Das Flair das Aufrührerischen
Von Erich von Derschatta
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Mein persönliches „1968“ begann nach nach einigen Semestern des Sprachenstudiums an der Uni in München, in denen ich mich in allen Belangen überfordert und depressiv, ohne nähere persönliche Kontakte immer mehr aus dem Leben zurückzog. 1964 im Alter von 21 Jahren gründete ich mit zwei Freunden in meiner Schwabinger Wohnung meine erste richtige Wohngemeinschaft
Diese Beiden haben mir damals buchstäblich „das Leben gerettet“. Wir haben viel geredet, sie haben mir Freud und Marx vermittelt und mich in Alltagsdingen des Lebens „erzogen“. Ich lernte, was ich in meinem bisherigen Leben erfahren hatte, mit ganz anderen, neuen Augen zu sehen. Ich erlebte Menschen, denen gegenüber ich meine Gefühle ausdrücken konnte und von denen ich mich verstanden fühlte. Ein völlig neues Lebensgefühl. Das erste Mal in meinem Leben machte ich mich nicht mehr schlecht, das erste Mal bekam ich erste Einsichten darüber, dass ein System hinter all den Dingen zu stecken schien, die ich erlebte. Ich konnte mein Leben jetzt in neuem Licht betrachten. Ich erfuhr, daß die Universität immer noch Züge aus dem vorigen Jahrhundert hatte, dass auch die meisten Erwachsenen so gut wie nie über die Geschichte des Faschismus und schon gar nicht über die Judenverfolgung gesprochen hatten. Und so begann mein erstes politisches Engagement in der Deutsch-Israelischen Studiengemeinschaft (DIS). Ich begann mich in kürzester Zeit zu belesen, zu engagieren, zu diskutieren und nicht nur die Dinge hinzunehmen, die mir vorgesetzt wurden. Später, als ich dann meine erste Freundin hatte und mit ihr zusammenzog, hatte ich auch noch ein Privatleben, lernte das erste Mal Nähe und Sexualität kennen, und das in Verbindung mit meinen politischen und gesellschaftskritischen Interessen. Alle, die ich damals kennenlernte, standen in den Startlöchern, wollten die Welt umkrempeln, Ich lernte Dieter Kunzelmann und seinen Kreis kennen, wir nannten uns „Subversive Aktion“, verstanden uns als „verschworener Haufen“. Wir wollten provozieren, um gehört zu werden, Aktionen starten, Happening mit politischer Aufklärung verbinden. Während ich in diesem Kreis der Neuling war, der die sehr beredten, schwer verständlichen Sätzen der Anführer aufsog und anfangs nicht recht wusste, wie in in dieser Gruppe bestehen konnte, fühlte ich mich dennoch zugehörig und bei allen Aktionen voll integriert. So erinnere ich mich, dass wir zur Faschingszeit 1966 kostümiert des nächtens eine illegale Plakataktion gegen den Vietnamkrieg in der ganzen Stadt München von meiner Wohnung aus starteten, eben mit dem Flair des „Aufrührerischen“ aber auch mit einem Hauch Abenteuer. Der Vietnamkrieg begann zu dieser Zeit ein zunehmend wichtigeres Thema aller kritischen Außenseiter zu werden, da in der Presse dieser Krieg der USA gegen ein ganzes Volk noch zahlreiche Befürworter fand. Ich lernte in dieser Zeit auch Rudi Dutschke kennen, der von Berlin aus des öfters nach München kam und mit seiner jungen Freundin Gretchen auch bei mir wohnte. Ihm vertraute ich von Anfang an am meisten, Bewunderung vermischte sich mit ganz persönlichem Austausch.
In diesen Monaten ging es zunehmend um die Befreiung aller Lebensbereiche, speziell der Sexualität von einengenden Verhaltensweisen, um neue Formen des Zusammenlebens. Ich spürte instinktiv, dass ich für eine solche radikale Veränderung meines Lebens noch nicht bereit war. Ein großer Teil der Gruppe ging im Herbst 66 nach Berlin und gründete dort die Kommune 1, die mit provozierenden Aktionen sehr bald überregional bekannt wurde. Ich blieb in München und entschied mich in dieser Zeit, mein Studium zu wechseln, weil ich merkte, dass ich überhaupt kein Lehrer werden wollte. Wirkliche Ahnung, was ich eigentlich beruflich machen wollte, hatte ich nicht. Ich wollte die Hintergründe der gesellschaftlichen Verhältnisse besser erforschen und begann ein Studium der Soziologie und Amerikanistik. So begann eine neue Phase in meinem Leben, Ich half mit, den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in München aus dem Dornröschenschlaf in eine Gruppe umzuwandeln, die sich auch an der Uni an die Spitze der antiautoritären Bewegung stellte, sogenannte „Teach Ins“ zu organisieren, Vorlesungen zu besetzen und auf die verkrusteten und autoritären Strukturen des Unibetriebes massiv hinzuweisen. Jetzt nahm mein politisches Leben Fahrt auf, ich war jetzt nicht mehr der kleine Mitläufer , sondern übernahm auch Verantwortung, organisierte Veranstaltungen und Demos und hielt Vorträge, Persönlich hat mich der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2.Juni 67 aufgerüttelt und radikalisiert, der von einem Polizisten bei einer Demonstration anlässlich des Schahbesuchs erschossen wurde.
