Wir haben jetzt eine Diskussion in Schieflage, meint Judith von Sternburg in ihrer Fernsehkritik einer TV-Dokumentation der Salzburger Festspiele. Und zwar eine Schieflage, die durch die Rede Daniel Kehlmanns zur Eröffnung eben dieser Festspiele losgetreten wurde – hier im Wortlaut – und die einen Unterschied herstellt zwischen dem, was gemeinhim schlagwortartig als „Regietheater“ bekannt (?) ist und … dem Rest. Diesem Rest, so entnehmen wir Kehlmanns teils sehr persönlicher Rede, war sein Vater verpflichtet, der als ehedem gefragter Theaterregisseur Ende der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts „aus der Mode und in Vergessenheit“ geraten sei. Sein Vater habe im Regisseur noch einen Diener des Autors gesehen. Klar, dass Kehlmann selbst Autor geworden ist. (Oh, war das spitz? Entschuldigt bitte.) Und dann kommt er zum Eigentlichen:
„Spricht man mit Russen, mit Polen, mit Engländern oder Skandinaviern, die deutschsprachige Lande besuchen und hier ins Theater gehen, so sind sie oft ziemlich verwirrt. Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghettiessen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Ob das denn staatlich vorgeschrieben sei?“
Gestattet mir, liebe Blog-User, bitte ein persönliches Wort: Manchmal wünschte ich, es wäre so, dass die Deutschen staatlich verordnete Zuck-und-hysterisch-Schrei-Kurse absolvieren müssten. Max Reinhardt würde das vielleicht gefallen. Kehlmann zitiert Reinhardt, der die Salzburger Festspiele mit begründet hat, eingangs in seiner Rede:
„‚Das bürgerliche Leben‘, sagte Max Reinhardt in einer Rede an der Columbia University, ‚ist eng begrenzt und arm an Gefühlsinhalten. Es hat aus seiner Armut lauter Tugenden gemacht, zwischen denen es sich schlecht und recht durchzwängt.‘ Im Ungenügen also an dem einen Dasein, das uns gegeben ist, an der Mangelhaftigkeit unserer Gefühle, der Begrenztheit der Wege, die uns offen stehen, sah der Mitgründer dieser Festspiele die Wurzel unserer Faszination für das Theater. ‚Wir alle tragen die Möglichkeit zu allen Leidenschaften, zu allen Schicksalen, zu allen Lebensformen in uns.‘ Wo aber das Theater die Berührung mit der existentiellen Wahrhaftigkeit verliere, bleibe leeres Spiel und, schlimmer noch, blanke Langeweile. ‚Das Theater kann, von allen guten Geistern verlassen, das traurigste Gewerbe, die armseligste Prostitution sein.'“
Dieser Passage vom Anfang seiner Rede stelle ich eine aus ihrer Mitte gegenüber:
„Bei uns ist etwas Absonderliches geschehen. Irgendwie ist es in den vergangenen Jahrzehnten dahin gekommen, dass die Frage, ob man Schiller in historischen Kostümen oder besser mit den inzwischen schon altbewährten Zutaten der sogenannten Aktualisierung aufführen solle, zur am stärksten mit Ideologie befrachteten Frage überhaupt geworden ist. Eher ist es möglich, unwidersprochen den reinsten Wahnwitz zu behaupten, eher darf man Jörg Haider einen großen Mann oder George W. Bush intelligent nennen, als leise und schüchtern auszusprechen, daß die historisch akkurate Inszenierung eines Theaterstücks einfach nur eine ästhetische Entscheidung ist, nicht besser und nicht schlechter als die Verfremdung, auf keinen Fall aber ein per se reaktionäres Unterfangen.“
Der Salzburger Schauspieldirektor Thomas Oberender sagt dazu im Gespräch mit FR-Redakteur Peter Michalzik: „Nennen Sie mir ein Beispiel dafür, was kein Regietheater wäre!“ Michalzik selbst in seiner Rezension der Kehlmann-Rede: „Diese Rede ist ein Musterbild dumpf-reaktionären Denkens, ressentimentgeladen und argumentfrei zugleich. Sie wirkt in ihrem Bemühen, die Welt wieder zurechtzurücken, die Dinge wieder in ihre natürliche Ordnung zu bringen, herrlich harmlos, und doch laufen einem, wenn man genau hinhört, kalte Schauer den Rücken herunter.“
Dazu meint Wolfram Heinrich aus Castellabate:
„Peter Michalzik wirft Kehlmann vor, seine Rede sei ‚ressentimentgeladen und argumentfrei zugleich‘ gewesen. Das ist richtig, Kehlmann hat in seiner Rede in der Tat zu wenig argumentiert, während andererseits Michalzik in seinem Artikel überhaupt nicht argumentiert.
