Im Dauerlauf zur Societäts-Druckerei ins Gallusviertel
Von Dieter Hooge
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Ich bin 1943 in der Nähe von Münster in Westfalen geboren. Aufgewachsen bin ich in einer Kleinstadt nams Lienen am Teutoburger Wald. Nach Hauptschule und Maschinenschlosser-Ausbildung und aktiver ehrenamtlicher Tätigkeit in der IG Metall kam ich 1966 nach Frankfurt an die Akademie der Arbeit.
Am 1. Oktober 1967 begann ich eine Ausbildung als „Fachlehrkraft für Arbeitsstudien“ an der DGB-Bundesschule Bad Kreuznach. Dort war ich aktiv bei den Jusos und der IG Metall-Jugend. Darüberhinaus habe ich mich in Bad Kreuznach aktiv an der Gründung einer Apo-Gruppe „Demokratisches Forum“ zusammen mit etwa 15 Jugendlichen beteiligt. Ich wurde zum Vorsitzenden des Forums gewählt.
Unsere Haupttätigkeit in dieser Zeit waren Aktivitäten gegen den Krieg der USA in Vietnam. Bad Kreuznach war ein wichtiger Stützpunkt der US- Army. Es gab einen Hubschrauber- Landeplatz und einen umfänglichen Kasernen-Komplex.
Dieter Hooge im Jahr 1968
auf einer Demo gegen
den Vietnamkrieg.
Foto: privat.
An das Jahr 1968 sind mir einige gravierende Erlebnisse in Erinnerung, insbesondere um Ostern herum im April, aber auch schon zu Beginn des Monats Februar. Am 17. und 18. Februar fand an der FU in Berlin ein Kongress gegen den Vietnamkrig der USA statt. Ein wichtiger Wortführer auf diesem Kongress und in der 68er Studentenbewegung war Rudi Dutschke. Er forderte u. a. die US Soldaten in der BRD zur „massenhaften Dessertation“ auf und zu einer Verstärkung von Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, die dann auch stattfanden.
Es gab aber auch am 21.2.1968 eine große pro-amerikanischen Demonstration in Berlin. Eine besonders herausstechende Parole dieser Demonstration lautete „Dutschke Staatsfeind Nr.1“. Besonders die Springer Presse – und hier die Bild-Zeitung – tat sich hauptsächlich hervor. Sie schoss sich im wahrsten Sinnen des Wortes – wie sich später zeigte – bei ihrer scharfen Kritik auf Rudi Dutschke ein.
Am 11. April des Jahres 68 fiel dann Rudi Dutschke einem Attentat zum Opfer. Der arbeitslose Hilfsarbeiter Bachmann, wie es damals hieß, schoss auf Dutschke und verletzte ihn schwer. Bei ihm wurde bei seiner Verhaftung eine Ausgabe der rechtsradikalen Nationalzeitung gefunden mit der Schlagzeile „Stoppt den roten Rudi jetzt!“ Diese Ereignisse wühlten uns in Bad Kreuznach natürlich total auf.
Unsere „Demokratisches Forum“ beschloß die aktive Teilnahme am Ostermarsch 1968. Zunächst am 1. Ostertag, dem 14. April, begaben wir uns nach Baumholder in Rheinland-Pfalz, um an einem der größten US Stützpunkte gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren. Diese Demonstration fand in einer gespenstischen und bedrückenden Atmosphäre statt. Wir mußten uns in einem Spalier von hunderten schwer bewaffneten US Soldaten bewegen. Wir liefen dort, soweit ich mich erinnere, lautlos durch.
Am 2. Ostertag, dem 15. April 1968, nahmen wir an der Abschlusskundgebung der Ostermarsches in Frankfurt teil. Der Römerberg war ziemlich voll. Hauptredner war der Marburger Professor Wolfgang Abendroth. Am Ende seiner Rede ging er auf die Rolle der Springerpresse ein, deren – wie er sagte: „Hetze gegen Rudi Dutschke“ – sicher auch einen Anteil an dem Attentat gehabt hätte. Daraufhin foderte uns Abendroth auf, doch im Anschluß an die Kundgebung der Societäts-Druckerei im Frankfurter Gallusviertel einen Besuch abzustatten, in der Teile der Bildzeitungsauflage gedruckt wurden.
