Nachtruhe im Flüchtlingsschloss

Von Elke Boese-Grzeskowiak

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Meine Mutter wird 1926 in der niederschlesischen Hauptstadt Breslau als Tochter von Charlotte und Erich Seidel geboren. Sie wächst in der schönen, stolzen Stadt auf und liebt sie. Nach ihrer Ausbildung auf der dortigen „Höheren Handelsschule“ findet Edith in der Breslauer Wehrbezirkskommandantur II als Stenokontoristin Arbeit.

Wochen bevor im Januar 1945 der Evakuierungsbefehl des NS-Gauleiters Hanke an die Bevölkerung ergeht, weiß ihr militärischer Arbeitgeber über die Lage selbstverständlich Bescheid, und so fährt sie mit der Bahn schon lange vor der Räumung Breslaus in Begleitung von Offizieren mit den weiblichen Beschäftigten der Kommandantur nach Görlitz, wo sie in bereitgestellten, beschlagnahmten Wohnungen untergebracht werden. Allerdings bringt man sie gleich wieder zurück nach Breslau zu ihren Eltern, die ihr einziges Kind verzweifelt gesucht haben, um sie nicht alleine in eine völlig ungewisse Zukunft ziehen zu lassen.

Meine Mutter, damals gerade achtzehn Jahre alt, erzählte mir in den vielen Gesprächen, die diesem zusammenfassenden Bericht zugrunde liegen, ihr sei diese Reise nach Görlitz und dann auch die spätere lange und gefährliche Flucht, auf der sie überwiegend allein mit ihrer Mutter war, eigentlich wie ein großes Abenteuer vorgekommen – die Entbehrungen waren dank ihrer Jugend und Gesundheit erträglich und sie gewann allen Widrigkeiten noch etwas Positives ab; furchtlos und mutig ging sie auf die Flucht gen Westen und war ihrer eigenen Mutter ein Stütze.

Mein Großvater, eine echte „Breslauer Lerge“, Schlosser, Sozialdemokrat, leidenschaftlicher Fußballer und aufgrund einer schweren Kopfverletzung durch einen Fahrradunfall kriegsuntauglich, verlässt Breslau mit der Familie aufgrund des Evakuierungsbefehls. Allerdings wird er alsbald, noch im Januar 1945, zurückgeschickt, um weiterhin in einem Wehrmachtsbetrieb arbeiten zu müssen. Frau und Tochter ziehen also alleine los, nur mit ein paar Sachen in Einkaufstaschen – ihre gesamte sonstige Habe müssen sie in der Wohnung in der Trebnitzer Straße zurücklassen, in der noch der Christbaum steht. Erich Seidel hat Glück, er überlebt das eingeschlossene Breslau, das zur „Festung“ erklärt wurde, kommt aus der Stadt heraus und findet über den Suchdienst des Roten Kreuzes auch seine Familie wieder, im Spessart.

Mein Großvater, damals gerade vierzigjährig, in Schlesien verwurzelt und, wie man heute sagen würde, gut vernetzt, hat den Verlust der Heimat und vor allem seiner Stadt Breslau nie verwunden – tief im Westen, in Köln, wohin ihn die Suche nach bezahlter Arbeit trieb, fühlte er sich nie richtig zu Hause.

Die beiden Frauen werden mit Tausenden Flüchtenden in Güterzügen westwärts Richtung Dresden transportiert. Dort – auf Gleisen vor der Stadt abgestellt – spüren sie in der Nacht vom 14. auf den 15. Februar 1945 die Hitze des Feuersturms nach dem Bombenangriff, der Dresden in Schutt und Asche legt. Sie sehen riesige Feuerbälle, die sie sich anfangs nicht erklären können.

Es geht wieder weiter, das Leben in Bahn- und Güterwaggons der Reichsbahn: Keiner kann sich richtig waschen, an Körperhygiene ist nicht zu denken; es gibt wenige Sitzplätze, man wechselt sich ab und steht dicht gedrängt über weite Strecken. Niemand spricht tröstende Worte, die Menschen sind auf sich selbst gestellt und haben nur das nackte Leben. Selbst in den Zugtoiletten halten sich Menschen auf, die Zuflucht suchen; die Flüchtlinge erledigen ihre „Geschäfte“ dazwischen, die Not ist groß, da kann es sich niemand leisten, zimperlich zu sein.

Nicht ohne Tränen erinnert sich meine Mutter bis heute genau an eine junge Frau, die einen der hinteren Eisenbahnwaggons während eines Halts verlassen hatte, um in einem Bahnwärterhäusel Milch für ihr wenige Tage altes Baby zu erbitten. Das Baby blieb im Eisenbahnwagen zurück, es war Winter und bitterkalt. Der Zug fuhr allerdings schneller als erwartet wieder an und die Flüchtenden, Beobachter der Szene, sorgten sich um Kind und Mutter – ob sie es noch geschafft hat, den Waggon zu erreichen, in dem ihr Neugeborenes zurückgeblieben war? Was wohl aus Mutter und Kind geworden sein mag – ob sie überlebt haben?