Man übertrage nur mal die Situation vom Theater weg in den Konzertsaal. Ein genialer Dirigent nähme sich ein Stück aus der Musikliteratur – sagen wir mal ‚Bilder einer Ausstellung‘ – und führte dieses Stück mit Schlagzeug, Synthesizer und E-Gitarre auf, kräftig mit Elementen aus der Rockmusik versetzt. Die feinsinnigen Musikfreunde (die häufig auch feinsinnige Theaterfreunde sind) würden aufjaulen.
Nun wissen wir natürlich, dass Emerson, Lake and Palmer genau das mit dem Stück von Mussorgsky getan haben und großen Erfolg damit hatten. Womit mein Argument widerlegt wäre. Der entscheidende Punkt ist aber, dass ELP ihre Version des Stücks niemals als Aufführung eines Werkes von Mussorgsky ausgegeben haben. Es wurde immer als eigenständiges Kunstwerk angesehen, das sich in seinen Grundzügen an Mussorgsky anlehnte. Würde der genialische Regisseur Hans Müller-Möhrenschneider sein Stück „Hamlet“ (nach Motiven des Kollegen Shakespeare) aufführen, würde sich keiner aufregen. Natürlich steht es jedem frei, sich in der Weltliteratur zu bedienen und vorhandene Stücke zu bearbeiten.
Ein bekannter Regisseur, der auch ein wenig als Dramatiker dilettierte, hat mehrere Stücke verstorbener Kollegen bearbeitet und aufgeführt, auf die Bühne gebracht hat er sie aber als seine Bearbeitungen von Stücken anderer. So penibel war Brecht, der ansonsten Urheberrechte eher entspannt betrachtete.
Das Ärgerliche am Regietheater ist doch nicht der Stil der Aufführungen, sondern der Etikettenschwindel, der damit verbunden ist. Hans Müller- Möhrenschneider versteckt sich hinter Shakespeare, weil alle Shakespeare sehen wollen, kein Schwein aber sich für die Stücke von Hans Müller-Möhrenschneider interessiert.“
Stefan Simon aus Mainz Kastel:
„Bravo Kehlmann! Es hat mir gut getan zu hören, dass endlich jemand aufgestanden ist, um die Zustände auf deutschsprachigen Bühnen beim Namen zu nennen.
Pflichtgemäß versucht die FR, Herrn Kehlmann lächerlich zu machen, und bestätigt damit eben das, was Herr Kehlmann kritisiert: den mafiosen deutschen Kulturfaschismus. Ja, ‚Faschismus‘, der seit Jahrzehnten nichts anderes duldet als das inzwischen bereits schablonenhafte Ritual des sog. Regietheaters. Alle Andersdenkenden werden von einer bestimmten Clique von pseudointellektuellen Theatermachern und Feuilletonisten ausgegrenzt, lächerlich gemacht und de facto mit einem Berufsverbot belegt.
