Die Anpassung war für mich nicht einfach
Von Josef Ullrich
Unsere Familie hätte wegen ihrer Anerkennung als Antifaschisten in Aussig/Elbe (heute Usti nad Laben) bleiben können. In den Beneš-Dekreten waren wir von der Vertreibung ausgenommen. Mein Vater wurde nämlich als Sozialdemokrat 1938 von den Nazis inhaftiert. Ich war gerade vier Wochen alt. 1948 wurde ihm jedoch von den Tschechen dieser Status wieder aberkannt. So kam auch für uns die Einsicht, dass es für die verbliebenen Deutschen keine Perspektiven in der neuen Tschechoslowakei gab. Unsere Verwandten übersiedelten bereits 1946, in die amerikanische Zone, nach Hessen.
1948 war es auch für uns soweit. Mein Vater meldete uns mit den Großeltern für den nächsten Aussiedlertransport an, nachdem wir die Einreiseerlaubnis für Bayern von meinem Onkel zugesandt bekommen hatten. Wir waren also die Letzten unserer Familie. Mein Großvater dachte lange, dass dieses Unrecht der Vertreibung nicht bleiben könne und alle wieder zurückkommen würden. Meine Mutter wollte nicht ihre Eltern alleine zurück lassen, sonst wären wir schon früher weg. Als der Großvater merkte, so wie vor 1938 würde es nicht mehr werden, resignierte auch er. Für ihn war die Befreiung vom Naziregime eine doppelte Enttäuschung; denn alle seine Hoffnungen, die mit dem Ende dieser Zeit verbunden waren, erfüllten sich nicht. Zwar erhielt er die tschechische Staatsbürgerschaft, aber sein Haus, das ihm die Nazis genommen hatten, bekam er nicht mehr zurück. Dass man nun auf allen Ämtern tschechisch sprechen musste, gab ihm den Rest und schließlich im Februar 1948 der Umsturz auf der Prager Burg. Die Tschechoslowakei wurde ein Satellitenstaat Moskaus.
Als die Formalitäten für unsere Ausreise abgewickelt waren, musste es mein Vater seiner Arbeitsstelle verheimlichen, da er praktisch unabkömmlich war. Er war als Betriebsschlosser für den Maschinenpark eines Schotterwerkes verantwortlich. Er reichte daher einfach seinen Urlaub ein. Wie alle Verwandten konnten auch wir unsere Möbel mitnehmen.
Am 10. September 1948 ging es los. Wir fuhren zusammen mit anderen mit der Bahn von Aussig nach Eger und dann mit LKWs nach Asch. Unsere Möbel waren schon seit Tagen mit der Bahn unterwegs. Es war der letzte Antifatransport aus der Tschechoslowakei. Tausende Kommunisten und Sozialdemokraten übersiedelten mit diesen Transporten entweder in die amerikanische oder russische Zone. 1948 war es offiziell nicht mehr so einfach, in die Westzonen zu kommen; die waren mit Flüchtlingen und Aussiedlern überfüllt. Es wäre also nur die Ostzone in Frage gekommen. Mit Elbkähnen gingen Transporte mit überwiegend Kommunisten nach Sachsen. Zu den Russen wollten meine Eltern aber auf keinen Fall. Da mein Onkel in Friedberg/Hessen auf dem Wohnungsamt arbeitete, konnte er für uns eine Wohnung nachweisen. Ein Bürgermeister übernahm die Bürgschaft gegen das Versprechen, dass er uns nicht zu Gesicht bekäme. Formal war unsere Ausreise Familienzusammenführung.