Spontan begannen nun tausende Demonstraten einen Dauerlauf (heute würde man joggen sagen) in Richtung Galluswarte. Diese Demonstration war nicht genehmigt. Deswegen forderte uns die Polizei bei der Socieitäts-Druckerei auf, uns aufzulösen. Das taten wir natürlich nicht. Daraufhin wurden Wasserwerfer eingesetzt und berittene Polizei, die mit langen Gummiknüppeln auf die Demonstraten einschlugen. Irgendwann gelang dann die Beendigung der Demonstration.
Als ich 1969 nach nach Frankurt umzog und beim hessischen DGB tätig wurde, erlebte ich häufiger Polizeieinsätze, bei denen ich immer wieder die Verhältnismäßigkeit, wie 1968, vermisste.
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Der Autor
Dieter Hooge, geboren 1943
in Ostbevern, lebt seit 1969
in Frankfurt. Er war unter anderem
von 1995 bis 2002 Landesvorsitzender
des DGB Hessen. Seit 2013 bis heute
ist er Mitglied im Ältestenrat der Linken.
Bild: privat.
Der arbeitspolitische Konservatismus wäre nicht wohlbegründet, sondern gegenstandslos, wenn die Arbeiter nicht stets über einen eigenen Begriff von der empirisch stets vollständigen Wirklichkeit verfügen würden. Der mitunter erhobene Anspruch, ihnen Soziologie zu bringen, ist demnach von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie jene längst schon haben. Erklärtermaßen baut darauf die AdA (Akademie der Arbeit) seit Anbeginn konzeptionell auf. Entsprechend sind sämtliche Versuche, Arbeiter von außen darüber aufzuklären, wie angesichts des vorherrschenden Kapitalverhältnisses gleichsam der Hase läuft, mehr als müßig. Wenn also Rudi Dutschke seinerzeit nach dem Attentat auf ihn insbesondere dem Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) an der Göttinger Georg-August-Universität seine Aufwartung macht, dann nicht deswegen, um Informationen aus erster Hand zu erhalten. Vielmehr kann damals das Gespräch sich lediglich darum gedreht haben, dass eine Existenz als Berufsrevolutionär (siehe die Einlassung seiner Ehefrau eingangs der fragmentarischen Autobiographie mit dem Titel „Aufrecht gehen“) schon systematisch jegliche Aussicht auf Erfolg vermissen lässt. Der im FR-Blog veröffentlichte Bericht von Herrn Dieter Hooge müsste insofern ergänzt werden und sollte nicht verschweigen, dass manches Ansinnen seit den Unruhen im Jahr 1968 bis heute unter völlig falschen Vorzeichen erfolgt.
Zur Wahrheit gehört übrigens auch, dass der arbeitspolitische Konservatismus, der das nackte Überleben des Einzelnen vor allem in Industriebetrieben ermöglicht, nicht erst in jüngster Zeit Gegenstand unzähliger Versuche ist, ihn den Arbeitern flugs wieder zu entwenden. Kommen etwa Betriebsräte oder Gewerkschaftsfunktionäre auf die Idee, längst unabweisbar auf dem Tisch liegende Erkenntnisse zur Frage, was würdige Arbeit ausmacht, von demselben zu wischen, hält sie kaum noch einer für fehl am Platze. Inzwischen gewinnen solch zwielichtige Gestalten mit eben jenen Praktiken sogar eine Wahl nach der anderen und erfahren eine bislang nicht gekannte Zustimmung unter den Belegschaften. Die eigenen Kollegen lassen auf diese Weise ohne mit der Wimper zu zucken diejenigen Betriebsangehörigen buchstäblich über die Klinge springen, die daran ihre berechtigte Kritik üben. Der vielfältige und unter normalen Umständen gesicherte Erfahrungsschatz, der über die Generation hinweg vererbt ist, sieht letztlich seiner Preisgabe entgegen. Daran kann sehr anschaulich abgelesen, welch verheerende Wirkungen ein Handeln unter falschen Vorzeichen nach sich zieht. Gerade die Daimler AG, die historisch sich um eine „gemeinsame Werksprache“ (siehe die von Rosenstock-Huessy als dem späteren Leiter der AdA dort bereits Anfang der 1920er Jahre editierte Zeitung) Verdienste erworben hat, ist momentan mit ihrer Fabrik in Untertürkheim der Hauptschauplatz der besagten Umtriebe Dritter, wenn man den Berichten einschlägiger Publikumszeitschriften Glauben schenkt.