Mir ist im Vertrauen zu Ohren gekommen, dass Schauspieler und Sänger, die sich gegen die Vergewaltigung durch Regisseure wehren, fürchten müssen, an deutschen Bühnen nicht mehr beschäftigt zu werden, ja, dass sie selbst dann mit Repressalien rechnen müssen, wenn sie an Projekten teilnehmen, die sich einer bestimmten Aufführungstradition verpflichtet fühlen.
Es ist zu hoffen, dass Herr Kehlmann nicht alleine bleibt. Mir ist es in Runden Theater- und Operninteressierter schon oft geschehen, dass sich mir viele angeschlossen haben, wenn ich das sog. Regietheater kritisierte; denn so weit geht die Unterdrückung durch den von bestimmten Kreisen gepflegten Kulturimperialismus, dass viele ängstlich sind, auch nur ihre Meinung zu äußern, um nicht als dumm oder reaktionär abgestempelt zu werden.
Ich bin, wenn man mich als konservativ beschimpft, dazu übergegangen, zu sagen: ‚Ich bin nicht konservativ, ich bin reaktionär!‘ Denn ich REAGIERE auf die Schändung, Verdrehung, Vergewaltigung und Unkenntlichmachung von Kulturgut, und ich kämpfe gegen Kulturmonopolisten, die in ihrem Verdrängungskampf schlimmer agieren als jeder Konzern.
Da das sog. Regietheater an einem kritischen Punkt angekommen zu sein scheint (denn jede Schraube lässt sich nur so lange drehen, bis sie überdreht ist), hoffe ich, dass ein Umdenken im Kulturbetrieb stattfindet. Ich wünsche den derzeitigen Protagonisten nicht, dass sie das gleiche Schicksal ereilt wie viele große Schauspieler und Regisseure, die sich nicht verbiegen lassen wollten.“
Edda Uhlmann aus Hamburg:
„Daniel Kehlmann, ein guter Junge, wie ihn sich ein Papa nur wünschen kann, nimmt diese Festrede als Anlass, von seinen Schuldgefühlen, die er seinem Vater gegenüber hat, zu reden. Er gibt uns, seinen Zuhörern und Lesern, einiges zu sehen von einer familiären Situation, in der es für den Sohn schwer erträglich gewesen sein muss mitzuerleben, dass der Vater keinen Erfolg mehr hatte. Vom derzeitigen Stand der Theaterkultur auf deutschsprachigen Bühnen hingegen weiß er nicht viel, er häuft nur Vorurteile an. Er weiß offenbar auch nichts davon, dass man uns im Ausland um gerade diese vielfältige Theaterkultur beneidet. Er wirkt besetzt von einem Kampf, der nicht wirklich seiner ist, sondern zur Geschichte des Vaters gehört. Dass Daniel Kehlmann von diesem Kampf nicht lassen kann, das könnte auch mit seinem gigantischen Erfolg zu tun haben, der intrapsychisch durchaus dazu geeignet sein kann, den Druck von Schuldgefühlen angesichts eines zuletzt erfolglosen Vater zu erhöhen.“
Da werden zwei Ansichten gegeneinander gesetzt, die ohneeinander gar nicht existieren können.
Ohne eine möglichst werkgetreue und historisch möglichst authentische Darstellung würden Interpretationen, Aktualisierungen überhaupt nicht wahrgenommen und verstanden.
Ohne eine zeitgemäße oder gar individuelle Interpretation würden viele Werke langweilig und unverständlich bleiben (und wohl auch nur einmal im Leben angesehen werden).
Die Entscheidung, das eine oder das andere zu tun, ist sicher eine ästhetische Entscheidung, auch eine kommerzielle .
Sie sollte aber nicht durch Können begrenzt werden.