In Asch angekommen, mussten wir alle bis zur Dunkelheit im Zollhaus warten. Später, nachdem Gruppen gebildet worden waren, ging es unter der Führung eines tschechischen Grenzbeamten in den Wald. Für mich als Zehnjährigen eine aufregende Sache. An der Grenzlinie verabschiedete sich der Tscheche und schickte uns über eine große Wiese ins Ungewisse. Es war eine helle Mondnacht mit entferntem Hundegebell. Alles sollte sich geräuschlos abwickeln, fast wie in einem Indianerfilm. Wir gingen auf eine Hecke zu. Eine schemenhafte Gestalt trat hervor und kam auf uns zu. Ich erkannte den Gewehrlauf der geschulterten Waffe und eine deutsche Landsermütze. Es war der bayerische Grenzer, der uns freundlich begrüßte. Er war über unser Kommen bereits informiert. Wir waren im Westen! Und ich zusammen mit meinem Wellensittich, den ich in einem selbst gebastelten Holzkästchen immer bei mir hatte. Offensichtlich wurden hier Absprachen an den Amerikanern vorbei zwischen den tschechischen und bayerischen Behörden getroffen. Die Tschechen wollten alle Deutsche loswerden, auch die Antifaschisten.
Der bayerische Grenzbeamte führte uns ins deutsche Zollhaus. Im Treppenhaus übernachteten wir. Und welch eine Überraschung am Morgen: nur ein Stück die Straße hätten wir am Abend zuvor vom tschechischen Zollhaus aus weitergehen brauchen, um nach Bayern zu kommen. So aber führte man uns in einem größeren Bogen durch den Wald. Dies gehörte eben dazu, um aus unserer Ausreise eine Flucht zu machen. Den Eltern wurde offiziell mitgeteilt, dass sie wieder zurückgeschickt werden würden, da die Amerikaner keine Flüchtlinge mehr aufnähmen. Hinter der vorgehaltenen Hand meinte man aber, dagegen könne man sich ja wehren. Dieser Vorgang spielte sich dann auf dem Selber Amtsgericht ab. Großvater soll gesagt haben, lieber lassen wir uns alle erschießen, als wieder zurückzugehen. Jedenfalls blieben wir und kamen für vier Tage ins Flüchtlingslager nach Hof. In einer Holzbaracke waren wir untergebracht und schliefen auf amerikanischen Feldbetten. Wir wurden gesundheitlich untersucht. Dazu gehörte auch eine vorsorgliche Entlausung. Da inzwischen der Kalte Krieg ausgebrochen war, wurden die Erwachsenen auch geheimdienstlich überprüft, wahrscheinlich vom CIA. Hier sah ich die ersten amerikanischen Soldaten, die so ganz anders waren als die Deutschen und Russen. Ihre Uniformen wirkten elegant, vor allem ihre Schuhe, die nicht so klobig wie die Knobelbecher aussahen.
Von Hof aus fuhren wir mit der Bahn über Nürnberg, Würzburg nach Frankfurt am Main, wo wir auf der Bahnhofsmission übernachteten. Am nächsten Tag ging es weiter nach Friedberg in Hessen. Die Trümmer der bombardierten Städte waren unübersehbar. Auf dem Friedberger Bahnhof erwarteten uns Onkel und Tante. Zunächst blieben wir für ein paar Tage bei ihnen in Ober-Rosbach, bis uns der Onkel eine Wohnung in Friedberg-Fauerbach durch seine Beziehungen besorgt hatte. Die Möbel waren inzwischen angekommen und standen auf dem Friedberger Güterbahnhof. Mit einem Lastwagen gelangten die Großeltern nach Reichelsheim im Odenwald, wo meine Tante schon seit zwei Jahren wohnte. Überhaupt war für mich die Übersiedlung mehr Abenteuer als Heimatverlust.
