals geschehen ist.

  42. Und gleich noch eine Frage hinterher, weil ich dann zum Zug muss und eine Weile Funkstille meinerseits sein wird: Haben Sie bzw. Ihre Mutter Aussig bzw. Ústí nad Labem in späterer Zeit mal besucht?

  43. Sie war schon deshalb Opfer, weil sie ihre Heimat verlassen musste! Ob ihr physisch etwas angetan wurde, weiß ich nicht. Aber dass ihre Psyche verletzt war, das habe ich gespürt. Ein Beispiel: Meine Mutter musste ihr geliebtes Akkordeon zurücklassen. Sie hat nach der Ankunft nie wieder ein solches Instrument angerührt! Ich denke, das sagt alles.

  44. Meine Mutter hat nie Interesse gezeigt, Aussig zu besuchen. Meine Frau und ich haben Aussig im Jahre 2008 im Rahmen eines Urlaubs im Elbesandsteingebirge besucht und auch Haus und Strasse wiedergefunden. Das war schon sehr bewegend.

  45. Ich war schon einige Male dort. Das erste Mal schon 1964 mit einem Tagesausflug nach Prag.
    Auf dem Wenzelsplatz eine denkwürdige Begegnung mit einem Prager, der uns fragte, wann kommt ihr Deutschen wieder und befreit uns von diesen roten Faschisten. Der Hitler hat uns wenigstens nicht enteignet. Mir verschlug es die Sprache. „Da könnt Ihr lange warten. Ich bin Euch dankbar, dass Ihr mich rausgeschmissen habt. Mir wäre es hier nie so gut gegangen wie in Deutschland“, antwortete mein Vater. Ähnliche erlebte ich in Theresienstadt.
    Vor dem Haus in Schreckenstein, wo wir gewohnt hatten, sprach uns ein älterer Mann auf Deutsch an. Das war 1989. Es war der Hausbesitzer, der 1946 das Haus übernommen (gekauft) hatte. Als ich ihm sagte, dass wir hier gewohnt hatten, erinnerte er sich noch genau an uns. Er lud uns zu einer Tasse Kaffee ein. Wir saßen in der ärmlich eingerichteten Küche und tauschten Erinnerungen aus. Dabei sagte er, dass er uns hätte kündigen können, da er Platz brauchte, es aber nicht übers Herz brachte. Für ihn waren wir wie Menschen von einem anderen Stern, als er hörte, was wir für die Hotelübernachtungen in Aussig bezahlten. Das war seine ganze Monatsrente. Danach war ich noch einige Male in Aussig und Umgebung, wo meine Vorfahren herkamen.

  46. @ all

    Für heute machen wir Feierabend, einverstanden? Aber hätten Sie morgen noch ein wenig Zeit? Ich hätte noch zwei oder drei Fragen.

  47. Halo Bronski,
    auch meine Familie stammt aus dem Sudetenland, allerdings musste sie im September 1938 nach dem „Münchner Abkommen“ wie die gesamte jüdische und großer Teil der tschechischen Bövelkerung Hals über Kopf fliehen. Der Teil der Familie, der die KZ überlebt hat, kehrte 1945 wieder in ihre Heimartorte zurück. Ich selber bin unweit von Ausig 1949 geboren und dort aufgewachsen. Daher erlaube ich mir einige Anmerkungen:
    – Das Gebiet, das heute als Sudetenland bezeichnet wird, war das Grenzgebiet des Böhmischen Königreichs, in das im 11. Jahrhundert Deutsche als Siedler kamen. Zum Deutschen Kaieserreich gehörte es nie, daher verblieb es auch 1918 bei der Tschechoslowakei.
    – Der Vater von Herrn Ullrich war wohl, wie auch mein Großvater, Mitglied der Deutschen Sozialdemokratie der Tschechoslowakei, die der „Burgkoalition“ in Prag angehörte.
    – Ab 1918 war die Amtssprache im Sudetenland Tschechisch, Deutsch war als zweite Amtssprache zugelassen. Meines Wissens war ab 1918 bis 1938 Tschechisch auch an deutschen Schulen ein Pflichtfach, was die (mangelnde) Tschechischkenntnisse der deutschen Bövelkerung nicht wesentlich beeinflusste (meine Mutter lernte erst in Theresienstadt richtig Tschechisch, um nich Deutsch sprechen zu müssen).
    – Zur Vorgeschichte der Vertreibung der Deutschen gehört auch die Erinnerung meiner Tante an den in den 1930er Jahren zunehmenden Antisemitismus in der deutschen Schule, die sie in Ausig besucht hatte. Deshalb wechselte sie in eine tschechische Schile, obwohl sie damals kaum Tschechisch sprach.