Die exemplarische Auseinandersetzung bei der Daimler AG um einen Begriff, der allen unter der Belegschaft notwendig einen eigenständigen Zugang zur Wirklichkeit gestattet, hat für mich persönlich dabei einen sehr hohen Stellenwert. Auf die Frage, wer, gemessen am Abschlusszeugnis, der bessere Mechaniker ist, antwortete mir die DaimlerChrysler AG als deren Rechtsvorgängerin am 15. Januar 2007: „Sie waren besser als Gottlieb Daimler …“. Nicht ich habe mich demnach insbesondere am Göttinger Ansatz (Dörre, K.: Arbeitssoziologie und Industriegesellschaft. Der Göttinger Ansatz im Rück- und Ausblick, in: Schumann, M.: Das Jahrhundert der Industriearbeit. Soziologische Erkenntnisse und Ausblicke, Weinheim/Basel, 2013, S. 163-194) zu orientieren, sondern die dort betriebene Forschung an der Praxis eines solchermaßen existenziell ausgetragenen Konflikts. Nicht zufällig bezeichnet der heutige Senior Präsident des SOFI seine eigenen Anstrengungen, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, deshalb als eine „praxisorientierte Industriesoziologie“ (in: Wetzel, D.; Hofmann, J.; Urban, H.-J.; (Hrsg.): Industriearbeit und Arbeitspolitik. Kooperationsfelder von Wissenschaft und Gewerkschaften, Hamburg, 2014, S. 20-31). Angesichts dessen könnte vorläufig resümiert werden, dass zwar die Arbeit am Begriff bei weitem noch nicht abgeschlossen ist, aber im Jahr 1968 die ersten nennenswerten Anstalten unternommen wurden, wenigstens die Verhältnisse vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen.
Bei der von Dieter Hooge beschriebenen Abschlusskundgebung 1968 auf dem Römerberg war ich ebenfalls dabei. Hinzufügen möchte ich noch, dass am Ende Joan Baez herself ein Grußwort an die Teilnehmer richtete und ihr berühmtes „we shall overcome“ sang. Es war zum Niederknieen schön…..
Zur Galluswarte begab ich mich auf die gleiche Weise wie Herr Hooge, nämlich joggenderweise. Ich war damals fast 25 und ein junger Handballspieler, also kein Problem. Das Ziel war, die Auslieferung der Frankfurt-Ausgabe der „Zeitung“ Bild zu verhindern, die damals genau dort gedruckt wurde, wo heute die FR ihre Heimstatt hat. Die Erfahrungen mit der berittenen Polizei vor Ort machte ich ebenfalls, mich erwischte eine Reitgerte am Ohr.
Die Frankfurter Staatsanwaltschaft richtete in den darauffolgenden Tagen eine Meldestelle ein, bei der man die Übergriffigkeiten der Polzei anzeigen konnte.
Den damals stattfindenden politischen und kulturellen Aufbruch hielt ich für erforderlich, nämlich der ganzen vorherrschenden konservativen Selbstgerechtigkeit und Heuchelei an’s Bein zu pinkeln, wenn nicht mehr.
Diese waren im Bunde mit lächerlich gekleideten alten Männern, die mit wichtigtuerischem Gesichtsausdruck durch Kirchenschiffe schritten, wobei mindestens einer von denen eine Rede an die dort Versammelten hielt, bei der ich mich immer fragte „glaubt der das wirklich?“ Die Antwort die ich mir geben musste war stets „ich kann nicht glauben, dass der das glaubt“…..
Damals war ich in einem Frankfurter mittelständischen Betrieb beschäftigt
-hatte im Alter von 16 Jahren meinen Gesellenbrief erworben- für das ich letztendlich in unterschiedlichen Funktionen mehr als 30 Jahre tätig war. Der Eigentümer dieser Firma -der täglich in seinem Büro erschien- war am Wohl seiner Mitarbeiter sehr interessiert.
So gewann ich sehr bald den Eindruck, dass der konservativen Selbstgerechtigkeit nun innerhalb der damals entstandenen sozialistischen Gruppen ein eigener Dogmatismus und eine eigene Selbstgerechtigkeit entgegengesetzt wurde, ich musste als „lohnabhängig Beschäftigter“ nicht befreit werden.
Damals schon SPD-Mitglied, wurde meine Zustimmung zu „68“ selektiv, dennoch empfinde ich noch heute die daraus entstandenen Impulse positiv für Europa und viele andere Teile der Welt, die davon ebenfalls beeinflusst wurden.