Unsere Wohnung in Fauerbach lag in der Fauerbacher Straße. Der Ort, trist und ohne baulichen Charakter, allein geprägt von der Zuckerfabrik, hatte nur zwei nennenswerte Straßen. Und unser Haus lag genau an der einzigen Kreuzung. Im Herbst, wenn die Bauern ihre Zuckerrüben anfuhren, waren die beiden Hauptstraßen lehmig und glitschig. Anfangs waren die Hauseigentümer uns gegenüber sehr reserviert – wir waren ja schließlich zwangsweise bei ihnen einquartiert worden. Als sie merkten, dass wir keine Zigeuner waren, wurden sie freundlicher. Die Eingliederung in unsere neue Heimat war einfacher als meine Eltern gedacht hatten. Am einfachsten ging es bei mir durch meinen großen Gummiball, ein Juwel zu dieser Zeit. Bei allen Fußballspielen durfte ich mitmachen. Die Jungs warteten nach dem Mittagessen auf mich.
Mein Großvater musste jedoch erleben, wie kurz vor seiner Einweisung auf einem Odenwälder Bauernhof der Besitzer die Zimmerdecke der beiden winzigen Räume mit der Spitzhacke zerstört hatte. Danach zog er in das kleine Häuschen, das zur alten Reichelsheimer Ziegelei gehörte und seit dem Auszug von Tante Emma leer stand. Für heutige Wohnverhältnisse unzumutbar. Für ihn war es aber wichtiger, unabhängig zu sein.
Josef Ullrich (vorne links, sitzend)
mit seiner Familie1949
in Reichelsheim im Odenwald.
Foto: privat
Mein Vater hatte in Frankfurt bei einem amerikanischen Büromaschinen-Hersteller, eine Stelle als Versuchsmechaniker gefunden. Ich kam in die dritte Klasse der Fauerbacher Volksschule, die nur zwei Klassenräume hatte. Die Anpassung war für mich nicht einfach, besonders in Deutsch, was auch noch sehr lange mein Problemfach blieb. Wegen meines Akzents, ö und ü als e bzw. i auszusprechen, wurde ich anfangs gehänselt. Zur damaligen Zeit verdienten sich die Kinder mit Feldarbeit wie Zuckerrüben vereinzeln und Kartoffellesen nach der Schule ihr Taschengeld. Für eine Mark und ein Doppelbrot mit Wurst bestrichen rutschte auch ich auf den Knien die Fauerbacher Zuckerrübenfelder ab. Eigentlich eine harte Arbeit für Kinder. Heute wäre das Kinderarbeit. Ganz stolz war ich am Ende der Saison, dreizehn Mark verdient zu haben. Auch Altmetall sammelte ich. Geld war bei uns immer knapp. Papas Verdienst reichte nur fürs Nötigste. Mama verdiente als Putzfrau hinzu. Wir sammelten Fallobst, Holz im Wald, Kohlen auf den Bahngleisen und gingen die geernteten Kartoffelfelder ab. Papa reparierte nebenher Uhren, was er auch schon in Aussig tat. Aus der alten Heimat hatte mein Vater eine größere Menge Zigaretten mitgebracht, die er an seine Kollegen verkaufen konnte.
Im Herbst 1944 kam ich in die Schreckensteiner Bürgerschule. Das Alphabet lernten wir in Sütterlin. Zweimal musste meine Klasse die Schule wegen der ständigen Luftangriffe wechseln. Im Frühjahr 1945 war dann vorerst meine Schulzeit zu Ende. Alle Schulen, bis auf die Bürgerschule in Schreckenstein, waren zerstört. Und in dieser war eine SS-Einheit einquartiert. Mit ihrer Fahne auf dem Schuldach machten sie Schreckenstein erst richtig zur Zielscheibe. Das Kriegsende erlebten wir mit Bomberangriffen auf Aussig und Schreckenstein, der flüchtenden Wehrmacht und SS, die kampflose Einnahme von Aussig durch die Roten Armee und die Massaker der Tschechen an der deutschen Bevölkerung. Schlechte Erfahrungen mit den Russen machten wir nicht. Ein Offizier kam zu uns und bat um etwas zu trinken. Er sprach etwas deutsch. Auf den Hinweis meines Vaters, dass der Krieg doch jetzt zu Ende sei und es nach Hause ginge, lachte er: Unser Ziel ist jetzt Konstantinopel. Mein Vater war nicht eingezogen und arbeitete als Werkzeugmacher in einem Rüstungsbetrieb. Regelmäßig hörte er BBC und Radio Moskau, was strengstens verboten war. Mit meinem Großvater wurden immer die aktuellen Meldungen diskutiert.