Erich v. Derschatta auf einer Demo im Jahr 1968.
Er ist der Fahnenträger.
Foto: privat
Zunehmend mehr Menschen, vor allem Studenten, aber auch Andere waren tief erschüttert über das Ausmaß der staatlichen Gewalt, die rücksichtslos alles „langhaarige Gesindel“ von der Straße und aus der Gesellschaft wegprügeln wollte. In der ganzen damaligen Republik gingen die Menschen immer zahlreicher und radikaler auf die Straßen und polarisierten so die Gesellschaft. Bei zahlreichen Demos v.a. gegen den Vietnam Krieg veranstalteten wir Sitzstreiks und ließen uns von der Polizei in Gewahrsam nehmen. Da ich nun immer mehr aufgerüttelt, mich auch in den vorderen Reihen des Protests aufhielt, wurde ich natürlich auch bei Polizei und Staatanwaltschaft bekannter, bekam auch mehrere Anzeigen und musste früher oder später auch mit einem Prozess rechnen. Im Rahmen des SDS kümmerte ich mich intensiv um die aufkeimende Schülerbewegung, deren Protagonisten sich häufig in meiner Wohnung zu Aktionsvorbereitungen und Gesprächsrunden trafen. Jetzt war ich als Älterer eine gewisse Autorität, verstand mich aber eher als das Herz dieser Bewegung anstelle des Kopfes. Ich traf mich auch persönlich mit Schülern und wir probierten auch über einige Monate hinweg sanfte Drogen aus, die mich aber bald nicht mehr wirklich interessierten.
Im Sommer des Jahres 1967 begann mein eigentliches „1968“. Innerhalb des SDS befreundete ich mich mit einem Paar, wir wollten einen „linken Verlag“ gründen, der speziell aus einer revolutionären Perspektive die politische Situation der „Dritten Welt“ ( Asien,Afrika und Lateinamerika) beleuchtete und damit auch ein wichtiges Informationsleck schließen wollte. Wir waren zu Unternehmern geworden. Jetzt hatte ich das erste Mal in meinem Leben Kontakt zum „richtigen“ Leben außerhalb der Enklave Universität. Der Trikont Verlag
(3 Kontinente), der vor einem Jahr als Trikont Label sein 50jähriges Jubiläum feierte, war gegründet. Anfangs von allen Seiten belächelt haben wir uns dank Glück und Unterstützung auch finanziell eine gewisse Basis geschaffen. Die ersten Bücher , deren Rechte wir von einem linken französischen Verlag erstanden , wurden, obwohl in kleiner Auflage erschienen, gut verkauft. Parallel vertrieben wir in großem Stil das „kleine Rote Buch“ Mao Tse Tungs, das uns günstig in deutscher Sprache geliefert wurde. Es wurde uns aus der Hand gerissen und landete bald in zahlreichen Buchhandlungen in ganz Deutschland. Wieder habe ich mich ohne es wirklich zu wissen und zu wollen, in ein neues Abenteuer geworfen. Ich musste lernen, wie man einen Verlag führt. Ich kümmerte mich um Druck und Vertrieb und lernte mit freundlicher professioneller Hilfe, die Regeln und Abläufe dieses Geschäftes von der Pike auf kennen. Als dann im Frühjahr 68 der kubanische Staatschef Fidel Castro das „Bolivianische Tagebuch“ des revolutionären Idols Che Guevara ( er war zuvor im Dschungel gefangen genommen und ermordet worden) unserem immer noch kleinen linken Verlag für die deutsche Ausgabe anbot, stürzte ich mich einige Wochen voll in die Herausgabe dieses Buches, das dank der Presse, schon im Vorfeld zu einem Bestseller werden sollte. Die ersten zehn Tausend Exemplare wurden rased schnell verkauft. Aber ich war mit meinem Tatendrang noch nicht am Ende. Als Ende 1967 zwei Genossen die Idee eines Buch Cafés im Schwabinger Studentenviertel hatten und auch bald ein kleines Lokal fanden, beteiligte ich mich mit meiner damaligen Freundin an diesem Projekt. Wir nannten das Buch Café „Trikontladen“ und um die Weihnachtszeit strömten die linken Studenten herein, kauften ziemlich viele Bücher und brachten uns das Kapital für weitere Bücherankäufe. Der kleine Laden war immer voll und die Leute diskutierten bei Kaffee und Weinblättern mit Schafskäse die neueste politische Entwicklung und welche Aktionen sinnvoll sein könnten. Da war viel „Leben in der Bude“ und dazu liefen die Beatles mit „Sergent Peppers Lonely Heart“ . Es war eine Art Gegenkultur, die wir hier mitgestalteten. Mir gefiel natürlich auch, dass wir in dieser Szene angesehen und bekannt waren. Das gab mir eine Form des Selbstwertgefühls und des Gefühls wichtig zu sein. Bei SDS Kongressen waren wir natürlich auch dabei und hingen an den Lippen der großen Agitatoren Dutschke, Rabehl und Krahl. Ich tat mir weiter schwer mit allen diesen hochtheoretischen Ausführungen und einzig Rudi Dutschke hat auch mein Herz berührt. Ein paar Mal hatte ich ihn in diesen Jahren in Berlin besucht und zahlreiche Gespräche über Politisches und Persönliches geteilt.