  48. Was JaM schreibt, deckt sich mit meinen Kenntnissen. Wäre ich nicht im September 1938 zur Welt gekommen, wären meine Eltern auch geflohen. Wahrscheinlich nach Schweden, wie der Vorsitzende der Schreckensteiner Sozialdemokraten Anton Spiegel. Mit ihm bestand brieflicher Kontakt während des Krieges. Dadurch erfuhren meine Verwandten vieles, was Eduard Beneš im Londoner Exil anstrebte, nämlich die Vertreibung der Sudetendeutschen. Wenzel Jaksch, der letzte Vorsitzende der sudetendeutschen Sozialdemokraten, der auch im Londoner Exil war, versuchte mäßigend auf Beneš einzuwirken. Ohne Erfolg. Beide, Spiegel und Jaksch, lernte ich noch in Frankfurt bei Flüchtlingstreffen kennen. Leider verhielten sich die tschechischen Genossen nicht solidarisch. Viele, die es nicht weiterschafften ins Ausland, wurden zurückgeschickt und kamen nach Dachau.

  49. Guten Morgen,
    der interessante Bericht von JaM bestätigt meine Aussage zur Tschechisch-Frage an deutschen Schulen.

  50. @ JaM

    Danke für Ihre Anmerkungen. Ich überlege, ob die Familiengeschichte, die Sie da umreißen, zu einem Beitrag des Projekts „Ankunft nach Flucht“ werden könnte. Die Fluchtursachen sind andere als bei den anderen Beiträgen, ebenso ist die Aufnahmegesellschaft 1945 eine andere, aber diesen anderen Fokus finde ich sehr reizvoll.

  51. Mit meiner Mutter war ich an diesem Tag an der Elbe zum Baden als die gewaltigen Detonationen zu hören waren und Rauch hinter der Burg aufstieg. Zuvor flog ein kleines einmotoriges Flugzeug im Tiefflug der Elbe entlang Richtung Aussig. Meine Mutter sagte sofort, da ist was Schlimmes passiert, hoffentlich nichts Papa; und die Ungewissheit stieg, als er nicht wie gewohnt nach Hause kam. Als er dann sehr spät kam, erzählte er, dass er einen großen Umweg mit seinem Fahrrad fahren musste, denn die tschechische Firmenleitung hatte ihre deutschen Arbeiter gewarnt, durch Aussig zu fahren, denn es würden Schläger-trupps in der Stadt wüten.
    Was geschah, erfuhren wir erst am nächsten Tag. In den Explosionen sah man einen Sabotageakt der Deutschen. Es erfolgte ein Pogrom an der deutschen Bevölkerung. Wer nicht Tschechisch konnte, wurde misshandelt. Es gab unzählige Tote. Von den beiden Elbebrücken wurden Wehrlose in den Fluss geworfen und abgeknallt, wenn sie schwimmen konnten. Sie warfen sogar einen Kinderwagen mit Kind und Mutter übers Brückengeländer. Das Kind hatte ein junger Mann aus dem Wagen gerissen und mit dem Kopf ans Geländer geschlagen. Dies sah eine deutsche Rotkreuzschwester aus einem vorbeifahrenden Auto. Als sie vor Entsetzen aufschrie, schoss der Mann auf sie. Meine Tante erzählte mir später, dass alle ihre Arbeitskolleginnen umgebracht wurden, die über die Neue Brücke gehen mussten. In Aussig stopften diese Barbaren die Erschlagenen in Löschteiche und Kanalöffnungen. Die meisten waren alkoholisiert. Meinem Vater hätte es in dieser Situation auch nicht geholfen, dass er als Antifaschist anerkannt war; denn Tschechisch konnte auch er nicht. Auch er musste eine weiße Armbinde mit einem N für Nĕmci, Deutsche, tragen, wie alle Deutschen. Die deutschen Antifaschisten trugen zur Unterscheidung noch eine rote Armbinde.
    Erst 1991 las ich in der FAZ über die grausigen Ereignisse am 31. Juli 1945. Der tschechische Publi-zist Ota Filip schrieb, dass das alles nicht zufällig passierte. Über das Flugzeug las ich später, dass es eine Aktion der Werwölfe gewesen sein soll. Eine unwahrscheinliche Version, fast schon abenteuerlich. Die tschechische Regierung täuschte der eigenen Bevölkerung was vor. Bis heute ist noch nicht geklärt, wer hinter diesen Aktionen stand. Eine Mutmaßung erscheint mir am plausibelsten: man wollte einen Beweis den Siegermächten gegenüber, dass ein weiteres Zusammenleben von Tschechen und Deutschen nicht möglich sei und somit eine Begründung für ihre Aussiedlung. Nur eins ist sicher, es waren keine ortsansässige Tschechen, im Gegenteil, die wurden auch bedroht, wenn sie gegen diese Verbrechen protestierten oder einschritten. Die Soldateska aus Zivilisten, Revolutionären Gardisten, Svoboda-Leuten und Rotarmisten kam vor dem Anschlag mit einem Zug aus Prag. Noch am Abend beendeten schnell herbeigeschaffte Polizeieinheiten das mörderische Treiben.
    Heute erinnert eine Gedenktafel auf der Brücke an die schrecklichen Geschehnisse von damals. Lange Zeit wurde das Thema totgeschwiegen, genauso wie die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Krieg. Junge Tschechen, die ich kennen lernte, wussten nichts darüber.

