Mobiles Wählen: Ablenkung von den tatsächlichen Problemen

Man könnte fast meinen, wir haben schon Sommerloch: Die SPD schlägt vor, das Wählen flexibler zu gestalten, zum Beispiel indem nicht nur an einem Sonntag gewählt wird, sondern über eine ganze Woche hinweg, oder indem Wahlkabinen sonstwo aufgestellt werden, nicht nur im Wahllokal. Dass die Leute immer weniger zahlreich wählen gehen, hat also damit zu tun, dass ihnen nicht genug Zeit dafür gegeben wird? Oder dass die Wege zu weit sind? Und nicht damit, dass immer mehr Leute keinen Sinn im Wählen sehen, weil sie das Gefühl haben, dass die da oben ja sowieso machen, was sie wollen?

Ehrlich gesagt hat die Politik in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zahlreiche Argumente für eine solche Haltung geliefert. Wenn eine Politik angeblich alternativlos ist – so wie Merkel dies anlässlich des staatlichen Eingreifens in der Bankenkrise 2007 verkündete und später in der Eurokrise ebenso -, dann ist damit doch eigentlich schon gesagt, dass der dumme, uninformierte Wähler einfach besser das Maul halten sollte, nicht wahr? Wenn es keine Alternative gibt, hat man auch keine Wahlmöglichkeit. Ein ähnliches Prozedere läuft derzeit hinsichtlich der Verhandlungen über TTIP ab: Der Bürgerprotest sagt relativ entschlossen, dass er keine Schiedsgerichte und keine Aufweichung europäischer Standards, aber der SPD-Vorsitzende und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel stellt sich hin und sagt, dass man da wohl nicht mehr viel machen könnte; das sei ja alles schon beschlossen.  Der Beispiele gibt es noch viele.

Der Ort, wo Politik anschaulich wird, sollte eigentlich das Parlament sein, der Bundestag. Dort gab es früher eine vorbildliche Debattenkultur. Doch irgendwann gingen Regierungen dazu über, Gesetze, über die gründlich hätte gestritten werden müssen, im Eiltempo durchs Parlament zu peitschen. Den Volksvertretern wurde keine Zeit gegeben, sich gründlich mit den Themen und den Gesetzesvorlagen zu beschäftigen. Die Politik scheute die Debatte, ja, Debatten wurden ihr geradezu lästig. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verkörpert dieses Politik-Konzept wie keine andere, denn nur, wenn sie sich nicht in Debatten hineinbegeben muss, kann sie über den Dingen schweben, wie sie es als unser aller Mutti anscheinend am liebsten hat; nur wenn sie sich nicht kontrovers äußert, kann sie hohe Zustimmungswerte bekommen. Merkel ist ein Schlafmittel.

Ab in die Tonne mit den SPD-Vorschlägen! Wenn die Politik nicht begreift, was falsch läuft, dann müssen die Menschen ihr dies begreiflich machen. „Pegida“ ist in dieser Hinsicht ein Anfang, wenn auch ein falscher. Die progressiven Kräfte dieses Landes müssen Merkel und Co. Feuer unterm Hintern machen. Wie das funktionieren kann, das hat die FR in ihrer Schwerpunktausgabe zum Abschluss der Serie „Was ist gerecht?“ mit zahlreichen Beispielen und Vorschlägen an die Menschen herangetragen.

Peter Boettel aus Göppingen meint dazu:

„Die Idee mobiler Wahllokale scheint wohl den derzeit klügsten Ausweg darzustellen, um von den tatsächlichen Problemen, die die Bürger von den Wahlurnen fernhalten, abzulenken. Nicht einmal nach den Gründen für die Politikverdrossenheit will SPD- Generalsekretärin Yasmin Fahimi suchen, sondern sie unterstellt eine Bequemlichkeit der Wähler als Ursache für die  sinkende Beteiligung an Wahlen wie auch für das Abschneiden der großen Parteien. Leider wird auf diese Weise schlichtweg ignoriert, dass die Politiker immer mehr an Glaubwürdigkeit verlieren, weil sie ihre Wahlversprechen schnell vergessen oder gar ihre Meinung völlig ändern, wie dies bei den führenden Politikern der derzeitigen Regierungskoalition leider laufend festzustellen ist.
So bilden beim Paradethema der SPD vor der Wahl, dem „flächendeckenden uneingeschränkten Mindestlohn“, die Ausnahmen schon die Regel, von einer Regulierung der Finanzmärkte ist keine Rede mehr, die Mietpreisbremse ist zugunsten der Immobilienhaie zurechtgestutzt worden, Steuergerechtigkeit ist zum Fremdwort mutiert, wobei die Vermögenssteuer, für die Sigmar Gabriel noch in der Opposition eine flammende Rede gehalten hat, von ihm für tot erklärt wird. Merkel lispelt im Wahlkampfduell „keine Pkw-Maut“, während ihr Verkehrsminister seit seinem Amtsantritt kein anderes Thema kennt und letztlich auch diese heimliche Steuererhöhung für die Berufspendler durchpaukt, während die Lkws weiterhin munter Straßen, Brücken, Gehwege  sowie die Umwelt zerstören. Die Waffenexporte in Krisengebiete werden nach einem Gespräch der Rüstungslobby mit Wirtschaftsminister Gabriel verstärkt und mit Exportgarantien abgesichert.
Statt eines Abbaus von Privatisierungen, die bisher stets zu Lasten der Beschäftigten und der Steuerzahler geführt haben und vom Rechnungshof als unwirtschaftlich moniert wurden, werden die  ÖPP-Projekte, z.B. bei den Autobahnen, zum Nutzen von Versicherungskonzernen von Gabriel favorisiert. Dabei tappt Gabriel in jedes Fettnäpfchen, das die SPD als unseriöse, auf Kosten des Steuerzahlers agierende, wirtschaftsaffine Partei aussehen lässt. Und schließlich will der Vorsitzende der Partei, die seit über 150 Jahren den Anspruch vertritt, für eine bessere Gesellschaftsordnung, Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, trotz aller Warnungen, Petitionen namhafter Organisationen und trotz eines Beschlusses eines Parteikonvents mit brachialer Gewalt den Abschluss der Freihandelsabkommen TTIP, Ceta und Tisa durchsetzen, durch die alle Errungenschaften im Arbeitsrecht, in der Ernährung, in der Bildung  dem Wohl und Wehe obskurer Schiedsgerichte überlassen werden.
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Sie belegt, wie die Versprechen teilweise bis ins Gegenteil verkehrt werden; die Wähler sind mündig genug, diese Täuschungen zu erkennen. Somit werden mobile Wahlurnen, die in Skandinavien aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte und größerer Entfernungen von den Gemeindezentren ihre Berechtigung haben, noch lange nicht dazu führen, die Frustrationen der Bevölkerung über die mangelnde Glaubwürdigkeit der Politik abzubauen. Zur Beseitigung der Wahlmüdigkeit hilft nur, wie Holger Schmale in seinem Kommentar zutreffend schreibt, eine überzeugende Politik.“

Sigurd Schmidt aus Bad Homburg:

„Es gilt, sich nicht im politischen Diskurs mit Schmutz zu bewerfen. Sachliche Argumente sind gefordert, persönliches Charisma, in Dosen eingesetzt, ist nicht verboten. Dazu gehört, dass auch Frauen ihre Weiblichkeit im politischen Kampf einsetzen können, wenn sie denn dies intelligent und charmant, aber immer sachlich begründet zu „verpacken“ wissen. Wenn jetzt Union und andere Gruppierungen die Initiative von SPD und Grün beharken, „es bedürfe in Deutschland mehr von Direkt-Demokratie“, dann mögen doch bitte diese Opponenten von mehr Bürger-Teilhabe ihre Argumentation klug einmal darlegen.
Dass Direktdemokratie ein Einfalls-Tor für Populismus ist, daran kann kein Zweifel herrschen. Der allgemeinen Verdrossenheit des deutschen Wahlbürgers mit der Politik muss aber doch entgegengehalten werden. Der Bürger muss sich aufgefordert sehen, am Allgemeinwohl mitzuwirken. Das konservative Lager in Deutschland macht es sich zu leicht.“

