Das Grundgefühl der 68er, das uns stark gemacht hat

Frankfurter Rundschau Projekt

Das Grundgefühl der 68er, das uns stark gemacht hat

Von Reinhard Kölmel

.

An sich waren mein Elternhaus, Schule, Freunde usw. alle national-konservativ gewesen, wie es sich gehörte in einer niederrheinischen katholischen Kleinstadt der 50er Jahre. Franz-Josef Strauß fand ich damals konsequent und den Verlust der früheren deutschen Ostgebiete, die noch auf jeder Schulwandkarte eingezeichnet waren, als ungerecht. Erst mit der Pubertät begann gelegentlich ein Nachfragen, ein Warum? Dann kam 1962 die „Spiegel-Affäre“. Der geschätzte Strauß musste ein Fehlverhalten und eine Lüge nach der anderen zugeben. Bei mir purzelten die hochgehaltenen nationalen und konservativen Werte von ihren Podesten. Unser Deutsch- und Geschichtslehrer in jenen Jahren brachte uns Quellen-Studium und Textinterpretation bei. Das ermöglichte mir ein dreidimensionales Weltbild, in dem nun auch Grautöne sichtbar wurden.

Kölmel 70er Jahre1966 wechselte ich wegen der Meeresbiologie von Köln nach Kiel. Die Fächer Biologie und Meereskunde waren sehr überschaubar. Anfangs machten die Professoren selbst noch Vorlesungen und Kurse für ein oder zwei Dutzend Hörer. Die Uni Kiel hatte damals ca. 7 000 Studenten – heute 27 000. Was aus München mit den Aktionen der „subversiven Aktion“ oder Berlin mit gelegentlichen Demonstrationen zu meinen Kommilitonen und mir herüber drang ließ uns staunen über so viel Aufmüpfigkeit, aber es lag außerhalb unserer Vorstellungswelt so etwas selbst zu machen.

Reinhard Kölmel
in den 70er Jahren.
Foto: privat

Dann war der Schah von Persien angekündigt. Mit vielen Vorschusslorbeeren und sehr viel Glamour rollten ihm und seiner Prinzessin  Zeitungen und Fernsehen einen Teppich aus orientalischem Märchen-Charme aus. Es kam der 2.Juni 1967. Wir im fernen Kiel hatten schon verstanden, dass das öffentliche Schah-Bild in den Medien wohl so nicht stimmte und die Berliner Studenten Gründe hatten, zu demonstrieren. Aber die Prügelorgien der Jubelperser mit ihren langen Knüppeln ließen den orientalischen Schein des Herrscherpaares zu einem verlogenen Plunder schrumpfen. Und die Polizei schützte und unterstützte die prügelnden persischen Geheimdienstler, statt das demokratische Demonstrationsrecht der Demonstranten  zu sichern. Schließlich zogen die Polizisten selbst noch ihre Gummiknüppel, schlugen auf die Studentinnen und Studenten im Sommeroutfit ein und jagten sie bis in die Berliner Hinterhöfe. So etwas hatten wir uns nicht vorstellen können. Der Polizisten-Mord an Benno Ohnesorg setzte alledem die Krone auf.

Als zur Solidaritätsdemonstration aufgerufen wurde kannte ich keinen, der nicht dabei war. Ähnlich wie in Berlin wollte die Kieler Polizei den Studenten zeigen, dass sie das Demonstrationsrecht auf ihre Weise auslegt. Sie kesselte Demonstranten-Gruppen ein und sperrte uns in den alten Polizeiknast, in dem schon die Nazis ihre Gegner eingelocht haben mussten. Nach Leibesvisitation (aber mit Kleidung) und Befragung kam ich in eine Einzelzelle. Die hatte eine Pritsche, vollonanierte Wände und hoch oben unter der Decke ein kleines vergittertes Fenster. Ich fand das halb so schlimm und überlegte, wie viele Monate ich so unbeschädigt verbringen könnte, wenn es dann für die Aufrechterhaltung meiner Meinung erforderlich sein würde. Statt uns abzuschrecken hatte die Polizei genau das Gegenteil erreicht. Die Beschäftigung mit dem Iran und mit politischen Themen nahm ihren Anfang. Als völlig unbedarfte Studenten gründeten wir das „Kieler Aktionskomitee“.

Im Winter wollte die Kieler Verkehrs AG die Tarife erhöhen. Ohne Busfahren ging es damals nicht. Viele waren empört. Wir trafen uns zu hunderten in der Innenstadt und besetzten nach einer Aktionsdiskussion einen zentralen Platz. Der gesamte Innenstadtverkehr war blockiert und die Polizei völlig überrascht (wir auch). Nach einer Stunde kam Polizeiverstärkung. Die musste erst den Verkehr regeln, weil nicht nur Busse und Bahnen still standen, dann waren es so viele, dass sie uns einzelnen wegtragen konnten. Ganz unkoordiniert aber doch alle mit einem Ziel vor Augen zogen wir in die Randbereiche der Stadt und legten dort fahrende Busse still. Bei den Aktionen wurden kein Bus und keine Bahn beschädigt. Durch die harte Haltung der KVAG und der Stadt weiteten sich die Demonstrationen in den Folgetagen aus.

