Es geht ein böses Wort um in Deutschland, das Wort „Kulturinfarkt“. Bei allem Gerede über die sogenannte deutsche Leitkultur ist nämlich Fakt, dass an der Kultur so sehr gespart wird, dass die öffentlichen Bibliotheken praktisch kein Geld mehr für Neuanschaffungen haben. Neun Milliarden Euro gibt die öffentliche Hand in Deutschland pro Jahr für rund 5000 Museen, mehr als 140 Staats- und Stadttheater, 8500 öffentliche Bibliotheken und 1000 Musik- und Volkshochschulen aus. Neun Milliarden. Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands betrug 2010 knapp 2,5 Billionen Euro. Deutschland – eine Kulturnation?
Der Blick aufs Geld verengt die Perspektive natürlich, denn es gibt etliche freie Theater und Künstler, die versuchen, von öffentlichen Subventionen unabhängig zu bleiben, und die da, wo das gelingt, von der Hand in den Mund leben. Der Kulturbetrieb, das weiß ich nur zu gut, hat zudem seine eigenen Gesetze. Verlage etwa suchen händeringend nach Bestsellern, mit denen sie den Rest ihres – ambitionierteren – Programms querfinanzieren können. Es sind diese „Leuchtturmprojekte“, die der Kulturbetrieb braucht und immer gebraucht hat: Bekannte Namen ziehen Publikum an. Das hatte immerhin den Vorteil, das unbekannte Namen sich etablieren und allmählich bekannt werden konnten. So funktioniert das in der privaten Kulturwirtschaft, wenn dieses Unwort erlaubt sei, schon seit langem, und zwar mehr oder weniger gut. Und natürlich geht es ums Geld. Neun Milliarden sind neun Milliarden.
Die Autoren Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz haben mit ihrem Buch „Der Kulturinfarkt“ für einen Aufschrei in der deutschen Kulturlandschaft gesorgt. Ihre These: Der Kulturbetrieb ist zu teuer, zu kleinteilig, zu einseitig, zu weltfremd – und undemokratisch. Als Ausweg aus dem Dilemma der Kulturpolitik sehen die Autoren nur einen Ausweg: drastische Einschnitte. Durch die pure Größe sei der Kulturapparat nahezu bewegungsunfähig geworden. Freigewordene Mittel könnten dann in innovative Projekte gesteckt werden. Dazu müsse jetzt das Mantra „Kultur für alle“ fallen. Die Zauberformel laute: mehr Individualität, mehr Laienkultur, mehr Subsidiarität und „Kulturindustrie“ – weniger System. „Wer den Kulturbetrieb und Kulturpolitik kritisiert, ist nicht der Feind der Kunst“, betonen die Autoren. „Im Gegenteil: Uns liegt daran, sie zu befreien – von den vermeintlichen Schützern, die sie umarmen bis zur Erstickung.“
Einer der Autoren, Stephan Opitz, vertrat diese Thesen im FR-Interview. Oliver Reese, Leiter des Frankfurter Schauspiels und Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, rezensierte das Buch ziemlich negativ: „Krude Mischung, obszöne Ideen„.
FR-Leser Hans-Georg Jaroslawski aus Senden, Dirigent, meint:
„Endlich haben wir es schwarz auf weiß. Jetzt geht es ans Eingemachte. Vor zehn Jahren habe ich schon über den Werteverlust unserer Kultur vor den Parteien gesprochen, und es wunderte mich überhaupt nicht, dass mal wieder von Orchester- und Theaterschließungen etc. die Rede ist. Und zwar in einem Maße, dass die Musiktradition, die einmalig in Deutschland und Europa ist, sich vielleicht nur noch in den Großstädten abspielen wird. Klar, warum eigentlich nicht. Machen wir zugunsten der verschuldeten Länder einen Kulturkahlschlag. An den Schulden sind wohl nur Kunst und Kultur schuld, oder? Mir fallen so viele Euro ein, die wir einsparen könnten…
Die Ursachen des existenziellen Problems liegen ganz woanders. Das junge Bildungspublikum hat kein Interesse mehr an der klassischen Musik bzw. Musiktheater. Aber da hat sich ja auch seit 30 Jahren keiner darum gekümmert. Ich zitiere die Kulturwissenschaftlerin Birgit Mantel: „Es wird Zeit, dass man endlich auf Kulturbildung in den Schulen Wert legt.“ Publikum muss herangezogen werden.
Gehen Sie ins Konzert, ob in Dresden oder Münster, alles ein Alter ab 55 Jahre aufwärts. Da muss etwas geschehen! Wenn kein Interesse seitens des Publikums mehr da ist, die Theater keine Zuschauer und die Sinfoniekonzerte keine Zuhörer mehr haben, dann wäre erst der Kulturinfarkt da.
So lange die Bilanzen gut (?) sind, ist jede Diskussion überflüssig. Jedes Kulturinstitut sollte selbst darüber entscheiden, was zu verändern ist. Und da gibt es immer andere Lösungen als gleich einen künstlichen nationalen Kulturinfarkt auszulösen! Die Musiktradition ist in Deutschland flächendeckend verteilt. Deswegen kommen viele ausländische Musiker zum Studium auch zu uns, um diese Kunst, unsere Tradition kennenzulernen.