Stefan Simon hat eigentlich schon das meiste gesagt, was ich dazu sagen würde. Wenn jetzt versucht wird, Kehlmann lächerlich zu machen, so hat er das evtl. verdient, weil seine Kritik so ernst vorgetragen ist. Das Zucken, die Hysterie, das Geschmiere und die tausend anderen Schablonen, die ihre Ursache wohl im ständigen, kramphaften „Aufrütteln“wollen des Zuschauers durch die Regisseure haben (das hat schon oft keine politischen Hintergründe mehr, sondern ist inzwischen Selbstzweck… ein Ritual)… das kann man doch gar nicht mehr ernstnehmen. Man kann es eigentlich nur noch so kommentieren wie Ephraim Kishon die Moderne Kunst kommentierte… Nämlich sich (weitgehend) lustigmachen über deren Auswüchse, denn hier wie dort gibt es ja ein ähnliches „Des Kaisers neue Kleider“-Phänomen.
Angesichts des Todes von Jürgen Gosch, Peter Zadeck und Pina Bausch finde ich die Diskussion um das „Regietheater“ beschämend (siehe besonders auch den Leserbrief von Herrn Simon) – auch diese drei Menschen stehen für das sogenannte „Regietheater“, haben vielen Menschen beglückende Erfahrungen geschenkt und wurden anfangs auch von ewig Gestrigen und besser wissenden angefeindet. Etwas mehr Demut und Respekt vor manchmal auch verstörenden Erfahrungen sollte man als Zuschauer schon mitbringen und …wenn Zuschauer und „Regietheater“ aufeinander treffen und es klingt hohl, muss es nicht unbedingt an der Inszenierung liegen.
Zit Kehlmann:
„Natürlich sehnte ich mich nach anderen Möglichkeiten und danach, mehr als ein Leben zu führen, alle Kinder tun das, werden sie erwachsen, verdrängen sie es, es sei denn, sie werden Schauspieler, oder sie schreiben.“
Eine sehr begrenzte Weltsicht, Es schon ein paar mehr Möglichkeiten, Träume zu verwirklichen…
In einer seltsamen Weise verweist Kehlmann sich und die Theater- und Schriftkünstler in eine sonderbare, unwirkliche Nische der Gesellschaft.
Bronski schrieb: „Sein Vater habe im Regisseur noch einen Diener des Autors gesehen. Klar, dass Kehlmann selbst Autor geworden ist.“
Was ich im Theater sehe, das sind die Schauspieler auf der Bühne. Was ich nicht sehe, das ist zum einen der Autor und zum anderen der Regisseur. Wenn es eine gelungene Inszenierung ist, dann sollte mir eigentlich gar nicht bewußt werden, daß dafür neben den Schauspielern auch ein Regisseur und ein Autor verantwortlich sind. Deren Leistung ist einfach da.
„Manchmal wünschte ich, es wäre so, dass die Deutschen staatlich verordnete Zuck-und-hysterisch-Schrei-Kurse absolvieren müssten.“
Hm, wenn das hülfe gegen exaltierte Theateraufführungen, dann sollte man in der Tat drüber nachdenken.
„Der Salzburger Schauspieldirektor Thomas Oberender sagt dazu im Gespräch mit FR-Redakteur Peter Michalzik: “Nennen Sie mir ein Beispiel dafür, was kein Regietheater wäre!”
Das ist ja nun ein uralter Kalauer, den Oberender da ausgräbt. Jeder weiß zwar, daß der Begriff Regietheater gemeinhin in einem engeren Sinne als „Regie im Theater“ verwendet wird, aber man tut so, als wüßte man es nicht und erntet so einige wohlfeile Lacher von schlichteren Gemütern.
Stefan Simon wird zitiert: „Mir ist im Vertrauen zu Ohren gekommen, dass Schauspieler und Sänger, die sich gegen die Vergewaltigung durch Regisseure wehren, fürchten müssen, an deutschen Bühnen nicht mehr beschäftigt zu werden…“
In den achtziger Jahren hat der Bayerische Rundfunk mal ein Feature über die Geschichte der Schuhmode gesendet. Darin kam unter anderem eine Schauspielerin C. vor, die seit früher Jugend schon sehr gerne in hochhackigen Stöckelschuhen rumlief und ein fast fetischistisches Verhältnis zu diesen Dingern hatte.
