In der Zeit des „great wide open“ bot das Leben grenzenlos Möglichkeiten
Von Frank Becker
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Die wichtigsten Jahre meiner persönlichen Entwicklung fielen zusammen mit der Phase des Aufbegehrens von Teilen der Jugend in der ganzen Welt gegen verkrustete, einengende Zustände und Ungerechtigkeit. Ein glückliches zeitliches Zusammentreffen für mich. Ein wichtiger Zufall kam hinzu: Meine Lehrfirma war an der Bockenheimer Warte, bei der Uni, die spätere Arbeitsstelle im Westend, alles nahe an den Brennpunkten des studentischen Protestes.
1947 als erstes Kind einer Nachkriegsfamilie in – damals eher normale – prekäre Verhältnisse geboren, sollte ich – so der Wunsch meiner alten Eltern – etwas „Anständiges“ werden. Also durfte ich als erster in der Familie die „Mittelschule“ besuchen. Für den Sohn eines Hilfsarbeiters mit zwei Weltkriegen als Soldat in den Knochen war das objektiv ein Aufstieg, aber subjektiv auch eine Hypothek. Als sehr mittelmäßiger Schüler absolvierte ich diese Zeit mit nur geringen Erfolgserlebnissen und entsprechend geringem Selbstbewusstsein. Dann änderte sich viel: Die Lehre begann und nach 17 Jahren bekamen wir endlich eine richtige Wohnung, klein aber mit eigenem Bad und Toilette am anderen Ende der Stadt. Eine Neuorientierung auf allen Ebenen stand an.
Als erstes besuchte ich regelmäßig die Dependance der Stadtbücherei und lieh mir Unmengen an Büchern aus, die ich dann auch gelesen habe aber nicht unbedingt immer verstanden (z.B. Dostojewski, Brecht, Peter Weiß, Zola, Huxley, Sartre, Camus, Nizan, Beckett und viele mehr). Ich sauge den Inhalt der Bücher wie ein Vakuum in mich hinein und bin nicht nur beeindruckt, sondern manchmal von den Aha-Erlebnissen und Erkenntnissen trunken.
Das Lesen half mir auch dabei, strukturierter zu denken und unterstützte den Beginn des Versuchs, vom Dialekt weg zu kommen. Dennoch waren diese Jahre noch weitgehend bestimmt von nur wenig rationalen Fantasien, Wünschen und Träumen, vieles an Verhalten ist aus dem „Bauch“ heraus gewachsen, so auch die immer stärker werdende Verbindung mit dem „spirit“ von 68, den ich, so glaube ich, spätestens ab 1965 für mich antizipiert habe.
Auf dem nachmittäglichen Rückweg von der Lehrstelle machte ich meist Station an der Hauptwache, wo immer was los war: Neben den Gammlern, Beatniks und Provos sind da auch ganz viele Leute in meinem Alter, die so etwas wie eine Szene bilden, die man dann auch in Musikclubs und freitags auf der Eisbahn wiedertrifft. Es macht besonders Spaß, die Spießer und alten Nazis zu provozieren, so haben wir nur darauf gewartet, dass Passanten sich über die Gammler aufgeregt haben und wie damals üblich, alle Langhaarigen ins Arbeitslager oder in die Gaskammer schicken wollten, die haben wir dann verbal so runtergeputzt und als Nazis enttarnt, dass sie gemerkt haben, hier gibt’s für sie keinen Beifall und abgezogen sind.
Im Stadtteil kam ich schnell in Kontakt mit Jugendlichen, die auf einer ähnlichen Wellenlänge waren. Später gehörte ich zu den Initiatoren eines kleinen selbstverwalteten Jugendraums, den die Kirche zur Verfügung stellte. Wir saßen oder lagen auf Matratzen, eine Musikanlage wurde organisiert und heftig genutzt (von Stones bis Schönberg), es wurde lange und tiefgehend über alles diskutiert. Wichtig dabei war, dass hier unter uns ohne Tabus und Konventionen diskutiert wurde, ohne dass die Ja-aber-Rhetorik der „vernünftigen“ Erwachsenen jede utopische, vielleicht auch verrückte Idee abgewürgt hat. Und wir kamen fast alle aus dem gleichen Milieu: Sozialer Wohnungsbau, Schülerinnen und Lehrlinge, unangepasste Auf- und Absteiger, aber keine Studenten.
Ich musste zur Musterung und stellte den Antrag auf Kriegsdienstverweigerung und machte erste zaghafte Versuche, die Haare etwas wachsen zu lassen, was mit Druck von allen Seiten einherging. Auch meine Eltern hatten damit große Probleme: Sie schämten sich offenbar, einen „Langhaarigen“ als Sohn zu haben, der „Negermusik“ hört und dann auch noch selbst spielt.
