Die letzte Ausfahrt für Ausbildung und den Zugang zum Studium

Frankfurter Rundschau Projekt

Die letzte Ausfahrt für Ausbildung und den Zugang zum Studium

Von Winfried Sander

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Saarlouis, Aufbaugymnasium, kurz vor dem späteren „Pariser Mai 1968“: Vorfreude auf die Klassenfahrt aus der beschaulichen Kleinstadt in die Weltstadt Paris. Kurz danach die Absage der Reise durch die Schulleitung wegen der tumultartigen Zustände mit Barrikaden in der französischen Hauptstadt, zu gefährlich für deutsche Schüler! (Die Klassenfahrt ging dann später im Herbst nach Frankfurt. Immerhin auch eine Großstadt, wenn auch nicht (Kultur-)Weltstadt. Meine erste Großstadt!)

Aufbaugymnasium? Heute kein geläufiger Begriff mehr. Damals: Chance für einen sozialen Aufstieg durch Bildung! Das Saarland damals? Erst 1957 als 10. Bundesland in die damalige Bundesrepublik Deutschland eingegliedert, bis 1947 französische Besatzungszone und dann eigenständiger Staat mit französischer Währung und eigener Nationalmannschaft im Fußball – nur knapp der deutschen Nationalmannschaft und dem späteren Weltmeister von 1954 in einem Ausscheidungsspiel unterlegen! Fußnoten der Geschichte.

Foto_Sander mit 17-18In der damaligen Bundesrepublik prägte 1964 der Philosoph und Pädagoge Georg Picht den Begriff der „Bildungskatastrophe“, mit dem er die Situation des seinerzeitigen Bildungswesens in der Bundesrepublik charakterisierte und eine breite Debatte auslöste. In den in Christ und Welt veröffentlichten Artikeln prangerte er die im internationalen Vergleich niedrigen Bildungsausgaben in Deutschland an, kritisierte u. a. die geringe Quote an Abiturienten, die großen Unterschiede zwischen Stadt und Land und forderte grundlegende Reformen des dreigliedrigen Schulsystems und der Erwachsenenbildung, weil sonst wesentliche Nachteile im internationalen Wettbewerb der Wirtschaft zu befürchten seien.

Winfried Sander als 17-  oder 18-Jähriger.
Foto: Privat

Schon im April 1965 begann der Betrieb des Staatlichen Aufbaugymnasiums Saarlouis in einer Art Behelfsgebäude der Evangelischen Schule vor Ort. Die Schülerinnen und Schüler? Sie kamen aus dem regionalen Umfeld, alle hatten schon 8 oder gar 9 Jahre der damaligen Volksschule hinter sich und den vorherigen Sprung in das grundständige Gymnasium aus unterschiedlichen Gründen – nicht zuletzt Gründe, die Picht anführte – nicht geschafft: letzte Ausfahrt für eine Ausbildung mit Zugang zu einem Studium, zu akademischen Berufen. Also Einstieg in die damalige Untertertia (heute: 8. Klasse), also wurden eine oder gar zwei Klassenstufen wiederholt. Soziale Herkunft der Kinder? Milieu der Bauern sowie Fabrik – und Bergarbeiter. In der Nähe: Völklingen, damals als einer der Industrieorte in Europa mit der höchsten Luftbelastung gemessen und „geadelt“! Denn: Wenn die Schornsteine rauchten, dann stand materieller Wohlstand in Aussicht. Willy Brandt hat mit seinem damaligen Anspruch „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden“, ganz sicher auch an das Saarland gedacht. Mit großem Erfolg, wie sich heute sehen lässt: Grünes Saarland!

Was bleibt von 1968 in Erinnerung an den damaligen Unterricht? Ein Mathematiklehrer! Rudolf Wolf. Ich kann mich an viele Stunden erinnern, in denen er 1968 seine geliebte Mathematik auch Mathematik sein ließ und sich mit uns über die Berichterstattung über den Mai 68 unterhielt. Namen wie Dutschke und Cohn-Bendit sind mir als 17-Jährigem daher früh geläufig – ihre Bedeutung allerdings erst viel später, wenn nicht gar erst heute, so recht!

Was ist aus uns geworden? Von den 39 Schülern – wir waren eine reine Jungenklasse – auf dem Foto aus dem Schuljahr 1967/68 haben dann auf Anhieb 13 im Jahre 1970 ihre Reifeprüfung erfolgreich bestanden – der größere Teil hat die Schule aus unterschiedlichen Gründen verlassen oder wurde nicht versetzt. Was nichts über ihren späteren Berufserfolg aussagen will: Einige haben ihren vorher erstrebten Schulabschluss auf anderem Weg nachgeholt oder betreiben erfolgreich Unternehmen. Von den 13 Abiturienten hat es die Mehrzahl in den Bildungsbereich verschlagen: 6 Lehrer an verschiedenen Schularten (einer davon wurde Bildungsminister im Saarland), 1 Hochschullehrer, zwei arbeiten als Ärzte und andere als Ingenieure oder Verwaltungsfachleute. Die größte „Karriere“, aus meiner Sicht? Einer arbeitet(e) als Cheflektor für den Suhrkamp Verlag.

Ich verdanke wahrscheinlich dem Appell von Georg Picht und in dessen Nachhall („Die Gründung der Schule geschah, für heutige Verhältnisse geradezu unvorstellbar, überaus spontan.“ Zitat aus der Festschrift von 2015 zum fünfzigjährigen Bestehen der Schule) er folgenden Neugründung der Universität Trier, dass ich nicht das „geworden“ bin, was meine Mutter gerne gesehen hätte: als Kind eines Arbeiters nicht mit ölverschmutztem Arbeitsanzug („Schaffanzug“ im Saarländischen) am Fließband zu stehen, sondern mit einem weißen Hemdkragen an einem Reißbrett in einem Büro. Auf ganz besondere und andere Weise ist ihr Traum … und meiner … Wirklichkeit geworden!

* Die Klassenfahrt ging dann später im Herbst nach Frankfurt. Immerhin auch eine Großstadt, wenn auch nicht (Kultur-)Weltstadt. Meine erste Großstadt!


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Der Autor

sander 2Winfried Sander, geb. 1951 im Saarland,
aufgewachsen in einem kleinen Dorf bei Merzig,
lebt seit 1970 in Rheinland-Pfalz.
Studium in Trier, Referendariat in Koblenz,
Lehrer am Erich-Klausener-Gymnasium in Adenau/Eifel.
Er ist neben seinem Beruf (inzwischen pensioniert)
seit langen Jahren aktiv beim BUND,
engagierte sich bundesweit für Nachhaltigkeit in verschiedenen Projekten
und arbeitet ehrenamtlich für das Landesamt für Umwelt in Mainz
als Koordinator für schulische Bachpatenschaften.


Bild: privat

 

 

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