Frau C. erzählte nun, sie habe mal in einer Macbeth-Inszenierung in Bochum (?) eine der drei Hexen gespielt und der Regisseur habe den Einfall (!) gehabt, die Hexen nackt auftreten zu lassen (ja, gut, ich nehme das Ausrufezeichen wieder zurück, vielleicht war das damals noch originell). Sie habe sich furchtbar geschämt, so berichtete Frau C. weiter, splitternackt auf der Bühne rumzustehen und habe den Regisseur (ich weiß den Namen nicht mehr, es war ein recht bekannter Name, aber ich komm nicht mehr drauf) gebeten, wenigstens ihre Stöckelschuhe anbehalten zu dürfen, sie fühle sich dann nicht mehr so ganz nackt. Man habe sich schließlich drauf geeinigt, daß sie einen Stöckelschuh habe tragen dürfen.
Ich habe die Geschichte deshalb so ausführlich erzählt, um klarzumachen, daß es hier überhaupt nicht um Theater, Regie oder Regietheater ging.
Was kann man aus dieser kleinen Geschichte schließen? Frau C. war es ausgesprochen widerlich, nackt auf der Bühne aufzutreten, aber sie hat es nicht gewagt, sich schlicht zu weigern. Sie wäre aus diesem Stück rausgeflogen und sie hätte ganz, ganz schlechte Karten für künftige Engagements gehabt – das schließe ich daraus.
Und Michael Kehlmann ist im Laufe der Diskussion um die Rede seines Sohnes unter anderem autoritäres Verhalten auf der Bühne vorgeworfen worden…
BvG schreibt: „Ohne eine möglichst werkgetreue und historisch möglichst authentische Darstellung würden Interpretationen, Aktualisierungen überhaupt nicht wahrgenommen und verstanden.“
Nun, nun. Noch gibt es Theaterstücke auch zum Lesen. Noch bin ich nicht auf mein jeweiliges lokales Theater angewiesen, um mir ein Stück reinpfeifen zu können.
„Ohne eine zeitgemäße oder gar individuelle Interpretation würden viele Werke langweilig und unverständlich bleiben…“
Also, wenn ein Theaterstück vom Text her nur noch zum Gähnen reizt, dann sollte man es lieber doch im Regal stehen lassen, zum gelegentlichen Gebrauch durch Studenten, die sich das antun müssen, um einen akademischen Abschluß zu erwerben.
„Die Entscheidung, das eine oder das andere zu tun, ist sicher eine ästhetische Entscheidung, auch eine kommerzielle. Sie sollte aber nicht durch Können begrenzt werden.“
Ganz ernsthaft: Was spräche dagegen, einen Hamlet auf Müller-Möhrenschneider-Art als „Hamlet von Hans Müller-Möhrenschneider, nach einer Idee von W. Shakespeare“ auf die Bühne zu bringen? Hmnja, ich versteh schon, das liebe Geld. Wer würde sich dergleichen dann schon anschauen wollen?
Mein Vater war Metzger und vielleicht bin ich deshalb ein bisserl eng in meinen Anschauungen: Wenn irgendwo Leberkäs drin ist, dann sollte, so denk ich mir, auch „Leberkäs“ draufstehen und nicht „Leberpastete“. Auch einem Schauspielerscheucher stünde ein wenig Handwerker-Ethos nicht schlecht an.
Walter H. Krämer schrieb: „Angesichts des Todes von Jürgen Gosch, Peter Zadeck und Pina Bausch finde ich die Diskussion um das “Regietheater” beschämend…“
Du lieber Heiland, nur weil jemand gestorben ist, herrscht Diskussionsverbot? Für wie lange? Und wenn die Frist um ist, stirbt womöglich der Nächste. Braucht man jetzt schon Särge, um Barrikaden zu errichten?