Erst 1947 sah ich wieder eine Schule von innen. Ich kam in die zweite Klasse der tschechischen Volksschule in Schreckenstein. Da war ich schon neun Jahre alt. Vorher nahm man mich als Deutschen in die Schule nicht auf. Mit meinem mündlichen Tschechisch, das ich auf der Straße gelernt hatte, ging es ganz gut, nur nicht mit dem Schriftlichen. Ich sprach einen Dialekt, der in der Gegend um Prag gesprochen wurde. Als der Klassenlehrer meine Nationalität erwähnte, schauten mich alle erstaunt an. Keine Erinnerung habe ich wie ich Tschechisch gelernt hatte und auch nicht an die tschechischen Freunde. Bis auf die Vier im schriftlichen Tschechisch hatte ich nur gute Noten. Mir konnte auch niemand helfen, denn meine Eltern konnten kein Tschechisch. Lesen, Schreiben und Rechnen hatte ich in der Zeit von 1945 bis 1947, in der ich als Deutscher nicht in die Schule gehen konnte, mit meiner Mutter geübt. Auch die lateinische Schrift lernte ich von meinen Eltern.
1951 zogen wir nach Frankfurt am Main. Ich lernte nach der Volksschule Mechaniker und über den Zweiten Bildungsweg studierte ich Feinwerktechnik an der FH Frankfurt.
Mit meinem Vater war ich 1964 in Prag. Auf dem Wenzelsplatz fragte uns ein Tscheche: Wann kommt Ihr Deutschen denn wieder und befreit uns von den Stalinisten? Darauf mein Vater: Da könnt Ihr lange warten. Ich bin Euch dankbar, dass Ihr mich rausgeschmissen habt. Mir wäre es bei Euch nie so gut gegangen wie in Deutschland.
Nachtrag:
Geboren wurde ich noch als tschechoslowakischer Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit. Der im November 1938 zwischen der Tschechoslowakischen Republik und dem Deutschen Reich abgeschlossene – im Münchner Abkommen erzwungene – Vertrag über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen und der entsprechenden Verordnung vom 20. April 1939 wurde ich durch Sammeleinbürgerung zum deutschen Staatsbürger. Theoretisch hätten meine Eltern die Option gehabt, tschechoslowakischer Staatsbürger bleiben zu können. Aus rationalen Gründen akzeptierte mein Vater aber die deutsche Staatsbürgerschaft. Schließlich war es dem Münchner Abkommen nach rechtens. Außerdem hätte es bedeutet, dass meine Eltern Aussig hätten verlassen müssen.
Wäre ich 1938 nicht zur Welt gekommen, wären meine Eltern vielleicht vor den Nazis geflohen und nach Schweden ausgewandert, wie viele andere Sozialdemokraten, wie mir meine Mutter erzählte.
Meine Eltern hatten insgesamt vier Staatsbürgerschaften: Geboren wurden sie als Deutsch-Österreicher, nach 1918 wurden sie unfreiwillig tschechoslowakische Staatsbürger deutscher Volkszugehörigkeit, 1938 dann Reichsdeutsche und schließlich Bundesrepublikaner. Mein Vater wurde 1918 von den Österreichern, 1931 von den Tschechen und während des Krieges von der Wehrmacht gemustert und immer für untauglich befunden.
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Josef Ullrich ist Jahrgang 1938
und lebt in Frankfurt.
Er ist seit 50 Jahren verheiratet,
hat einen Sohn und zwei Enkel.
Dieser Beitrag wurde ursprünglich als Kommentar im FR-Blog gepostet. Er wurde hier noch einmal separat veröffentlicht.