Nur wenige Orchester? Nur noch 50 Prozent vorhanden? Museen 50 Prozent? Mehr Laienkunst? Wie in NRW? Laienkünstler gegen studierte Profikünstler ausspielen? Das ist nationaler Blödsinn. Es ist doch komisch, dass wir immer den Drang verspüren, etwas abzuschaffen oder zu vernichten!
Einsparungen ja, auch Schließungen; aber bitte mit Augenmaß! Auch wenn wir europäisch denken, heißt dies doch noch lange nicht, unsere nationale Identität zu vernichten. Das Ausland lacht uns aus. Wenn Kulturinstitutionen geschlossen werden, sind sie unwiederbringlich verloren. Ich kann nur davor warnen. „Wenn für Kunst und Kultur nicht mal mehr ein Prozent vom Etat da ist, dann ist Deutschland kein Kulturstaat mehr.“ (Prof. Everding) Ich schließe mich diesen Worten an.“
Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt:
„Der von Stephan Opitz und seinen Mitautoren (Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel) diagnostizierte „Kulturinfarkt“ ist als Versuch zu werten, im Verteilungskampf um öffentliche Gelder die Bibliotheken, Museen und Theater zu diskreditieren und folglich zu benachteiligen.
Denn wer die staatlich unterhaltenen Kulturinstitutionen mit den Mitteln des Marktes neu organisieren will (letztlich um Geld zu Gunsten populärerer Ausgaben einzusparen), lässt außer Acht, dass Kultur und Markt wie Feuer und Wasser zu einander stehen. Kultur ist die Infragestellung all dessen, was der vermeintlich freie Markt der Gesellschaft beschert; sie ist die kritische Reflexion von Machtstreben, Profitgier, Entsolidarisierung, Unbarmherzigkeit und Verdummung. Wer das kulturelle Angebot an wirtschaftlichen Maßstäben misst (statt an Kriterien der Kultur und des Allgemeinwohls), öffnet dem ungeschulten Geschmack mit allen seinen Folgen Tür und Tor.
Das Autorenquartett setzt sich mit seiner Schmähschrift sogar dem Vorwurf aus, heute bereits so einfältig zu sein, wie es die um ihre Kultur beschnittenen Bürger vermutlich in spätestens zwei Jahrzehnten sein könnten. Denn Dummheit ist (laut Brockhaus) „die mangelhafte Fähigkeit, aus Wahrnehmungen richtige Schlüsse zu ziehen. Dieser Mangel beruht teils auf Unkenntnis von Tatsachen, die zur Bildung eines Urteils erforderlich sind, teils auf mangelhafter Schulung des Geistes oder auch auf einer gewissen Trägheit und Schwerfälligkeit des Auffassungsvermögens“.
Ich spreche den Herren tatsächlich den notwendigen Sachverstand ab; denn deren Blick auf die Dinge ist eindimensional und anti-intellektuell. Wer die Existenz von beispielsweise drei Opernhäusern in Berlin in Zweifel zieht, ohne das fachlich (nicht finanziell!) zu begründen, scheint eine kulturelle Zwangsbewirtschaftung der Bundesrepublik zu planen: Jeder Großregion eine Oper, ein Theater und eine Zentralbibliothek. Sollen die Menschen doch mobil sein, wenn sie ihre kulturellen Bedürfnisse befriedigen wollen, die Marktwirtschaft fordert ihnen das im Berufsalltag ohnehin ab.
Arthur Schopenhauer würde angesichts dieses Ungeistes heutzutage mutmaßlich erneut schreiben: „Ich lege hier für den Fall meines Todes das Bekenntnis ab, dass ich die deutsche Nation wegen ihrer überschwinglichen Dummheit verachte und mich schäme, ihr anzugehören“ (Parerga und Paralipomena).“
Zu der Kolumne von Klaus Staeck, die in der Print-FR unter der Überschrift „Ausgehungerte Künste“ erschien, meint Jürgen Löns aus Eppstein:
„Es ist zwar richtig, was Klaus Staek am Ende seiner Kolumne über „Ausgehungerte Künste“ formuliert. „Umso wertvoller sollte uns deshalb all das sein, was sich eine verantwortungsvolle Gesellschaft im Kulturbereich weiter leisten können muss“. Das klingt trotzig, aber auch hilflos. Wer entscheidet das, was sein „muss“? Falsch ist m. E. die Überschrift „Ausgehungerte Künste“. Welcher Kunstbegriff ist hier gemeint? In dem Artikel geht es vor allem um die im herkömmlichen Sinn bildenden Künste und insbesondere um Musik – wohl vor allem die klassische.
