Weil ich zu leben begonnen hatte

Frankfurter Rundschau Projekt

Weil ich zu leben begonnen hatte

Von Dagmar Scherf

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Alle Alt-Achtundsechziger und –innen, die ich kenne, wuchsen bereits in der Schule, spätestens aber während des Studiums allmählich in die Bewegung hinein. Und die meisten mussten sich dabei  mehr oder weniger heftig mit den Eltern auseinandersetzen.

Bei mir lief das alles sehr anders. 1942 geboren, war ich 1968, also mit sechsundzwanzig Jahren, eigentlich aus dem „Revoluzzer-Alter“ raus. Gleichaltrige hatten da oft schon im Beruf Fuß gefasst und waren dabei, eine Familie zu gründen. Ich aber fing erst in dem Jahr an, Ich zu sein. Im Rückblick kann ich, etwas pathetisch überspitzt, sagen: Bis 1968 wurde ich gelebt. Dann erst begann mein eigenes Leben.

Erst im Rückblick erkannte ich, dass ich die ersten 26 Jahre meines Lebens mehr Objekt als Subjekt war. Das fing schon mit der Flucht 1945 aus meinem Geburtsort Danzig an. Natürlich war es nötig und richtig, dass meine Mutter sich damals mit ihrer Mutter und uns drei Kindern auf den Weg in die „Sicherheit“ machte. Trotzdem habe ich das in meinen Biografien immer als ein “Geflohen-Werden“ bezeichnet. Eine Zweieinhalbjährige flieht nicht von sich aus. Schon gar nicht, wenn sie den Vater zurücklassen muss (und – was sie da noch nicht weiß – nie mehr wiedersehen wird).

Aber auch die „Sicherheit“ der Ankunft und des Lebens in einem mittelfränkischen Dorf konnte mir offensichtlich nicht die Geborgenheit geben, die ich zur Bildung eines in sich ruhenden Selbstbewußtseins gebraucht hätte. Ich war nicht nur das fremde Kind, das als einziges aus der vierten Grundschulklasse ins Gymnasium in die Kreisstadt wechselte. Auch dort befand ich mich als einzige Fahrschülerin bis zum Abitur in einer Außenseiterposition.

Auf der Suche nach irgendeinem Halt flüchtete ich mich schon sehr früh – den älteren Geschwistern nacheifernd – in den christlichen Glauben. Aber das führte spätestens seit der beginnenden Pubertät zu großen emotionalen Verwirrungen, Selbstvorwürfen und Unterwerfungsritualen unter einen als übermächtig empfundenen Gott.

Auch die nächste Suche nach Halt endete in einer Katastrophe: 1966, also mit vierundzwanzig Jahren, heiratete ich einen angehenden Volksschullehrer, den ich während des Studiums an der Pädagogischen Hochschule München kennengelernt hatte. Wir waren beiden im Christentum verankert und glaubten, von Gott füreinander bestimmt zu sein. Während der zwei Jahre unserer Ehe kamen mir zwar ob der starken Ich-Bezogenheit des Partners immer wieder Zweifel an der Richtigkeit dieser „Bestimmung“, trotzdem gab ich von Anfang an mein Zweitstudium ihm zuliebe auf und führte ihm – Objekt seiner patriarchalischen Ehevorstellung – klaglos nur den Haushalt.

Vermutlich war es kein Zufall, dass ich ausgerechnet im August 1968, als es an den Schulen und Universitäten zu brodeln begann, endlich die Kraft fand, aus dieser Verbindung zu flüchten. Dieses Mal war es kein Geflohen-Werden, sondern das pure Gegenteil: Ich packte während eines Urlaubs im hohen Norden meinen Koffer und türmte, während mein Mann wie üblich einen stundenlangen Spaziergang alleine machte. Konkreter Auslöser, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte, war sein am Abend zuvor geäußerter Vorwurf, ich sei egoistisch. Immerhin hatte ich da blitzartig begriffen, dass ich erst einmal ein Ich werden müsste, bevor man mich der Ich-Bezogenheit zeihen könnte.