Umso geschockter war ich und das gesamte Umfeld, als im Radio Anfang April 68 die Nachricht verbreitet wurde, dass „Rudi“ am Westberliner Kudamm vor der SDS Zentrale angeschossen und schwer verletzt war. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile und innerhalb von 2 Stunden versammelten sich mit uns spontan ca 3000 Demonstranten vor dem Buchgewerbehaus, von dem aus die Bildzeitung ausgeliefert wurde, 200 Meter von unserem Café entfernt. Unisono machten wir die monatelangen Hetzkampagnen der „Bild“ indirekt für dieses Attentat verantwortlich. Wir marschierten ungehindert in die Druckerei hinein und „besetzten“ kurzerhand das Gebäude. Als die Polizei dann in großem Aufgebot dort verspätet aufmarschierte, skandierten wir höhnische Sprechchöre, räumten aber nach einiger Zeit den Platz. Ein paar Tage später jedoch begannen in ganz Deutschland die „Osterunruhen“. In München organisierten verschiedene Gruppierungen u.a. der SDS die Demonstrationen rund um das Springer Areal. Wir wollten einfach verhindern, dass die Wagen mit der Bild Zeitung das Gelände verließen. An die 10000 Menschen, hauptsächlich Studenten, waren durch das Attentat radikalisiert und suchten die Machtprobe mit dem Staat. Ich hatte an all den Tagen, an denen wir uns hinter Barrikaden verschanzten, das Gefühl , meine ohnmächtige Wut auf diese „verrottete“ Gesellschaft herausschreien zu müssen. Wir hatten alle Zufahrtsstraßen zum Buchgewerbehaus verbarrikadiert und verschanzten uns dahinter. Mit Lautsprechern forderte uns die Polizei auf , den Platz zu räumen. Wir machten uns Mut, skandierten Parolen gegen den Springer Konzern, Herausgeber der „Bild“zeitung und den repressiven Staat. Wir wichen keinen Millimeter zurück und die Lage spitzte sich immer dramatischer zu. Schließlich machte die Polizei einen Ausfall und schnappten sich einige von uns, unter anderem mich. Wir wurden sinnigerweise im Hof des Buchgewerbehauses in Polizeiautos verfrachtet und später ins Gefängnis nach München Stadelheim transportiert. Dort wurde ich 24 Stunden in einer Einzelzelle gefangen gehalten, eine für mich neue und beängstigende Situation. Als ich freigelassen wurde, hatte ich kurzzeitig euphorische Gefühle, wie wenn ich jahrelang im Gefängnis verbracht hätte. Diese Gefühle wichen aber bald Gefühlen der Angst, Wut und Resignation. Irgendetwas war in diesen Tagen in mir zerbrochen. Ich sah mich plötzlich als „gescheiterte Existenz“ und fragte mich, wofür ich hier kämpfte und ob andere an meiner Seite stünden. Einige Monate später bekam ich eine 64 Seiten lange Anklageschrift wegen Landfriedensbruch, Widerstand gegen die Staatsgewalt etc. Ich spürte insgeheim, dass mein ganzes künftiges Leben jetzt irgendwie auf dem Spiel stand. Später, als Willy Brandt und die SPD an die Regierung kamen, wurden die politischen Anklagen annulliert und die Aktivisten amnestiert. Dadurch konnte ich zu meiner großen Erleichterung einer möglichen Gefängnisstrafe entgehen. Ich empfand auch diese Wendung als einen Hinweis mein Leben ganz neu zu überdenken.