  52. Zur Vertiefung des problematischen Verhätnisses zwischen Deutschen und Tschechen empfehle ich die Bücher Die Vertreibung von Peter Glotz und Winter in Prag von Madeleine Albright.

  53. Die „Werwölfe“ waren eine Partisanentruppe der Nazis, die gegen Kriegsende hinter der Front Sabotageakte beging.

    Niemand weiß, wie viele Menschen an jenem Tag genau ermordet waren. 80 Leichen wurden von der Elbe bis nach Meißen getragen, weitere wurden in Pirna und Bad Schandau angeschwemmt. Tschechische Historiker sprechen von 43–100 Toten, so ist es bei Wikipedia zu lesen. Deutsche Historiker gehen von einer Maximalzahl von 220 Opfern aus. Es ist klar, dass Sie keine Opferzahlen haben können – aber wie ist Ihre Einschätzung dieser Zahlen?

  54. Die Werwölfe, bestehend aus Hitlerjungen und Volkssturmleuten, waren mehr ein Mythos, der beiden Seiten zur Propaganda diente, den Nazis und den Tschechen. Die Werwölfe, von Heinrich Himmler initiiert, sollten die letzte Reserve zum Endsieg sein.

  55. Zu den Opferzahlen gibt es widersprechliche Angaben genaus zu den Luftangriff in Aussig. Treffen wir uns in der Mitte.
    Übrigens, die Mutter mit dem Kinderwagen überlebte, wie ich später las.

  56. Herr Pfeil hat oben gesagt, dass die Debatte über die Nazizeit erst 68 zu ihm gekommen sei. Das kann man so oder so ähnlich wohl für die Mehrheit der Deutschen sagen, nicht wahr? Oder war das bei Ihnen anders?

  57. Bei uns war das eben anders. In unserer Familie war es immer schon eine schreckliche Zeit. Der Krieg wurde von Nazideutschland begonnen, grausam geführt und schuldig verloren, mit allen Konsequenten. Widerliche Gespräche habe ich mit ehemaligen Landsleuten geführt, die die Schuldfrage nicht akzeptierten.

  58. Bei uns war das eben anders. In unserer Familie war es immer schon eine schreckliche Zeit. Der Krieg wurde von Nazideutschland begonnen, grausam geführt und schuldig verloren, mit allen Konsequenten. Widerliche Gespräche habe ich mit ehemaligen Landsleuten geführt, die die Schuldfrage nicht akzeptieren wollten.
    Heute bin ich froh, ohne Umstände in meine Geburtsstadt fahren zu können, aber wohnen möchte ich dort nicht. Meine Heimat ist Frankfurt am Main.

  59. Ihre Familie informierte sich während des Krieges über Radio. Sie erwähnten bereits, dass BBC und Radio Moskau heimlich bei Ihnen gehört wurden. Gab es noch weitere Netzwerke, über die Sie Informationen bezogen haben — die man ja braucht, um zu Einschätzungen zu gelangen?