Dass dieser Thread ein „toter Ast“ ist, wie Manfred Schmidt vor wenigen Stunden verlauten ließ, kann zumindest ich nicht nachvollziehen. Insbesondere Industriearbeiter waren noch nie Hinterweltler (in Anlehnung an Nietzsches „Also sprach Zarathustra. Von den Hinterweltlern“), die hinter den tagtäglichen Erscheinungen vor allem im Betrieb eine verborgene Macht wie etwa ein Gelage der Götter oder eine Intrige der Reichen vermuteten, die es unbedingt von der wissenschaftlich betriebenen Aufklärung zu enthüllen gilt. Jedwede Theorie, welche den Anspruch erhebt, endlich Auskunft darüber zu geben, was gleichsam hinter den Bergen vor sich geht, erübrigt sich angesichts dessen von vornherein. Es nimmt somit nicht wunder, dass die aus dem Jahr 1968 stammenden Weltveränderungswünsche mancher Intellektueller, die immer noch im Arbeiter das revolutionäre Subjekt sehen und die sich ungeachtet der diversen Lebenslagen nach wie vor um eine einheitsstiftende Erzählung bemühen, bis heute unerfüllt bleiben.
Hallo Herr Rath,
erstaunt bin ich, wie Sie meine Formulierung „toter Ast“ interpretieren.
Aber wie immer können Sie Ihre Interpretation durch das Anführen irgendwelcher Gedanken und Aussagen kluger Leute belegen…..
Wenn Sie erlauben möchte ich „den toten Ast“ aufklären.
Diese Formulierung wählte ich, weil in diesem Thread seit dem 19.Februar kein Kommentar (außer meinem von heute) mehr abgegeben wurde, er also nicht weiterwuchs…. Es ist nicht immer alles so dramatisch.
Mir scheint im Zusammenhang mit den politischen Umbrüchen, die spätestens im Jahr 1968 ihren Ausgang nahmen, noch wichtig zu sein, dass in der Diskussion wenigstens hier im FR-Blog von den gesellschaftlichen Tatsachen (faits sociaux) ausgegangen wird, die besagen, dass nicht nur schwere körperliche, sondern auch die enormen Mühen geistiger Arbeit in den seltensten Fällen mit Wohlbefinden einhergehen. Insofern könnte es illusorischer nicht sein, im Zuge einer dadurch rasch fortschreitenden Erkenntnis geringere Qualen zu erwarten. Vielmehr liegt es in der Natur der Sache selbst, umso mehr leiden zu müssen, je mehr Einblick der Einzelne in die empirisch stets vollständige Wirklichkeit gewonnen hat. Dafür ist nicht das Kapitalverhältnis verantwortlich; auch wenn sich heutzutage immer noch welche auf Marx und dessen Kritik berufen, dass „das Kapital … daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters (ist), wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird“ (MEW 23: 285). Die allen voran von der Industriegewerkschaft Metall in der jüngsten Vergangenheit geforderte „Anti-Stress-Verordnung“ zeugt somit von einer ideologischen Verblendung, die, im Lichte der Notwendigkeiten betrachtet, kaum noch mit dem Verstand zu fassen ist.
@ Ralf Rath
Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sprechen sie von den Mühen zunehmender (möglicherweise) Erkenntnisse in die Vorgänge gesellschaftlicher Wirklichkeit, die, je mehr davon gewonnen werden, umso mehr Qualen mit sich bringen.
Kein abwegiger Gedanke.
@Jürgen Malyssek
Ja, Sie haben mich durchaus richtig verstanden. Je mehr nennenswerte Teile der hiesigen Bevölkerung ökonomische Verhältnisse aufrecht erhalten, die spätestens seit den Ereignissen des Jahres 1968 überkommen sind, desto quälender fällt heute die Erkenntnisgewinnung vor allem in der Königsdisziplin anwendungsorientierter Grundlagenforschung aus. Das kann bis zu ihrer völligen Unmöglichkeit führen. Die unlängst versprochenen Milliardenprogramme für Bildung und Forschung laufen dann geradewegs ins Leere, weil ihnen dadurch schlicht der Gegenstand in unerreichbare Ferne gerückt ist. Anstatt die schwersten Bürden zu erleichtern, eskalieren die Lasten bis ins Unerträgliche hinein.
@ Ralf Rath
Auch hier meine ich Sie ganz gut verstanden zu haben: Man kann noch so viele Milliarden in Bildung und Forschung pumpen, wenn der Gegenstand selbst inzwischen ganz andere ökonomische Wege eingeschlagen hat und in seiner ursprünglichen Idee und Form nicht mehr einzuholen ist.