Damit eines klar ist: Ich habe nichts gegen angedeutetes oder echtes Ficken auf offener Bühne, das hat man im „Salambo“ auf der Reeperbahn schon in den sechziger Jahren gemacht, wenn ich recht informiert bin. Ich habe auch nichts gegen Striptease, Blutverspritzen, Kotzen etc. auf der Bühne, selbst eine Kombination von all dem tätert mich nicht wirklich vom Stockerl hauen. Man brüht ab im Lauf der Jahre.
Daß ein Theaterstück, das zunächst ja nur ein Text ist, für jede Aufführung interpretiert werden muß, versteht sich. Wenn da steht „Erwin geht ab“, dann wird sich der Regisseur seine Gedanken machen müssen, wie er den Erwin abgehen läßt. Und wenn da steht „Erwin reißt seinen Mantel auf, deutet auf seinen erigierten Schwanz und kichert irr. Neun nackte Nymphen treten aus dem Wandschrank und tanzen wild. Die siebte Nymphe schraubt sich den Kopf ab und aus dem Halsstumpf spritzt ihr Blut und saut die Bühne voll. Angewidert geht Erwin ab“, dann wird der Regisseur sich etwas einfallen lassen müssen, dies zu gestalten. Wenn dergleichen aber nicht im Text steht, dann geht Erwin halt einfach nur ab.
Zuviel verlangt? Langweilig? Verstaubt? Geht’s denn ohne Bierzelt-Gaudi überhaupt nicht mehr?
@wolfram heinrich
Ich glaube nicht, daß viele Menschen in der Lage sind, sich eine authentische Aufführung beim Lesen eines Stückes vorzustellen. Selbst wenn, fehlte da noch das gemeinsame Erlebnis des Stückes, über das sich dann sprechen ließe. Man müßte sich statt dessen erstmal mühsam über das Gesehene einigen, was schon bei unveränderlichen und wiederholbaren Medien schwierig werden kann.
@ BvG
„Ich glaube nicht, daß viele Menschen in der Lage sind, sich eine authentische Aufführung beim Lesen eines Stückes vorzustellen.“
Ich weiß jetzt zwar nicht, auf welchen Satz meiner obigen Ausführungen sich diese Argumentation bezieht, aber sei’s drum. Wann immer ich eine Geschichte lese (in welcher Form immer, Roman oder Drama oder Gedicht), bin ich gezwungen, mir im Hirn diesen Buchstabensalat in eine szenische Form zu bringen. Jeder Jerry-Cotton-Leser muß das können, sonst hat er nicht viel von der Story.
„Selbst wenn, fehlte da noch das gemeinsame Erlebnis des Stückes, über das sich dann sprechen ließe.“
Man scheint inzwischen einen Schritt über Schiller hinaus gekommen zu sein: Das Theater als gesellige Anstalt. Im Falle des Lesens macht das aber nichts, denn es ist eh keiner da, mit dem ich jetzt und sofort über das Stück sprechen könnte. Irgendwann läuft mir schon mal einer über den Weg, mit dem ich mich über dies Stück streiten kann, notfalls prügele ich mich im Internet.
Zunächst einmal ist es doch in Ordnung, daß die Theaterregisseure einfach nicht nur Regisseure sind, sondern doch auch selber Autoren. Was ist denn der Unterschied, wenn ein Autor sich nach längerem Nachdenken ein „Herr M. klopft, tritt ein, und sagt >Guten TagHe ihr Arschlöcher, hier bin ich<„. Hier wird der Regisseur zum Autoren, und das ist in meinen Augen völlig in Ordnung, schlimm wäre es, wenn es das nicht gäbe, d.h. die allgemeine, totale Werkstreue ausgerufen würde. Das wurde hier schon mehrfach ähnlich gesagt.