Für meine Ausbilder und manchen Mitarbeiter in der Lehrfirma waren meine nur leicht längeren Haare ein Stein des Anstoßes. Dauernd wurde ich ermahnt, mein Aussehen doch der Bedeutung meines Berufes anzupassen und die Haare zu schneiden: damit war der damals übliche Fassonschnitt – ein deutsches Restkulturgut aus der Nazizeit – gemeint. In der Kantine hat man mir schon mal statt des Bestecks eine Schere neben den Teller gelegt. Aber diese langen Haare wurden dadurch für mich nur noch wichtiger, natürlich auch, weil die Mädchen darauf standen.
Ich war viel mit Freunden per Anhalter unterwegs, meist nur an den Wochenenden z.B. nach Köln oder nach München zum Oktoberfest, aber auch schon ganz weit, bis Norditalien oder zuletzt an die Côte d’Azur und dann allein ins revolteschwangere Paris für 10 Tage, zwei Jahre vor dem Mai 68. Die frühen Vibrationen der Revolte und dazu den Geruch der Metro werde ich nie vergessen. In Frankfurt zurück, getraute ich mich dann zum ersten Mal, an einer Studentendemo teilzunehmen. Ich bin dabei, wenn es gegen Unrecht und Unterdrückung geht.
Zu Ostern 1967 hatte ich den Abschluss als Industriekaufmann und war dann Angestellter bei meiner Lehrfirma. Dort gab es eine Tätigkeit, die mir richtig Spaß machte. Im Souterrain eines Hauses im Westend standen die riesigen Maschinen von IBM, die dem Zeitalter der Computer vorangingen. Das Speichermedium dieser Zeit war die Lochkarte, die zehntausendfach hier verarbeitet wurde. Dafür gab es Sortiermaschinen, Doppler, Tabelliermaschinen (heute würde man Drucker sagen), die die Größe eines Mittelklassewagens hatten und als Krönung den Rechner in Größe eines Gewerbekühlschranks, der ein wenig rechnen konnte. All diese Monster lernte ich dank der mehr oder weniger hilfsbereiten Kollegen kennen und bedienen, später gar über Stecktafeln und Kabel zu programmieren.
Kurz danach, an meinem 20. Geburtstag, wurde Benno Ohnsorge erschossen, während ich mit Freunden am Lagerfeuer feierte. Spätestens seit dem Tag danach war ich so eine Art Feierabendrevoluzzer: tagsüber berufliche Höchstleistungen, danach gegen das Establishment: beides macht Riesenspaß. Und nachts lesen. Es beginnt die Zeit des „great wide open“ als Lebensgefühl – Alles ist möglich, ich sehe für mich keine Grenzen der Entwicklung aber genauso wenig ein bestimmtes Ziel. Allein die Vorstellung, dass mir alles möglich ist, euphorisiert mich und deckt alle Widersprüche zu.
Ich bin auf fast allen Demos mit dabei, spätestens ab Ostern 68 und dem Dutschke-Attentat, von dem ich in Amsterdam erfahre und sofort zurück nach Frankfurt düse und am Ostermontag schon im Getümmel an der Frankenallee bei Springer bin. Aber ich habe auch ganz klar Angst, mich ganz vorne dran zu stellen denn ich bin und bleibe gewaltfrei. Das war der umdefinierte olympische Geist: Nicht siegen, Dabeisein ist wichtig.
Ansonsten bin ich auch viel unterwegs, seit Ende 67 mit meinem ersten Auto, einem Uralt R4, habe den roten Punkt am Auto, nehme viele Leute mit aber trampe auch selbst noch viel.
Immer noch konsumiere ich stapelweise Literatur: Ich lese alles, was mir in die Hände fällt; das Vakuum ist immer noch aktiv. Drogen wurden auch ein Thema, irgendwelche Husten und Aufputschmittel – legal aus der Apotheke gab es damals einiges – wurden ausprobiert, aber na ja, kein Grund süchtig zu werden. Illegale Drogen spielten damals kaum eine Rolle, auch weil sie teuer waren, bzw. nur sehr schwer zu erhalten waren oder Garnichts bewirkten, d.h. man wurde eigentlich immer übers Ohr gehauen, wie einmal, als wir viel Geld für LSD ausgegeben hatten und dann stundenlang im Wald vergebens darauf warten, dass irgendwas passiert.