Unser Fortschrittsgedanke ist schon längst in der Herrschaft der Giganten der neuen Techniken und der globalen Verwertung in Rüstung, Konsum und Überwachung.
Statt Erleichterungen (wie Sie sagen) und neues Nachdenken über die bestehenden autoritären Herrschaftssysteme, Besinnung auf die Werte der Aufklärung und was weltbürgerliche Bildung bedeutet(e) – mehr von demselben.
Das waren nicht die eigentlichen Befreiungsideen der 1968er!
@Jürgen Malyssek
Was mir am meisten zu schaffen macht, ist, dass in Zeiten zunehmender Regression jedwede Spitzenforschung nur noch um den Preis eines enormen Verschleißes der dazu benötigten Arbeitskraft überhaupt Aussichten darauf hat, jemals Wirklichkeit zu werden. Was heute in Sonntagsreden (wie erst jüngst der baden-württembergische Ministerpräsident anlässlich der Einberufung einer Expertenkommission unter dem Dach des in Berlin ansässigen Zentrums Liberale Moderne) als Erstklassigkeit bezeichnet wird, ist in Wahrheit gegenwärtig bloß noch Mittelmaß. Im globalen Diskurs nicht mehr reüssieren zu können, bedeutet aber mehr über kurz als lang den Verlust der Eigenständigkeit. Der autonome Wissenschaftler, wie ihn sich Adorno noch im Frühjahr 1968 vorgestellt hat, gehört dadurch inzwischen einer aussterbenden Spezies an.
Ergänzung zu meinem um 17:32 Uhr geposteten Kommentar an die Adresse von Jürgen Malyssek: Vielleicht am schwersten zu ertragen ist momentan der Umstand, dass eine der reichsten Stiftungen im Land die fragliche Kommission mit dem Titel „Sicherheit im Wandel – Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Zeiten stürmischer Veränderung“ materiell in erheblichem Umfang fördert; wobei tatsächlich das hiesige Gemeinwesen schon seit längerem weit von einer gesellschaftlichen Erneuerung entfernt ist und insofern bestenfalls ein rasender Stillstand und keineswegs „Zeiten stürmischer Veränderung“ zu konstatieren sind. Die in Rede stehende Stiftung reicht ihre Gelder demnach für ein Vorhaben aus, das einen von vornherein realitätsuntüchtigen Ansatz verfolgt. Meine Anfrage aufgrund dessen beim Innenministerium in Stuttgart beschied der zuständige Beamte abschlägig, indem er mir erläuterte, dass Stiftungen stets darin frei sind, ihre Mittel unwirtschaftlich zu verwenden, solange sie nicht gegen geltendes Recht verstoßen.
@ Ralf Rath
Antworte Ihnen morgen. Stecke noch bei der „Essener Tafel“ fest.
@ Ralf Rath
Dazu kann ich nur sagen, dass ich mir heutzutage nur noch schwerlich eine Wissenschaft und Forschung vorstellen kann, die unabhängig von Profit- und Absatzorientierung der mächtigen Wirtschafts- und Handelskonzerne wirkt.
Wa die hehren Worte des amtierenden Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg betreffen, so ist dieser in seinem wirtschaftsstarken Land ganz klar der Verwalter und Unterstützer jedweden gewinnbringenden technologischen Fortschritts und sieht sich der Wachstumsidee (auch als Grüner) widerspruchsfrei verpflichtet.
Sie stellen, Herr Rath, gegenüber das Motto dieser reichen Stiftung „Sicherheit im Wandel …“ und den tatsächlichen Zustand des Gemeinwesens.
Der „rasende Stillstand“ ist für mich, auch außerhalb Ihres Landes-Beispiels, ein passendes Synonym für das, was uns als „stürmischen Fortschritt“, „stürmische Veränderung“ von seiten des Turbokapitalismus unaufhaltsam verkauft wird – egal wer und was auf der Strecke bleibt.
Auch an diesem Beispiel können wir von zwei Welten der Wahrnehmung von Vorstellung und Realität sprechen, bei der es schließlich darum geht, wer die Oberhand behält. Was wiederum nicht schwer zu erraten sein dürfte.