Ich selbst besuchte jetzt die Mitgliederversammlungen des SDS. Die waren öffentlich. Ich war überrascht von der Ernsthaftigkeit und den kenntnisreichen Diskussionsbeiträgen und trat bei. Oft kamen RCDSler, andere Konservative, auch JUSOs, die meinten, sie hätten die besseren Argumente. Mit allen wurde sorgfältig diskutiert und ihre Sicht der Dinge zerlegt und zurechtgerückt. Wenn es 22 Uhr war baten wir um Verständnis, dass wir jetzt unsere eigene Agenda abarbeiten wollten.  Mit älteren Genossen bildeten wir Schulungsgruppen und lernten überhaupt erst einmal die einfachsten Dinge über Ökonomie, den wissenschaftlichen Sozialismus, materialistisches Denken, deutsche und internationale Geschichte aus der sozialistischen Sicht, Wilhelm Reich und vieles Weitere. Die Erbitterung mit der unterschiedliche Sichtweisen im Berliner und Frankfurter SDS in immer tiefere ideologische Grabenkämpfe ausarteten und dazu oft ein unsinniges Macho-Gehabe von Führungsleuten, das konnten die meisten von uns nicht nachvollziehen.

Anfang 1968 starteten die Vietcong ihre Tet-Offensive, die politisch ein Riesenerfolg jedoch militärisch ein Desaster wurde. Auf Gut-Glück fuhr ich im Februar 1968 zum Vietnamkongress nach Berlin. Wie konnte man dieses geschundene, um seine Freiheit kämpfende Volk unterstützen? Die Reden und Grußworte aus vielen Ländern, die konzentrierten Zuhörer in dem mit 3-4 000 Personen völlig überfüllten Saal stärkten bei mir das Gefühl: Wir stehen zusammen und wir müssen nicht alles hinnehmen. Das war das Schlüssel-Gefühl der 68er Jahre.

Rudi Dutschkes Rede war wieder brillant. Ich glaubte aber damals nicht, dass jemand seine Hoffnung teilte, die Bundeswehrsoldaten – die ja unser Alter hatten – würden den Dienst  verweigern um gegen diesen verbrecherischen Krieg in Vietnam zu protestieren.

Während der Semester trafen wir uns fast wöchentlich in der Basisgruppe Biologie. Das Ziel war u. a. vom konfrontativen Unterricht zu mehr Projektarbeit und Eigenbeteiligung der Studenten zu kommen. In der Meereskunde fanden wir sogar bei einem Professor offene Ohren und konnten eine Schiffsexkursion in die nahe Ostsee mit Untersuchungen und Auswertungen selbst organisieren.

Als Bachmann in der Osterwoche auf Rudi Dutschke schoss, waren alle erschüttert und sahen bei den Hetzartikeln der Bild-Zeitung eine Mittäterschaft. Es war ja nicht das erste Mal in der deutschen Geschichte, dass menschenverachtenden Worten auch ebensolche Taten folgten. In Kiel gab es keine Springer-Niederlassung daher blieb nur die Verhinderung der Auslieferung von Bild & Co durch den Grossisten.

Mein Studium hatte ich mit einem bereits vereinbarten Promotionsplatz in der Meeresbiologischen Station in Helgoland fortsetzen wollen. Aber ich überlegte es mir anders und blieb in Kiel, wo ich dann später in der nahegelegenen Ostsee forschte und am politischen Leben weiter teilnehmen konnte. An der Uni radikalisierten sich die Basisgruppen der Psychologen, Mediziner, Germanisten, Philosophen usw. ohne dass erkennbar wurde, dass sie dadurch mehr Akzeptanz gewinnen könnten.

1969 streikten im September 7000 Werftarbeiter unter Führung des Arbeiters und DKP-Mitglieds Helmut Schlüter und eines „wild“ gewählten Streikkomitees. Sie wollten den gleichen Lohn erhalten, wie ihre Hamburger Kollegen. Schlüter hatte die Kommunisten-Hatz der Nachkriegsjahre am eigenen Leib erlebt. Tausende Arbeiter zogen auf mehreren eindrucksvollen Demos durch die Stadt.

Der AStA der Universität unterstütze sie mit Büro und Druckmaschine. Wir waren begeistert. Die Unigruppen entdeckten die Lehrlinge als politische Adressaten, viele Aktivisten gingen als Arbeiter in die Betriebe. Ende 1969 wurde klar, dass die Veränderung der Gesellschaft die wir wollten mit der bisherigen Politisierung der Universität nicht erreicht würde. Viele Basisgruppen wandelten sich zu „Roten Zellen“, die nicht mehr vielseitig diskutierten, sondern gemeinsam als Gruppe nach der „richtigen Theorie“ suchten und jede „Abweichung“ heftig bekämpften.