Und natürlich hat die Musik eine wichtige Rolle gespielt. Schon früh hat mich da etwas angerührt, in den Bann gezogen und Horizonte geöffnet. Dabei war ich nie Fan von einzelnen Sängern oder Gruppen, aber durchaus von ihrer Musik. Dylan als Mensch ist mir bis heute ein Rätsel; ich habe ihn als Person nie bewundert, aber seine Musik (und eben nicht nur die Texte, für die er nicht zu Unrecht den Nobelpreis erhalten hat) ist immer noch eine Offenbarung, vor allem die Stücke aus den Sechzigern. Wenn ich heute ab und an in youtube stöbere und mir die Musik der Sechziger und frühen Siebziger Jahre erinnere, kommt immer auch das komplexe Gefühl von damals zurück ins Bewusstsein, da wird die ganze sinnliche Palette der Töne, der Gerüche, der Orte, der Aura bestimmter Personen, der Sehnsüchte und der Erwartungen wieder spürbar, weil sie mit der Musik zumindest partiell wieder an die Oberfläche kommen. Mein Zugang zur Musik dieser Jahre war eigentlich immer über die Melodie, den Rhythmus, den Beat vermittelt, die Sprache kam in der Regel immer danach und oft erst Jahre später, als ich besser Englisch konnte.
Mein 1968 dauerte also ein paar Jahre und heute bin ich dankbar, dass diese Zeit so zentral meine persönliche Entwicklung beeinflusst hat. Auch wenn viele unserer damaligen Utopien nicht wirklich geworden sind, haben sie mir doch die entscheidenden Perspektiven geöffnet.
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Der Autor
Frank Becker, geboren 1947 in Frankfurt.
1973 Abi auf dem zweiten Bildungsweg,
Studium als Diplompädagoge, Tätigkeiten in der Jugendarbeit,
in Beratungsstellen und Seniorenarbeit.
Seit 2011 Rentner. lebt in Frankfurt.
Verheiratet, eine Tochter, zwei Enkel.
Bild: privat
Obwohl Vernunft, Geist, Moralität, Erkenntnis und Glückseligkeit keiner, der noch bei Trost ist, als Angelegenheiten der gesamten Menschheit bestreiten kann, steht insbesondere diejenige hoch leistungsfähige Gestalt des Geistes vor der nahezu kompletten Ausrottung, die einen vertieften Einblick in die Verhältnisse einer modernen Gesellschaft erlaubt. Die gegenwärtig immer aggressiver um sich greifende Lust an der Zerstörung könnte insofern entsetzlicher nicht sein. Angesichts dessen von einem „great wide open“ zu reden, verbietet sich inzwischen längst. Die Verluste in den vergangenen fünfzig Jahren sind immens. Ob die Kräfte noch einmal dafür mobilisiert werden können, die Begriffe neu zu gewinnen, ist zunehmend ausgeschlossen. In den Genuss der Erfahrungen, die Herr Becker damals machen konnte, kommen aller Voraussicht nach künftige Generationen nicht mehr. Die Verwüstungen haben mittlerweile ein Ausmaß angenommen, das alles bisher Dagewesene bei weitem übersteigt. Ein Innehalten in den wissenschaftlich auf das Schärfste kritisierten Praktiken ist dabei nicht zu erwarten.
Das, Frank Becker, was Sie zur Rolle und Wirkung der Musik damals (mit Langzeitwirkung)sagen, kann ich sehr unterstreichen. Ohne die Protestsongs, ohne den Rock, den Blues und auch „Psycodelic“ (etwa ‚Greatful Dead‘). Mit Bob Dylan geht es mir so ähnlich wie Ihnen. Als Mensch werde ich aus ihm nicht schlau, aber ein Großteil seiner Musik hat Bestand.
Wir machen weiter – irgendwie.
In der Hoffnung, dass Bronski nicht wieder Einspruch erhebt und meinen Beitrag löscht, möchte ich meinen am 25. Juni geposteten Leserkommentar ergänzen: Der Entscheid, ob die Befriedigung des Individuums, so angenehm sie insbesondere für Sadisten und deren Projektionen sein mag, in einer toten Gesellschaft geschieht oder ob das Glück des Einzelnen in einem lebendigen Gemeinwesen gesucht wird, bemisst sich einzig daran, welche Perspektiven für eine Gestalt des Geistes eröffnet sind, der eine möglichst tiefe Einsichtnahme in die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse gestattet. Bleiben die Grundlagen weiterhin unbegriffen, auf denen vor allem soziale Innovationen fußen, nützt es nichts, die nächstgreifbare Person zur Rechenschaft zu ziehen und beispielsweise wie von Sinnen „Merkel muss weg!“ oder „Volksverräterin!“ lauthals zu krakeelen. Die Situation wird durch Letzteres bloß noch unhaltbarer und ein gedeihliches Zusammenleben mit gleich welchen Menschen rückt in unerreichbare Ferne. Wenn man so will, ließe sich daher resümieren, dass die momentane Regression auf unzähligen Feldern sichtbarer Ausdruck einer völlig enthemmten Selbstzerstörung ist, die eigentlich spätestens seit den Ereignissen im Frühjahr 1968 überwunden sein sollte.