Da Sie Adorno ins Spiel bringen, so bin ich noch fündig in „Minima Moralia“ geworden: Es ist der Aphorismus ‚Nicht anklopfen‘ (S. 42), der so endet: „Am Absterben der Erfahrung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dinge unterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eine Form annehmen, die den Umgang mit ihnen auf bloße Handhabung beschränkt, ohne einen Überschuß, sei’s an Freiheit des Verhaltens, sei’s an Selbständigkeit des Dinges zu dulden, der als Erfahrungskern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vom Augenblick der Aktion.“
@Jürgen Malyssek
Dass unter allen Umständen der „Erfahrungskern überlebt“, zeigt mehr als augenfällig an, wie überaus einfältig es ist, wenn eine Machtstruktur aus Verbänden einschließlich den Gewerkschaften, politischen Apparaten und Bürokratien den eigenständigen Forscher wie etwa einen Absolventen der Europäischen Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main preisgibt. Besserem Wissen frontal zuwider erfahren solch ungute Praktiken jedoch immer noch eine materielle Förderung vonseiten der hiesigen Stiftungen bürgerlichen Rechts. Auf diese Weise feiert Einfalt auch fürderhin ungebrochen fröhliche Urständ. Sogar Jürgen Kaube als einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen bat vorgestern angesichts dessen inständig und öffentlich im dortigen Feuilleton darum, schleunigst Ansatzpunkte für den Bruch ausfindig zu machen, die das Ungute endlich umstürzen.
@ Ralf Rath
Werde versuchen an die FAZ vom 6.3., Feuilleton ranzukommen. Gegebenenfalls kann ich dann nochmal auf das von Ihnen zuletzt Gesagte nochmals eingehen.
@ Ralf Rath
Habe Jürgen Kaube in der FAZ nicht mehr gefunden.
„… schleunigst Ansatzpunkte für den Bruch ausfindig zu machen, die das Ungute endlich umstürzen“.
Ich sehe die bescheidene Möglichkeit einer langsamen Bewusstseinsveränderung durch eine nicht nachlassende Kritik an der Wachstumsideologie und das Aushalten des Lebens im ständigen Widerspruch und Verantwortung für das zu übernehmen, was man unmittelbar verändern kann. Verteidigung der Freiheit und der Privatsphäre, die von den ausbeutenden das Internet beherrschenden Megakonzernen immer mehr bedroht sind. Im Geiste und in der Tat von einem Rupert Neudeck, Jean Ziegler, Erich Fried oder heinrich Böll weitermachen, ohne Gewissheit und Hoffnung auf Erfolg. Sisyphos ist mitten unter uns. Mag pathetisch klingen, aber ohne eine gewisse Lebensphilosphie wüsste ich auch nicht weiter …
@Jürgen Malyssek
Wer vor einer Untersuchung der Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft zurückschreckt, der verrät laut dem von Ihnen zitierten Adorno die Wahrheit und damit auch die Einheit von Theorie und Praxis. Es sind daher weniger Bewusstseinsfragen zu beantworten. Vielmehr ist das aufzuklären, was bereits existiert, noch bevor gehandelt werden kann. Mit Praktiken, die einen dadurch unverzichtbaren Zugang zur Realität versperren, gilt es demnach notwendig zu brechen. Man kann zwar abwarten, bis der Problemdruck unerträglich geworden ist und schließlich den Blockierern die Dinge buchstäblich um die Ohren fliegen. Das wäre aber unverantwortlich gegenüber daran unbeteiligten Dritten.
@ Ralf Rath
An anderer Stelle im Nachbar-Blog („Flüchtlinge“) fiel der Satz: Die Veränderung beginnt im Kopf. Insofern haben wir’s dann doch mit der Bewußtseinsbildung zu tun. Das schließt aber für mich nicht aus, Ihnen insofern zu folgen, das aufzuklären, was ist. Es ist ein gewisses Übel in unserer Zeit, dass mit der „Lösungsorientierung“ viel Schindluder getrieben wird. Zu allererst ist es wichtig zu erkennen, was ist, damit man auch erkennt, was zu tun ist. So würde ich auch Ihren Satz verstehen: „Mit Praktiken, die einen dadurch unverzichtbaren Zugang zur Realität versperren, gilt es notwendig zu brechen.“
Anders gewendet: „Oft ist das Problem die die Lösung.“
Schließlich kommt die Verantwortung und Mitverantwortung hinzu, die das eigene Handeln leiten sollte.
Was ich Ihnen noch sagen wollte, Herr Rath, ist, dass ich es spannend finde, mich mit Ihnen zu unterhalten. Es ist nicht so einfach ihrer Ausdrucksweise zu folgen, aber was Sie zu sagen haben, birgt doch einiges Nachdenkliche.