Ehemalige SDS Genossen mit denen ich mich vorher oft ausgetauscht hatte, schlugen jetzt die Augen nieder oder guckten an mir vorbei, wenn sie mir begegneten. Einer zog mich mal beiseite und erklärte mir, dass sie sich darauf geeinigt hätten, nicht mehr mit Fremden, sondern nur noch zusammen nach Vorgabe des „Zentralen Aktivistenkollektivs“  zu diskutieren. Sie alle wollten daran arbeiten, dass keine „falschen“ Ideen in die Gruppenplenen getragen würden. Das war  ein Abschied von den emanzipatorischen Diskursen der  ‘68er und eine maßlose Überschätzung der eigenen politischen Bedeutung.

Mit einigen ehemaligen SDS-lern gründete ich den Republikanischen Club. Wir versuchten mit Studenten, Ingenieuren, Arbeitern und einem Richter den Spagat zwischen gewerkschaftlich betrieblichen Herausforderungen, politischem Geschehen und theoretisch-wissenschaftlichem Sozialismus zu meistern.  Später produzierten wir mit weiteren nicht auf eine der linken „Kirchen“ festgelegten Genossen die Kieler Stadtzeitung Spökenkieker, die für Meinungsvielfalt und Informationen von Unten neben den CDU-nahen Kieler Nachrichten sorgen wollte.

Interviews, Recherchen und die Druckvorlagenproduktion (mit der Schreibmaschine) kosteten regelmäßig die eine oder andere Nachtarbeit, die ich gerne in das Projekt einbrachte. Dann kam Mitte der 70er Jahre mein Punkt der Entscheidung: entweder Stadtzeitung oder Dissertation zusammenschreiben. Vorher hatte die Aufteilung meiner Zeit zwischen meeresbiologisch-ökologischer Forschung – der Begriff Ökologie war da in der Politik noch nicht aufgetaucht  – und politischem Verstehen und Handeln mir immer wieder neue überraschende und befriedigende Einsichten verschafft. Leider ließ sich dieser Dualismus nicht mehr aufrechterhalten. So verstärkte ich meinen Arbeitsschwerpunkt in der Wissenschaft. Glücklicher Weise hatte ich in all den Jahren mit Prof. Noodt einen verständnisvollen Doktorvater.

Bei der Berufssuche wechselte ich von der Forschung zur Vermittlung von Wissenschaft und Umweltwissen und ging an die frühere Gesamthochschule Kassel und das Landesnaturschutzamt in Schleswig-Holstein. Meine Berufung fand ich aber im Zoologischen Museum in Kiel und danach bei Aufbau und Leitung eines neuen Natur-Museums an der Mündung der an in ihrer ökologischen Bedeutung verkannten Unterelbe. Später transformierte ich das Museum für den Träger, den Landkreis Stade, in eine Stiftung, die ich dann als Vorstand managte.

Mehr als ein viertel Jahrhundert engagierte ich mich in der Museologie.  Die Museumsarbeit mit dem Dreiklang von Sammlungen anlegen, geeignetes aus Objekten und Museumthemen vermitteln und beforschen füllte mehr als die Arbeitszeit.  Die Entwicklung und Aufbau von teils sehr umfangreichen Natur-Ausstellungen, war mit den vorhandenen begrenzten Ressourcen  immer wieder eine Herausforderung. Aber das unerwartet große Interesse von oft 40-60 000 Besuchern an unserem Standort fern jeder Stadt entschädigte für die Mühe. Meinen Bedarf an unmittelbarer Biologie und handgreiflicher Praxis befriedigte ein mit meiner Frau betriebener Bauernhof mit Rinder- und Islandpferdezucht.

Die Pensionierung befreite mich von zahlreichen Zwängen. Ich brauchte erst einmal Zeit mich zu reorganisieren. Endlich konnte ich die Küsten von Nord- und Ostsee ausführlich bereisen. Ein Naturführer zur Nordsee und Fotoausstellungen entstanden. Das in der ‘68er Zeit erworbene theoretische Rüstzeug erlaubte mir in all den Jahren eine kritische Sicht auf den neoliberalen Kapitalismus, der zwar für einen Teil der Bevölkerung Wohlstand verspricht, aber alle sozialen, ökologischen und politischen Probleme weltweit verstärkt. Selbst eine friedliche Zukunft stellt er nach der Selbstauflösung der Sowjetunion in Frage. Die Kriege in Europa und dem Nahen Osten sind ein Symptom. Aktuelle Steigerungsraten des Rüstungsetats von 10-15 % müssten eigentlich in Deutschland die Alarmglocken schrillen lassen, denn die hatten wir schon zweimal in der neueren Geschichte – mit verheerenden, aber anscheinend  in Erinnerungssteinen gut weggeschlossenen Ergebnissen.

+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++

Kölmel heute 2Der Autor

Dr. Reinhard Kölmel, Jg.1944, aufgewachsen in Viersen/Rheinland,
Studium der Biologie und Meeresbiologie in Köln und Kiel.
25 Jahre Mitarbeit und Leitung in Natur-Museen, seit 2010 Unruhestand.
Weitere Informationen: www.draufsehen.de

Bild: privat

 

 

Verwandte Themen