Roland Klose aus Bad Fredeburg:

„Die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi setzt auf eine Wahlreform wie in Schweden mit wochenlangen Wahlen und fahrenden Wahlkabinen, um damit gegen Politikverdrossenheit und drastisch sinkende Wahlbeteiligungen in Deutschland anzukämpfen. Eine Politsatire der SPD par excellence, welche die eigentlichen Ursachen von Politik- und Wahlverdrossenheit außer acht lassen. Was ist die Realität? Bürger dürfen nur Parteien und Politiker wählen, die Versprechungen machen, welche sie aber in ihrer praktischen Regierungsarbeit nicht umsetzen. Der Wähler ist enttäuscht und bleibt daher entweder der nächsten Wahl fern oder wählt eine Protestpartei. Und wie können wir die Bürger tatsächlich an die Wahlurnen locken? Durch einen überzeugenden „Von-Tür-zu-Tür-Wahlkampf“, durch Spenden der sog. Wahlkampfkostenerstattung an die Wähler und durch direkte statt indirekte Demokratie. Der mündige Bürger und Wähler soll bei Wahlen nicht nur sein Kreuzchen machen dürfen, sondern auch über wichtige politische Themen wie in der Schweiz direkt mit entscheiden. Das stärkt und festigt nicht nur die Demokratie, sondern auch seine so politisch aufgewerteten Staatsbürger. Zum Beispiel Pegida-Demonstrationen würden damit überflüssig, weil der Wähler als Volkssouverän dann mehrheitlich über Zuwanderung nach Deutschland entscheiden könnte. Also, Frau Fahimi, entsorgen Sie bitte Ihre Wahlreform im Mülleimer der Geschichte!“

Werner Arning aus Mörfelden-Walldorf:

„Es gibt wohl zwei Arten von Nichtwählern. Auf der einen Seite diejenigen, die sich durchaus für Politik und das gesellschaftliche Leben interessieren, jedoch nicht wählen, etwa, weil sie finden, dass sich die Parteien eh kaum noch voneiander unterscheiden, ihre Wahlbeteiligung also ohne Bedeutung bliebe, und es gibt auf der anderen Seite die, die an Politik völlig desinteressiert sind. Diese zweite Gruppe hat keine Meinung, weiß eigentlich gar nicht worum es geht und bleibt deshalb der Wahl konsequenterweise fern.
Beide Gruppen sind mit „Wahlerleichterungstricks“ nicht zu erreichen. Zur zweiten Gruppe gehören auffällig viele junge Wahlberechtigte. Ist diesen jüngeren Generationen in ihrer Kindheit möglicherweise ein Übermaß an Verwöhnung zuteil geworden, sodass sie hauptsächlich auf sich und auf ihre möglichst direkte Bedürfnisbefriedigung fixiert sind? Sollte man sie in dem Fall nun weiter verwöhnen durch Wahlerleichterungen? Oder ist es nicht eher so, dass eine Wahlteilnahme ihnen, aus ihrer Sicht, ja zunächst keinen persönlichen Vorteil bringt und sie Politik einfach langweilig finden? Diesen Fragen nachzugehen, wäre unter Umständen sinnvoller als eine Reform des Wahlverfahrens in Auge zu fassen.“

Verwandte Themen

5 Kommentare zu “Mobiles Wählen: Ablenkung von den tatsächlichen Problemen

  1. Ich schlage vor, die Wahlperiode auf 5 Jahre zu verlängern, den Wahlkampf zu verbieten und meine Stimme auf eine 100% Prozent- Basis zu stellen, die ich selbst im Verlauf der 5 Jahre auf Abgeordnete meiner Wahl verteilen kann.
    Dazu brauche ich lediglich einen Wahlzettelabreißblock oder einen Wahlcomputer bei meiner Gemeindeverwaltung und eine Auswertungsinfrastruktur, die leicht von der „Forschungsgruppe Wahlen“ erstellt werden kann. Ich schau‘ dann gelegentlich vorbei und teile was mit. Und wenn ich dann noch ohne Nachfragen eine Rolle gelbe Säcke kriege, dann läuft das mit der Wahlbeteiligung!!