@ Ralf Rath
Ich möchte Ihnen Ihre obige „Einsichtnahme in die gesmtgesellschaftlichen Verhältnisse“ nicht ganz absprechen. Auch das mit „einer völlig enthemmten Selbstzerstörung“, wenn ich Ihren Kontext nicht mißverstanden habe.
@Jürgen Malyssek
Zwar eilt mir seit inzwischen bald einem Vierteljahrhundert der Ruf voraus, dass ich eine Gefahr für mich selbst und die Rechtsgüter anderer bin. Weil vor Gericht solch eine äußerst beliebige Behauptung keinerlei Bestand hat, zerstöre ich mich erwiesenermaßen nicht eigenhändig. Die Zuschreibung dient lediglich dazu, mich in aller Öffentlichkeit zu diskreditieren. Es handelt sich um eine sadistische Projektion Dritter, die meine Person zum Objekt herabwürdigt und ihr dadurch jegliche Subjektivität abspricht. In Wirklichkeit blicke ich demnach aus zutiefst nichtigem Anlass meiner Preisgabe entgegen. Wissenschaftliches Arbeiten ist mir längst unmöglich geworden. Ich bin schon froh, wenn ich bloß überlebe.
Lieber Herr Rath,
so recht verstanden habe ich nicht, woran in meinem Text sich ihr Kommentar andockt. Auch wenn ich inhaltlich mit manchem was Sie ansprechen, mit etwas Mühe d’accord gehe, stört mich doch ihr Duktus. Mein Vater hatte dafür einen adäquaten Ausdruck: „Der hat die Weisheit mit Löffeln gefressen“ . Dennoch danke für Ihr Interesse
@Frank Becker
Genauso wie Sie Ihre soziale Lebenslage verstehen möchten, bin ich daran interessiert, Aufschluss darüber zu gewinnen, weshalb geistig äußerst mühevoll über mehrere Jahrzehnte hinweg erbrachte Arbeitsleistungen immer noch nicht fruchten. Die Erklärung Ihres leiblichen Vaters, dass es allein an mir liegt, weil ich angeblich die Weisheit mit Löffeln gefressen habe, ist demnach keine Antwort sowohl auf Ihre als auch auf meine Frage. Im Gegenteil. Sie verschlimmert sogar die ohnehin inzwischen unhaltbar gewordene Situation. Läge der Fehler tatsächlich bei mir, würde eine einfache Verhaltensänderung genügen und alles löste sich in Wohlgefallen auf. Das kann ernsthaft nicht Ihr Appell an mich sein. Immerhin ging es spätestens im Frühjahr 1968 darum, Ansatzpunkte für den Bruch mit Machtstrukturen ausfindig machen, die ökonomische Verhältnisse aufrecht erhalten, über die einerseits die Kräfte und andererseits die Bedürfnisse längst hinausgewachsen und daher notwendig als überkommen zu kritisieren sind.
Angesichts den mannigfachen Herabwürdigungen hier im FR-Blog weiß ich bald nicht mehr, wie ich mich äußern kann, ohne Gefahr zu laufen, wiederholt aus zutiefst nichtigem Anlass heraus in meiner Integrität infrage gestellt zu werden. Das, was ich hier schreibe, soll gemäß der Auffassung nicht weniger Kommentatoren völlig unverständlich sein. Außerdem tue ich angeblich nur klug. Tatsächlich soll ich strohdumm sein. Mir hilft in solchen Momenten die Erinnerung an das Johannes-Evangelium, Kapitel 1, Vers 5: „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen“. Das bedeutet, dass mein menschliches Wesen stets außerhalb der besagten Relativierungen existiert und jene mich niemals erreichen werden, weil ökonomisch-gesellschafliche Mechanismen zuvor meine Anwesenheit entziehen, solange der unzulässige Zugriff Dritter kein Ende findet. Wie Pastor Gehring wende auch ich mich daher gegen die vorherrschende Theologie, die eine Erlösung von den dadurch eintretenden Qualen verspricht, obwohl realiter noch nie ein Grund dafür bestanden hat.