Ihr Zug rollt, von Dresden aus, nach Süden und fährt Theresienstadt an, wo alle aussteigen müssen und in eine Art Auffanglager kommen. Da Edith und Charlotte wissen, dass sich an diesem Ort ein Konzentrationslager befindet, sind sie sehr beunruhigt. Es gelingt ihnen aber irgendwie, schnell aus dem Lager herauszukommen und einen der nächsten Züge zu erwischen, die westwärts fahren, immer der nahen Front ausweichend. Die gespenstische Episode in Theresienstadt gehört zu den ungelösten Rätseln während der Flucht meiner Mutter und Großmutter vor den russischen Truppen.

Von dort führt sie ihre Flucht dann im Mai 1945 zunächst kurz auf tschechisches Gebiet, dann nach Österreich, wo sie nicht lange bleiben dürfen. Sie gelangen über Vöcklabruck nach Fornach und wohnen beim Mesner; Edith arbeitet im Bürgermeisteramt. Nach einigen Wochen heißt es, wie sich meine Mutter erinnert, seitens Österreich: Deutsche raus! Hier waren sie also nicht so ganz willkommen. Im Spätsommer kommen sie nach Oberbayern, über Mittenwald nach Unterfranken in eine Gemeinde namens Burgsinn, von der sie nie gehört hatten. Hier im Spessart ist ein Landschloss der Barone von Thüngen für die Unterbringung der Flüchtlinge requiriert worden. In dem verwunschenen Renaissancebau treffen sie mit rund dreißig anderen Flüchtlingen zusammen, die auf ihrer Odyssee von Schlesien, Pommern und dem Sudentenland aus hier gelandet sind.

edith-und-elke-kleinMeine Mutter lernt in dieser Fluchtburg meinen Vater, den gutaussehenden Günter, gebürtiger Hinterpommer, kennen, der als schwer verwundeter Soldat von Ungarn nach Unterfranken „verlegt“ worden war. Er ist in Burgsinn im Haus des Apothekers untergebracht und trifft im Schloss seinen Bruder Heinz, der wie er den Krieg überlebt hat. Die Dorfjugend – ob Flüchtlinge oder Einheimische – trifft sich im Ort beim „Schamberger“ zum Tanz. Edith und Günter werden ein Paar und heiraten, im Dezember 1947 werde ich dann als erstes Kind geboren.

Edith Boese mit Töchterchen Elke
im Frühsommer 1950 in Gemünden am Main.
Foto: privat

Die Baronin von Thüngen, nur wenig älter als meine Mutter, stellt selbstverständlich ihr schönes historisches Mobiliar für mich und die anderen Wickelkinder zur Verfügung in beschlagnahmten Zimmern, die jeweils von einer Familie bewohnt werden dürfen. Es gibt eine Toilette für alle.

Da die Männer in der Burgsinner Land- und Forstwirtschaft rasch Arbeit finden, brauchen sie ihren Schlaf, der durch mein regelmäßiges nächtliches Schreien massiv gestört ist. Meine Großmutter stellt die Nachruhe im Flüchtlingsschloss wieder her, indem sie mich Nacht für Nacht in den Schlaf wiegt, schlesisch: schockelt. Tagsüber dann im fährt sie mich im Kinderwagen den Sinngrund entlang spazieren – das Baby fühlt sich geborgen und schläft tief und fest.

Meine Mutter erinnert sich bezüglich ihrer Aufnahme als Flüchtling an überhaupt nichts Diskriminierendes oder Herabsetzendes; ganz im Gegenteil wurden sie und ihre Mutter sehr geschätzt, denn sie machten sich nützlich, indem sie sich zum Beispiel um den kleinen Sohn der Schlossherrin kümmerten oder ihr anderweitig zur Hand gingen. Spätestens seit Mitte der fünfziger Jahre waren keinerlei Unterschiede mehr zwischen Flüchtlingen und Alteingesessenen spürbar. Man war in der neuen Heimat angekommen, fand seinen Weg, passende Arbeitsstellen und zog die Kinder groß.

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boese-elke-portraetEdith Boese 060116 kleinElke Boese-Grzeskowiak (links), geb. 1947 in Burgsinn, lebt heute in Weinheim. Sie hat diesen Bericht aus den Erinnerungen ihrer Mutter Edith angefertigt.

Edith Boese (rechts), geboren in Breslau 1926 als Edith Ruth Anneliese Seidel, heiratet nach ihrer Vertreibung/Flucht 1949 den schwer verwundeten Kriegsteilnehmer Günter Boese (1924-2013). Sie leben mit Tochter Elke und Sohn Klaus-Dieter (geb. 1953) zunächst in Bayern (Unterfranken), in Burgsinn, Gemünden und Würzburg. 1967 zieht die Familie nach Mannheim. Edith knüpft 1971 an ihre Breslauer Ausbildung zur Stenokontoristin an und arbeitet bis zu ihrer Pensionierung 1991 für das Mannheimer Jugendamt. Sie lebt selbständig in Mannheim und hat zwei Enkelsöhne.

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