Von da an trug mich eine Welle der Befreiung nach der anderen aus all den Einengungen – die ich erst als solche zu erkennen begann – hinaus. Das fing schon in Lübeck an, der ersten Zwischenstation meiner aktiven Flucht. Die lichtüberfluteten alten Giebelhäuser der Hansestadt, zwischen denen ich staunend hindurch schlenderte, werden für mich immer mit einem elementaren Gefühl des plötzlichen Freiseins verbunden sein.

Zum Wintersemester 1968 ging ich an die Universität Mainz. Dort wollte ich mein in München begonnenes und der – nun beendeten – Ehe geopfertes Zweitstudium fortsetzen. Glücklicherweise unterstützte meine Mutter – auch finanziell – diese Pläne (und verfolgte meine allmähliche politische Kehrtwendung erstaunlich gelassen bzw. mit Interesse). In Mainz gelandet, kam ich bald aus dem Staunen nicht mehr heraus: Wie anders, frech und selbstbewusst, sich die Studentinnen und Studenten jetzt verhielten! Wie heftig sie jeden Ansatz von autoritärem Gehabe der Professoren kritisierten! Wie intensiv sie aber auch die Inhalte hinterfragten, die ihnen in den Vorlesungen und Seminaren vorgesetzt wurden!

Ein besonderes Aha-Erlebnis war für mich die Begegnung mit der Evangelischen Studentengemeinde. Ich kannte die – wie ich meinte vergleichbare – Gruppierung aus der Zeit um 1962 in München. Um Kommilitoninnen und Kommilitonen näher kennenzulernen, machte ich mich in Mainz bald zu einem Treffen der dortigen Gemeinde auf. Und kam auch da aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ich erinnere mich zwar nicht konkret, worüber in Mainz diskutiert wurde, weiß jedoch genau, dass mir so ziemlich alles neu vorkam – im Vergleich mit der intellektuellen Abgehobenheit der Münchner Gruppe ein Unterschied wie Tag und Nacht. (Im Nachhinein erfuhr ich, dass die Evangelische Studentengemeinde Mainz bekannt – oder berüchtigt – für ihre revolutionäre Einstellung war.)

Und der Unterschied gefiel mir. Ich löste mich zwar zunehmend aus den christlichen Kreisen, trat dann auch bald aus der Kirche aus, fand jedoch stattdessen Freundinnen und Freunde unter den Studierenden im Institut für Publizistik (Ein Fach, für das ich mich neben Germanistik und Anglistik eingeschrieben hatte.). Im Januar besetzten Kommilitoninnen und Kommilitonen dieses Institut. Ein Akt des gerechten Zorns über unbefriedigende, ungerechte Studienbedingungen. Für mich eine atemberaubend neue Erfahrung von Aufmüpfigkeit, wie ich sie bis dahin für mich nie zugelassen hatte.

Einer der führenden Studentensprecher war Günther Scherf, mit dem ich kurz zuvor eine Liebesbeziehung begonnen hatte, und mit dem ich bis heute verheiratet bin.

Von ihm lernte ich unendlich viel. In der Schule hatte ich so gut wie nichts über den Nationalsozialismus erfahren. Jedenfalls nichts, was hängen blieb. Jetzt, mit Günther, holte ich das alles nach. Ich lernte auch, dass sozialistische Ideen keineswegs per se des Teufels sind. Und dass Gewerkschaften wichtige, sinnvolle Arbeit in der Gesellschaft leisten. Und dass es galt, sich gegen die zunehmende Militarisierung und das Wettrüsten mit Atombomben zu wehren.

Ich lernte unendlich viel – weil ich unendlich liebte. Und weil ich intensiv zu leben begonnen hatte.