  60. Onkel, Großvater Arbeitskollegen und Parteifreunde. Mein Vater arbeitete in einer Firma (Rüstungsbetrieb) als Werkzeugmacher, in der lauter so politisch Unzuverlässige wie er abgeschoben worden waren. Man grüßte sich nicht mit Heil Hitler.
    (Ich bin jetzt mal 2 Stunden nicht erreichbar.)

  61. Ich wäre eigentlich so weit durch mit meinen Fragen – bis auf eine, die ich gleich noch stelle.

    Wenn Sie wollen, Herr Ullrich, können wir uns noch über Ihr Buch unterhalten. Sie haben es auf eigene Faust bei Epubli herausgebracht, und es gibt anscheinend zwei Versionen (hier ist die eine). Warum das? Bei Epubli habe ich zwei meiner E-Books herausgebracht. Ihr Buch wird on demand angeboten, nicht wahr?

  62. Und jetzt meine Schlussfrage. Beim Durchlesen unserer Unterhaltung bin ich darauf gestoßen, dass ich ganz selbstverständlich von „neuer Heimat“ gesprochen habe. So hat sich wohl unter der Hand ein Sprachgebrauch meiner Familie bei mir festgesetzt, den ich aber nicht bewusst gepflegt habe: In der Familie meiner Mutter gab es den Terminus „alte Heimat“, wenn von den Herkunftsorten in Hinterpommern die Rede war. Von dort war dieser Teil meiner Vorfahren vor der Roten Armee geflüchtet. „Neue Heimat“ – diesen Begriff gab es hingegen nicht in unserem Sprachgebrauch. Wie war das bei Ihnen beiden? Wie nennen Sie die Herkunftsorte, und wie wurde in Ihren Familien darüber geredet?

  63. In diesem Kontext ist mir weder der eine noch der andere Terminus ein Begriff. Bei uns in der Familie war die Begriffsbestimmung „Heimatvertriebene/r“ aktuell.

  64. Auch ich klinke mich jetzt aus, aber das heißt nicht, dass die Unterhaltung nicht noch weitergehen darf.

    Herzlichen Dank an die Herren für Ihre freundliche Teilnahme an diesem Talk!

  65. Zu meinem Buch:Die erste Version ISBN 978-3-7418-7854 ist im DIN A5-Format
    die Zweite 978-3-74178-74-1 ist im Taschbuch-Format. Eigentlich wollte ich die erste Version in die Taschenbuchgröße ändern, was technisch nicht möglich ist. Inhaltlich sind beide gleich.

  66. Lieber Herr Pfeil, ich hatte mich getäuscht, was den Tschechischunterricht Ihrer Mutter betrifft. 1938 war sie ja bereits 18 Jahre alt.
    Für mich war der Talk doch eine interessante Sache. Ich denke, für sie auch.

  67. Lieber Herr Ullrich,
    Sie schreiben bezüglich der nach dem „Münchner Abkommen“ in den unbesetzten Teil der Tschechoslowakei geflüchteten sudetendeutschen Sozialdemokraten. „Leider verhielten sich die tschechischen Genossen nicht solidarisch. Viele, die es nicht weiterschafften ins Ausland, wurden zurückgeschickt und kamen nach Dachau.“ Dies erstaunt mich doch, denn Flüchtlinge aus dem Sudetenland mit deutscher Nationalität, die ja die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit hatten, hielten sich im unbesetzten Teil der Tschechoslowakei legal auf. Es ist mir nicht bekannt, dass diese Personen durch tschechische Behörden ins Sudetenland zurückgeschickt wurden. Das mag erst nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im März 1939 in der „Rest-Tschechei“ (wie es im Nazi-Jargon hieß) durch die Gestapo geschehen sein.
    Was die Vertreibung der Deutschen aus der CSR nach dem Kriegsende betrifft, ist es richtig, dass sie bereits im Exil von der Beneš-Regierung geplant war (wohl nach dem Muster der „nationalen Bereinigung“ zwischen Griechenland und der Türkei nach dem 1. Weltkrieg). Die „wilde Vertreibung“ und die Massaker gehen aber vor allem auf das Konto der (kommunistisch dominierten) „Revolutionsgarden“ (bei denen sich manch einer der Tschechen von der Kollaboration mit den Nazis „reinzuwaschen“ suchte) als ein Teil der Radikalisierungsstrategie der Kommunisten zur Zurückdrängung des Einflusses des „bürgerlichen Lagers um Beneš, dessen Regierung nicht entschlossen dagegen vorging und später durch Dekrete die Täter straffrei stellte.