Die Frage ist jetzt, ob die Kreativleistungen der Regisseurautoren qualitativ mit den Kreativleistungen der Nichtregisseur-Autoren mithalten können. Hier steht die Qualitätsfrage im Raum.
Was ist „gute“ Kunst? Das ist eine heikle Frage. Die ist generell, glaube ich, ad akta gelegt worden mit der Behauptung: „Gut ist, was Wirkung zeigt“.
Um Wirkung hervorzurufen, braucht man nicht viel Talent, ich meine aber doch, daß Talent werkliche Inhalte schaffen kann, die tiefer und besser wirken, als es bloßes Untalent kann. Der Gipfel der Untalentiertheit ist es, wenn Inhalte zufallsgesteuert zustandekommen, Kehlmann hat das im Spiegel mit der Gebärdensprachengeschichte illustriert. Oft erscheinen einem die Inhalte vieler Aufführungen so zusammenhangslos, so wirr, so beliebig, daß wirklich nichts übrigbleibt als anzunehmen, hier hätte jemand die erstbesten Ideen realisiert, die ihm gerade in den Kopf kamen. Über diesen Kopf und seine Möglichkeiten, wie ich sie einschätze, sage ich jetzt mal weiter nichts. Amüsant hingegen finde ich den Vorwurf H. Krämer, es müsste mein Kopf sein, der hohl wäre, wenn ich so oft vieles nicht verstünde. H. Krämer müsste erst mal den Nachweis führen, daß, was ich sehe, aber nicht verstehe, prinzipiell überhaupt „verstehbar“ ist. Auf Verstehbarkeit hin ist leider oft nicht vieles angelegt, was ein Regisseur bringt, weil es ihm gerade so aus heiterem Himmel einfiel und der Einfall seinen eigenen inneren Beifall fand, aus welchen Gemütslagen heraus auch immer.
Ich denke schon, daß es hier auch etwas, wie Kehlmann es andeutete, spezifisch Deutsches gibt. Ich kenne nun nicht Theater im Ausland, aber eine ähnliche Situation scheint es im Radio-Hörspiel zu geben. Es ist möglich, deutsche Kriminalhörspiele, Sciencefictionhörspiele und Hörspiele für Kinder von Anfang bis zum Ende zu hören. Nahezu sämtliche anderen Hörspiele sind hingegen ein ungenießbares Konglomerat von wirren Texten, gern 4 Stimmen gleichzeitig, gutturalen Lauten, hysterischem Geschrei, und anderen unzusammenhängenden Geräuschen. Ich bin mir relativ oft ziemlich sicher, daß es keinen einzigen Hörer bundesweit gibt, der das von Anfang bis Ende anhört, weil es schlicht menschlich unmöglich ist. Die Entfesselung scheint hier noch totaler zu sein, weil ja völlig schnurz ist, wieviele Leute die E-Sender, die sowieso wohl nur eine Minderheit hören, zu einem bestimmten Zeitpunkt einschalten, wohingegen man als Produzent von beliebiger Wirrnis ein leeres Theater schon ganz gern vermeiden will.
Die Hörspielszene z.B. in Großbritannien (BBC) sieht da ganz anders aus. Es gibt dort in hohen Dosen das, was es in Deutschland nur ganz selten gibt: verstehbare Hörspiele (mit Handlung! Igittigitt!!!) jenseits Kinderfunk und Krimi/SF. Statt der Ratio „Hörspiel mit extremen Experimentalelementen“ zu „Hörspiel weitgehend Experimentalelementfrei“ von 95:5 hier gibt es dort 5:95. Ist das nicht irgendwie merkwürdig? Sind die Briten irgendwie „primitiver“ als wir?
Es muß sich hier also um eine deutsche Eigenart handeln, man müsste das mal untersuchen, es würde mich interessieren, was dahintersteckt, was die Ursachen sind.