Mir wurde immer klarer, dass ich mich entscheiden musste, ob ich eine repressive Politik und Gesellschaft mit radikalen Mitteln bedingungslos bekämpfen wollte oder ob ich andere Betroffene und eben nicht nur die studentische Opposition dort abholen wollte, wo sie bewußtseinsmäßig standen. Persönlich fühlte ich mich jetzt nicht mehr als Student und musste meinen Lebensunterhalt jetzt selbst verdienen. Es stand also die Alternative „kurzzeitiger aktionistischer Protest“ oder „längerfristiges sozialpolitisches Engagement“ in mir zur Diskussion. Ich entschied mich für letzteres. Der „lange Marsch durch die Institutionen“ (Rudi Dutschke) nahm langsam in mir Gestalt an. Es begann schon Mitte 68, als eine Gruppe im SDS unter dem Schlagwort „Südfront“ Heimzöglinge in Oberbayern dazu animierten, Ihre gefängnisartige Lage in diesen Heimen aufzugeben, auszubrechen und sich unserem „antikapitalistischen Kampf anzuschließen. Obwohl dieses Unterfangen anfänglich gut zu gelingen schien und die meisten Lehrlinge bei unseren Leuten Unterschlupf fanden, wurde sehr schnell der idealistische, wenig durchdachte Plan deutlich. Einerseits wurden die meisten der rebellischen Jugendlichen rasch wieder von Polizei und Jugendamt eingefangen und dadurch gerieten die Genossen selbst in Gefahr juristisch verfolgt zu werden. Andererseits würden zunehmend die „Gastgeber“ beklaut und belogen. Wir hatten uns in keiner Weise mit der seelischen Zerstörung in diesen Menschen auseinandergesetzt. So starb in kurzer Zeit auch diese Hoffnung, Verbündete am Rande der Gesellschaft für unseren „Kampf“ zu finden. Als dann die RAF (Rote Armee Fraktion) gegründet wurde und im Untergrund mit ganz anderen Bandagen „Politik“ machte, verließ ich nach persönlichen Unstimmigkeiten den Trkont Verlag und entschied ich mich Mitte 1969 bei der Fa Siemens zu arbeiten und dort aufklärerische Arbeit mit Lehrlingen zu beginnen. Ja, ich zog sogar mit einigen von ihnen in ein kleines Haus in München Sendling und lebte fast ein Jahr in einer WG mit künftigen Arbeitern zusammen. Später arbeitete ich in einem Team über 2 Jahre in einem Münchner Freizeitheim. In beiden für mich wesentlichen Erfahrungen, geprägt vom Geist der „68er“ , wurde ich immer mehr aus meinen revolutionären Träumen und Ideen gerissen. Immer deutlicher stellte sich für mich heraus, dass konkrete, seelische Hilfe gepaart mit lebensnaher gesellschaftspolitischer Aufklärung für diese jungen Menschen mehr bedeutete als alle revolutionären Parolen und Aktionen. Mein späterer beruflicher Weg zum Sozialpädagogen, Heilpraktiker und Körpertherapeuten, auf dem ich mich auch heute mit 75 Jahren noch begeistert bewege, ist in hohem Maße durch die politischen Jahre als „Berufsrevolutionär“ und meine innere Entwicklung in diesem Prozess geprägt. „1968“ war für mich lebendige, aufrichtig erfahrene „politische Bildung“ und mit allen Höhen und Tiefen persönliches „Erwachsenwerden“. Diese Zeit ist gesamtgesellschaftlich nicht aus der demokratischen Geschichte der BRD weg zu denken. Dafür bin ich sehr dankbar und möchte keinen Tag missen. Auch wenn ich heute in keiner Partei oder politischen Gruppe aktiv bin, spreche ich auch heute mit Freunden immer noch aus einer gewohnt kritischen Perspektive über die Weltlage und engagiere mich dafür, dass Menschen aus ihrem Herzen heraus neue Wege gehen und ihr Leben kritisch überprüfen. Das ist meine ganz persönliche Lehre aus den Jahren um 1968.
+++ Das Projekt „Mein 1968“ – Der Aufruf +++ Schreibtipps +++ Ein Beispiel +++ Kontakt +++
Der Autor
Erich v. Derschatta, geb.1943 in München. Abitur 1962.
Studium Lehramt Anglistik, Romanistik bis 1966
Wechsel; Soziologie Psychologie abgebrochen
67 bis 69 Aufbau des Trikont Verlages.
Studium der Soziapädagogik mit Abschluß 1975.
Arbeit als Dreher, Drogentherapeut, Körpertherapeut
und Heilpraktiker. Psy<hotherapeutische Ausbildung.
Umzug 2017 nach Ober-Ramstadt. Aufbau einer Praxis für Körper/Energiearbeit
in einer Praxisgemeinschaft in Darmstadt.
Zum dritten Mal verheiratet, zwei Söhne, eine Tochter, zwei Enkelkinder.
Bild: privat