  68. Lieber Herr Ulrich,

    ich habe mit Interesse Ihren Talk verfolgt. Besonders Ihre Äußerung: „Heute bin ich froh, ohne Umstände in meine Geburtsstadt fahren zu können, aber wohnen möchte ich dort nicht. Meine Heimat ist Frankfurt am Main.“
    Sie haben hier einen Aspekt angesprochen, der, wie mir scheint, mehr Beachtung verdient. Nämlich, ob das, was sich als „Flucht“ in unser Gedächtnis eingegraben hat, nicht auch als Chance zu begreifen ist. Auch, um sich der Vesuchung einer Selbstbemitleidung zu entziehen.
    Mir geht es ähnlich, auch wenn die Umstände in unserer Familie anders waren. Genaueres im Thread „Ankunft nach Flucht“, http://frblog.de/anf-engelmann/. Ich beschränke mich hier auf das Wesentliche unter dem genannten Aspekt.
    Ich bin 1944 in Iglau (Jhlava) geboren. Die Flucht meiner Eltern mit uns 7 Kindern erfolgte am 8.Mai 1945 aus Triesch (Trest), wo mein Vater Betriebsführer und Mitinhaber einer Holzverarbeitungsfabrik war (ca. 200 Arbeiter). Nach einigen Hinweisen ist er (früher in der Wandervogel-Bewegung), um diesen Posten zu erlangen, auch in die Partei eingetreten. Die Flucht erfolgte überhastet, nachdem am 7.Mai tschechische Arbeiter einen Aufstand im Betrieb unternommen, dabei auch meinen Vater misshandelt hatten. Von der Ostfront zurückkehrende deutsche Wehrmacht befreite ihn, der befehlshabende Offizier ließ 33 der Aufständischen standrechtlich erschießen (was mein Vater nach Aussagen eines Mitgefangenen zu verhindern suchte). Schon in Bayern, wurde mein Vater später von amerikanischem Militär festgenommen und tschechischen Behörden übergeben. Vor dem „Volksgerichtshof“ Iglau wurde er angeklagt, offenbar – da keiner der deutschen Militärs zur Rechenschaft gezogen werden konnte – für die Erschießungen verantwortlich gemacht und am 12.9.1946 hingerichtet.
    Ich habe meine Geburtsstadt Iglau 1990 zum ersten mal gesehen. Inzwischen war ich viermal dort, zuletzt mit einer unserer Töchter in diesem Sommer. Dabei auch Besichtigung des Schlosses Triesch (heute Hotel), damals Gefängnis, in dem mein Vater über ein Jahr inhaftiert war. In Triesch (Trest) ist inzwischen ein Denkmal errichtet (ähnlich wie in Lidice), das an die „Revolutionäre“ erinnert. Merkwürdig dabei, dass keinerlei Hinweise auf die konkreten Geschehnisse existieren, solche auch nicht im städtischen Reisebüro, das sonst eine Fülle von Informationsmaterial bereit hält, zu bekommen sind.
    Das einzige ist eine kurze Notiz, nach meinem Verständnis über den Erbauer des Denkmals. Wenn es Ihnen Recht ist, kann ich Ihnen diese hier zukommen lassen. Da ich kein Tschechisch verstehe, wäre es nett, wenn Sie diese übersetzen könnten.

    Zurück zur Ausgangsbemerkung:
    Ich habe mich des Öfteren gefragt, ob es nicht trotz des anfangs recht harten Überlebens in einer vaterlosen und kinderreichen Flüchtlingsfamilie für mich eine Chance dargestellt hat, meinen Vater persönlich nie kennen gelernt zu haben. In der Weise, dass sich mit diesem „Schicksal“ und den Anforderungen auch ganz neue Möglichkeiten der Lebensgestaltung ergeben haben. Ein Aspekt, der m.E. auch zur Dokumentation „Ankunft nach Flucht“ gehört.