    Wahlkabinen braucht man dann nur noch in den Fluren der Parlamente, wo jeder Abgeordnete jederzeit nachsehen kann, ob er sie noch alle hat (seine Wähler).

  2. Fahimi verweist also auf das Modell Schweden, wo Wahllokale auch an öffentlichen Orten wie Postämtern oder Supermärkten eingerichtet werden.
    Ich ergänze den Vorschlag dahingehend, nach Abgabe des Wahlzettels einen 10-Euro-Gutschein zu erhalten, der dann gleich im Supermarkt eingelöst werden kann.

  3. Früher, als meine Eltern wählen gingen und ich noch kein Wahlrecht hatte, war der Wahlgang eine Art feierlicher Akt. Man kleidete sich etwas besser, um dann gemeinsam zum Wahllokal zu gehen. Meine Eltern vermittelten mir, dass es sich um eine besondere Angelegenheit handelte, keine Alltagsgeschichte, die man so nebenbei erledigt. Wenn nun ausgerechnet von der ältesten deutschen Partei der Vorschlag kommt, man solle en passant mit dem Einkauf von Klopapier und sonstiger Alltagsutensilien sein Kreuz bei der Partei seines Vertrauens machen während man gleichzeitig über Durchsagen auf Sonderangebote hingewiesen wird, muss man vermuten, dass die SPD dem Wahlakt keine größere Bedeutung mehr beimisst. So, denke ich, werden aus Wählern Nichtwähler.

  4. Zu Yasmin Fahimis Vorschlag fiel mir spontan das „Seifenlied“ ein, das einen Geschenkartikel der SPD während des Reichstagswahlkampfs 1928 karikierte. Damals wie heute leidet die Partei sowohl unter nicht überzeugenden Programmen als auch unter einer absonderlichen Strategie im Umgang mit den Wählern. Bekanntester Interpret des von Julian Arendt verfassten und von Otto Stranzky komponierten Lieds war Ernst Busch:

    Wir haben unsre Brüder
    mit Wahlkampfseife bedacht.
    Das tun wir das nächste Mal wieder;
    es hat sich bezahlt gemacht.

    Wir schlagen Schaum.
    Wir seifen ein.
    Wir waschen unsre Hände
    Wieder rein.

    Wir haben ihn gebilligt
    den großen heiligen Krieg.
    Wir haben Kredite bewilligt,
    weil unser Gewissen schwieg.

    Wir schlagen Schaum……

    Dann fiel’n wir auf die Beine
    und wurden schwarz-rot-gold.
    Die Revolution kam alleine;
    wir haben sie nicht gewollt.

    Wir schlagen Schaum……

    Wir haben die Revolte zertreten
    und Ruhe war wieder im Land.
    Das Blut von den roten Proleten,
    das klebt noch an unsrer Hand.

    Wir schlagen Schaum…..

  5. Zu Frau Fahimis Vorschlag von Wahlwochen in Schweden.
    Woher hat Frau Fahimi diese Information?
    Ich habe mich in Schweden erkundigt, aber keiner unserer Bekannten und Verwandten konnte mir zum Thema Wahlwochen etwas sagen. Scheint eine Chimäre zu sein.
    Die letzte Riksdagsval war wieder einmal eine Richtungswahl an einem einzigen Tag und nicht über eine Woche.
    Vielleicht weiß man im blog hier i.S. Wahlwochen in Schweden mehr, würde mich interessieren.

Kommentarfunktion geschlossen