In dem mir bekannten Umfeld – ein eher bildungsbürgerliches – kenne ich einige hoch begabte junge Musiker (bis hin zu einem Preisträger von „Jugend musiziert“), die gerne ihr Hobby zum Beruf gemacht hätten, dann aber rechtzeitig einsahen, dass es auch andere interessante Berufswege gibt, die Einkommen und Karriere versprechen und vor allem in denen Nachfrage bestand und immer noch besteht. Ich weiß also nicht, ob der Vorwurf, dass bei uns ein „Prekariat“ junger Musiker entstanden sei, grundsätzlich gelten soll oder ob Staek lediglich auf eine falsche „Hochschulpolitik“ zielt, die zu leichtfertig jedem Begabten z.B. einen Orchesterplatz verspricht. Damit hätte er Recht.
Vielleicht wirkt hier immer noch nach, dass wir uns in Deutschland zu lange in einem historisch kleinteiligen, früher von Hofinteressen (mit vielen Theatern und Orchestern) geprägten Gebiet befinden und dass das „humanistische Bildungssystem“, das „Wahre, Gute und Schöne“ allzu lange alleinige Vorbildfunktion hatte. Die naturwissenschaftlichen Disziplinen galten erst Jahre später als Universitätsfächer gleichberechtigt.
Meine Verwandten und Freunde insbesondere in den angelsächsischen Ländern haben noch nie über „ausgehungerte Künste“ geklagt.
Es stimmt wohl, dass man einen „zahlenmäßigen Bedarf“ ermitteln müsste, aber natürlich ist es sicherlich genau so wichtig, auch weiter für ein entsprechendes Bedürfnis, der Lust, z.B. ein Instrument zu beherrschen, in unseren Familien und Bildungseinrichtungen zu werben.“
http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/themen/161658/index.html
Dazu das Interview mit Martin Roth:
http://www.3sat.de/mediathek/index.php?display=1&mode=play&obj=30268
Auf facebook gibt es eine Seite aus Schwerin, die sich gegen die Kürzungen im Kulturbetrieb aussprechen. Ich selbst kenne dort eine Familie, die in der Schweriner Kultur stark eingebunden ist. Jeder spielt ein Instrument, sie sind im Tanztheater, Auftritte weit über das Schweriner Schloß hinaus sind keine Seltenheit. Und das steht nun alles auf der Kippe.
Hier im Offenbacher Hbf hatte die kleine Offenbacher Kulturszene einen Raum. Hatte, denn es ist kein Geld da, weswegen sie wieder die Räumlichkeiten aufgeben mußten. Ich habe natürlich für den Erhalt unterschrieben, wünsche mir dort eine Begegnungsstätte wie sie der Frankfurter Südbahnhof aufweißt. Jetzt ist dort nur noch ein Zeitungshändler anzutreffen. Vielleicht hat sich dort auch die Bahn quergestellt, vielleicht ist es an den Instandhaltungskosten gescheitert (alles marode dort) und Offenbach ist sowieso pleite.
Eine Frankfurter Oper ist mir weltfremd, die Kultur der Straße dagegen nicht. Ich finde es immer traurig, wenn für die Obersten 10.000 Millionen Euro in die Hand genommen werden. Über die neue Schirn habe ich mir noch kein Urteil gebildet, aber da hätte man bestimmt was für die Offenbacher Kulturszene abzwacken können.
Berichtigung: Ich finde es immer traurig, wenn für die Obersten 10.000, Millionen Euro in die Hand genommen werden, für die Randszene aber nix bleibt.
(Ich vergeß immer die Hälfte… tschuldigung)
Noch eine Anmerkung:
Es ist natürlich auch eine Standortfrage, was für einen selbst kulturförderungswürdig ist. Gerade die Museenlandschaft hierzulande klammert sich an Dingen die ihnen nicht gehören oder handeln mit Fälschungen. Alles nur um im Licht zu stehen. Eine Mumie hat in Deutschland nix zu suchen, die gehört nach Ägypten. Raubgut aus der Nazizeit gehört an die Eigentümer zurück und Museen sollten diese nicht in Prozesse verstricken, die sie nie überleben werden. Auch ein weniger bekannter Name, kann das Frankfurter Schauspiel leiten. In 10 Jahren hat der einen Namen… Ich will damit sagen, vieles kann man auch auf kleinerer Flamme hervorragend kochen und die Subkultur kann man mitnehmen. Diese ist wichtig, sollte nicht außen vorgelassen werden.
Neben Grass gibt es noch andere Kulturen, die wenig bis keine Aufmerksamkeit bekommen. Ich möchte nur zwei Links hinterlassen. Zum einen beginnt morgen das Symposium InterKulturBarometer Deutschland
http://www.uni-hildesheim.de/index.php?id=7813
und zum anderen den Link zum Theater Pforzheim
http://www.theater-pforzheim.de/ensemble/theaterleitung/murat-yeginer.html
mit seinem Direktor Murat Yeginer. Auch er hat in einem Interview mit der Kulturzeit die Frage gestellt, ob es Sinn macht, fünf Operetten zu fördern, während er auf Sponsorensuche gehen muß. Leider ist das Interview und der dazugehörige Beitrag noch nicht in der Mediathek von 3sat (Kulturzeigt), zeigt dieser auch, wie Murat Yeginer arbeitet. Integration durch Theater.