  69. Liebe oder Lieber JaM,
    ich beziehe mich auf Peter Glotz‘ Die Vertreibung und setze voraus, Sie kennen ihn. Das mit dem “ nicht solidarisch verhalten“ bezieht sich mehr auf die persönliche Unterstützung Geflüchter, wie Unterschlupf oder materielle Hilfe zu gewähren. Glotz schreibt: Große Zahlen von Flüchtlingen wollte die sogenannte Zweite Republik (Okt. 1938 bis März 1939) allerdings nicht. Die Tschechen schickten ganze Zugladungen von Demokraten, die ins Landesinnere geflohen waren, zurück, ohne Rücksicht…..
    Aus Erzählungen meines Vaters weiß ich noch, dass die alten Genossen sofort nach dem Abzug der Wehrmacht in Schreckenstein 1945 daran gehen wollten, die demokratische Kommunalverwaltung wieder aufzubauen und suchten den Kontakt zu den tschechischen Genossen. Diese waren aber nicht daran interessiert.
    Es gäbe vieles noch dazu zu sagen. Das würde aber den Rahmen hier sprengen.

  70. Lieber Herr Engelmann,
    gerne würde ich helfen. Ich kenne einige Tschechen. Lassen Sie mir Ihre Unterlagen mir zukommen.

  71. Lieber Herr Engelmann,

    wie gut die Tschechischkenntnisse von Herrn Ullrich sind, weiß ich nicht. Wenn Sie mir den Text über Bronski zuschicken, kann ich ihn übersetzen.

  72. @ all

    „Das würde aber den Rahmen hier sprengen.“

    Wenn Sie damit die thematische Bindung meinen, die durch die Blog-Regeln vorgegeben ist, so kann ich Ihnen versichern, dass ich darauf nicht beharren werde. Diese Regeln sind dazu da, kontroverse Diskussionen halbwegs im Gleis zu halten. Ich sehe hier keine Kontroverse, im Gegenteil: Ich freue mich über den Austausch unter Zeitzeugen. Davon können alle profitieren, wenn das hier noch weitergeht.

  73. Lieber Herr Ulrich und JaM,
    danke für Ihr Angebot. Ich kann den kurzen Text hier gleich reinkopieren. Hoffentlich werden die tschechischen Akzente hier korrekt wiedergegeben:

    VĚZEŇSKÝ DVŮR
    Pietni misto, kde bylo 7. května 1945 zavražděno 33 třešt´ských občanů. Josef Dušek, 34 obět´, byl zastřelen za zámkem. Sousoší „Oběti revoluce“ vytvořil akademický sochař Jaroslav Krechler a architektonicky upravil Jan Sedlák. Mříže, věčný oheň a kovový nápis jsou dílem A. Habermanna.

  74. „Das würde aber den Rahmen hier sprengen.“ Damit meine ich nicht thematisch, sondern vom Umfang her.

  75. Die Übersetzung lautet:
    HÄFTLINGSHOF
    Gedenkort, an dem am 7. Mai 1945 33 Bürger aus Trest ermordert wurden. Josef Dusek, das 34. Opfer, wurde hinter dem Schloss erschossen. Die Skulptur „Opfer der Revolution“ hat der akademische Bildhauer Jaroslav Krechler geschaffen und Jan Sedlak architektonisch gestaltet. Das Gitter, ewige Flamme und Metallinschrift sind das Werk von A. Habermann.

  76. Lieber Herr Ullrich,

    aus persönlichen Gründen, die Bronski bekannt sind, schreibe ich hier unter meinem Kürzel. Mein jüdischer Name ist Abraham.

    Peter Glotz ist mir (persönlich) bekannt, sein Buch nicht. Die konservativ-reaktionäre Regierung der 2. tschechischen Republik war sicher repressiv, dass sie aber tatsächlich massenweise CS-Staatsbürger abgeschoben hat, würde mich überraschen. Kann es sein, dass es sich um „reichsdeutsche“ Flüchtlinge gehandelt hat?

    Über die mangelnde Solidarität der tschechischen Sozialdemokraten mit ihren deutschen Genossen habe ich von meinen Eltern nichts gehört, ich weiß nur, dass mein Vater 1945 der tschechoslowakischen Sozialdemokratie beigetreten ist (und nach der Zwangsvereinigung mit den Kommunisten seine Mitgliedschaft nicht mehr erneuert hat). Ansonsten haben Sie Recht, das Thema würde den Rahmen des Blogs sprengen.

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