 

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Die Autorin

Dagmar Scherf, geboren 1942 in Danzig.
Promotion in Germanistik
(über die Lyrik Johannes Bobrowskis).
Schriftstellerin („Homburger Hexenjagd Oder wann ist morgen?“).
Lebt in Friedrichsdorf.
Verheiratet mit dem ehemaligen FR-Redakteur Günther Scherf.
Dagmar Scherf hat auch einen Beitrag zum FR-Projekt
„Ankunft nach Flucht“ geliefert
Foto:Privat

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3 Kommentare zu “Weil ich zu leben begonnen hatte

  1. In einem Brief an Fred Heining vom 27.12.1948 schreibt der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, dass er „den wagenden und den sich selbst behauptenden Menschen (suche), der zugleich in der breiten Verantwortung und Gebundenheit steht“. Es kann daher niemals ein heroischer Akt der Befreiung sein, sich davon zu lösen, was Marx im Nachwort zur zweiten Auflage seiner Kritik der politischen Ökonomie „innres Band“ nannte, das es notwendig erst im Zuge der Analyse einer modernen Gesellschaft aufzuspüren gilt. Von welcher sie im Jahr 1968 tragenden „Welle der Befreiung“ Frau Dr. Scherf angesichts dessen hier im FR-Blog berichtet, müsste insofern näher erläutert werden. In jedem Fall kann es nicht der Verlust der Scheu sein, diejenigen Grenzen zu überschreiten, die dem Menschen dadurch von Natur aus gesetzt sind. Ansonsten erführe der Begriff der Freiheit eine Pervertierung, die alles bis dahin Dagewesene bei weitem übertrifft.

  2. Hallo Frau Scherf,
    In meiner zweieinhalb-semestrigen Studienzeit (ein Intermezzo) in Mainz 1972//73 habe ich auch Germanistik, Anglistik und Publizistik belegt. Die Seminare bei Noelle-Neumann, die Ihnen vertraut sein dürften, hatten für mich etwas bleibendes Exotisches. Sie kam mit Mantel in den Hörsaal, knöpfte ihn kurz auf und legte mit ihrem speziellen Temperament los.

    Ich habe eher das autoritäre Gehabe der Professoren und Assistenten in Erinnerung. Aufmüpfigkeit von den Studenten sind mir nicht in Erinnerung. Aber vielleicht war ich auch in dieser Zeit nicht ganz bei der Sache.

  3. Interessant der Hinweis von Frau Scherf auf die persönliche Bewusstseinsänderung, u.a. in religiöser Hinsicht, im Kontext der Studentenbewegung.
    Daraus könnten sich freilich falsche Schlussfolgerungen für die Frontenstellung ergeben, ausschließlich im Sinne eines Generationenkonflikts. Das wäre so nicht richtig.

    Meine erste Demonstration nach dem 2. Juni 67 war in Tübingen an der Seite von Walter Jens. Ich kannte da schon den Theologen Rahner und den Philosophen Bloch (dem ich im April 68 in Paris wieder begegnete). Beide hatten sich recht eindeutig (wie auch etwa Adorno und die Frankfurter Schule) auf die Seite der Studenten geschlagen.
    Noch klarer dann der Theologe Gollwitzer in Berlin, bei dem ich nach 1970 mehrere Seminare besuchte. Religionskritik bei Feuerbach und Marx gehörten selbstverständlich zu seinem Programm, natürlich auch die Befreiungstheologie.
    Ganz anders freilich die Entwicklung von Josef Ratzinger (später Benedikt XVI.), von Hans Küng 1968 nach Tübingen geholt, der ursprünglich zu den „Reformern“ des Vaticanums zählte und später sein erbittertster Gegner wurde (wie auch der Befreiungstheologie).
    Ähnlich die katholische Studentengemeinde in Berlin, der ich eine Zeitlang angehörte, die sich als Ansammlung von Verklemmtheit erwies. Bei der man schon als „Revoluzzer“ galt, wenn man etwa ein paar kritische Fragen zum Sinn der Bergpredigt stellte. Da hielt ich es freilich nicht lange aus.
    Zu erwähnen auch die Aktivitäten der „Notgemeinschaft für eine Freie Universität“ („Nofu“) im Sinne von umfassenden Spitzeldiensten gegen aufmüpfige Studenten. Mitglied auch eine damals junge Politologin namens Gesine Schwan – später Kandidatin für die Bundespräsidentenwahl. Ähnlich schillernd auf Studentenseite die Haltung des RCDS.

    Die Fronten gingen, wie man sehen kann, quer durch die Professorenschaft, den Mittelbau und die Studentenschaft.

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