Um zurückzukommen auf „Gut ist, was Wirkung zeigt“: Eine fixe Idee scheint mir zu sein, daß überhaupt die einzige akzeptable Wirkung nur die „Verstörung“ sein kann, daß man AUSSCHLIESSLICH über „Verstörung“ die Wirkung so intensivieren kann, daß etwas Bleibendes beim Zuschauer entsteht (Die Regisseure behaupten nur deswegen nicht, so mein Verdacht, daß sie den Zuschauer in bestimmte Richtungen erziehen wollen (z.B. weg von einer „bürgerlichen Selbstzufriedenheit“, um mal ein Standardziel zu benennen), weil ein Regisseur, der so etwas behauptet, eine lächerliche Figur abgibt… Klar, wessen Möglichkeiten beschränkt sind, aus welchen Gründen auch immer, dem kann man, hat er solche Ziele, nur Selbstüberschätzung attestieren).
Der Mensch hat ein ganz bestimmtes Instinktkostüm, daß ihm ganz bestimmte emotionale Reaktionen zu bestimmten Auslösern aufzwingt. Das „Regietheater“, insoweit es „Verstörungstheater“ ist, stellt oft eine gigantische Ansammlung solcher Auslöser dar, und man scheint sich etwas davon zu versprechen, wenn die instinktiven emotionalen Reaktionen dann ausgelöst werden. Nur was? Was verspricht man sich davon? Kot löst Ekel aus, Blut löst Fluchtgefühle oder Aggression aus, nackte Körper lösen Schamgefühle aus (oft ist aber auch die Ekelkomponente größer), na und? Will man den Menschen neu konstruieren, ohne die Instinktreaktionen, dadurch, daß er seine Instinkte „hinterfragt“? Oder benutzt man die Instinktreaktionen einfach nur dazu, um die billigste Wirkung zu erzielen? Ich denke, letzteres.
P.S. Der erste Absatz ist durcheinandergekommen. Da er nicht einen Text für besonders fortschrittliches Theater darstellen soll, sondern verstanden werden soll, hier nochmal korrekt:
Zunächst einmal ist es doch in Ordnung, daß die Theaterregisseure einfach nicht nur Regisseure sind, sondern doch auch selber Autoren. Was ist denn der Unterschied, wenn ein Autor sich nach längerem Nachdenken ein „Herr M. klopft, tritt ein, und sagt >Guten TagHe ihr Arschlöcher, hier bin ich<„. Hier wird der Regisseur zum Autoren, und das ist in meinen Augen völlig in Ordnung, schlimm wäre es, wenn es das nicht gäbe, d.h. die allgemeine, totale Werkstreue ausgerufen würde. Das wurde hier schon mehrfach ähnlich gesagt.
P.S.S.
Soso, eckige Klammern erzeugen fortschrittliche Theatertexte… jetzt habs auch ich begriffen…
Zunächst einmal ist es doch in Ordnung, daß die Theaterregisseure einfach nicht nur Regisseure sind, sondern doch auch selber Autoren. Was ist denn der Unterschied, wenn ein Autor sich nach längerem Nachdenken ein „Herr M. klopft, tritt ein, und sagt ‚Guten Tag'“ abringt, und der Regisseur dann meint: Verdammt, wie Scheiß-bürgerlich, ich muß doch der heiligen Pflicht jedes Theaterregisseurs nachkommen, nämlich den Zuschauer zu verstören, und dann folgendes stattdessen zusammendichtet: „Herr M. wirft die Fensterscheibe mit einem Ziegelstein ein, klettert durchs Fenster, und ruft: ‚He ihr Arschlöcher, hier bin ich'“. Hier wird der Regisseur zum Autoren, und das ist in meinen Augen völlig in Ordnung, schlimm wäre es, wenn es das nicht gäbe, d.h. die allgemeine, totale Werkstreue ausgerufen würde. Das wurde hier schon mehrfach ähnlich gesagt.