Der Zusammenbruch eines Lügengebäudes

Vor fünfeinhalb Jahren musste Karl-Theodor zu Guttenberg seinen Hut nehmen, weil er bei seiner Doktorarbeit geschwindelt hatte. Damals war es eine klare Sache: Kein Pardon für den Minister. Auch nicht hier im FR-Blog. Politiker haben nicht nur den Willen des Souveräns zu vertreten, sie haben auch eine Vorbildfunktion. Dasselbe muss nun für Petra Hinz gelten, auch wenn der Fall ein wenig anders gelagert ist.

Hinz, seit 2005 SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem roten Essen, hat ebenfalls geschwindelt: Sie hat in ihrem Lebenslauf falsche Angaben gemacht. So hat sie weder das Abitur, noch hat sie ein Jurastudium absolviert oder in einer Anwaltskanzlei gearbeitet. Diese Angaben sind offenbar frei erfunden. Wieso dies niemandem in Essen aufgefallen ist und wie es möglich ist, dass niemand in Essen Kenntnis davon hatte (bzw. gehabt haben will), ist ziemlich unerklärlich. Bei zu Guttenberg konnten Parteifreunde sich noch herausreden: Wer liest schon Doktorarbeiten? Tatsächlich wäre das Prüfungskollegium der Uni die Instanz gewesen, die Plagiate in Guttenbergs Arbeit zu erkennen. Aber in der SPD gibt es offensichtlich keine Instanz, die derlei Angaben überprüft, wie Petra Hinz sie gemacht hat — Angaben, die ihr halfen, bis zur Abgeordneten aufzusteigen. Hat dieses Versagen der Parteiinstanzen womöglich mit dem berüchtigten Klüngel der Genossen im Pott zu tun?

Hinz ist inzwischen von ihren Parteiämtern zurückgetreten. Den Rücktritt vom Bundestagsmandat hingegen hat sie bisher nur angekündigt, aber noch nicht vollzogen, obwohl von der Partei Druck ausgeübt wurde. Sie befindet sich in stationärer Behandlung in einer Klinik. Das Mandat will sie laut eines Interviews nach dem Klinikaufenthalt niederlegen. „Nach Angaben des Bundestags“, so ist bei Wikipedia zu lesen, „hat Hinz mehrere Versuche scheitern lassen, ihr noch im Juli einen Termin beim Bundestagspräsidenten zu verschaffen“, um ihren Rücktritt vom Mandat zu erklären. Durch die Verzögerung bezieht Hinz weiterhin monatlich knapp 14.000 Euro an Bezügen. Rein rechtlich kann sie nicht zur Niederlegung gezwungen werden. Sie könnte ihr Mandat bis zum Ende der Legislaturperiode behalten.

Der Fall treibt bizarre Blüten. So wurden gegen Hinz Mobbing-Vorwürfe erhoben. In einem Mitte Juni anonym versandten Brief wurde behauptet, zum täglichen Umgangston im Büro Hinz gehörten „persönliche Beleidigungen, Diffamierungen, Mobbing, ständige Überwachung und Maßregelung sowie die Übertragung von demütigenden Aufgaben“. Rund einen Monat später äußerte sich einer der Betroffenen, der Historiker Norman Kirsten, und bestätigte die in dem anonymen Brief erhobenen Vorwürfe. Länger als ein gutes halbes Jahr habe er es „nicht ausgehalten“.

Ich halte es für durchaus möglich, dass im Fall Petra Hinz noch einiges auf uns zukommt — auch im Hinblick auf das persönliche Scheitern der Abgeordneten, das eine tragische Note haben mag. Insofern bin ich ganz bei FR-Autor Stephan Hebel, der forderte: „Lasst Petra Hinz in Ruhe!“ Die Frage ist: Inwieweit ist es nötig, sich in die Situation der Abgeordneten hineinzuversetzen, um den Betrug zu bewerten? Es ist ja durchaus vorstellbar, dass die Verstrickung in ihre eigene Lebenslüge eine Dynamik entfaltet hat, der Petra Hinz schließlich nicht mehr gewachsen war. Es ist auch vorstellbar, dass der Druck auf sie stetig größer geworden sein mag, dieser Lebenslüge gerecht zu werden, und dass sie diesen Druck an ihre Mitarbeiter weitergegeben haben könnte. All das ist denkbar und in seiner menschlichen Dimension durchaus tragisch. Das sollte man nicht vergessen. Aber: Niemand hat Petra Hinz zu dieser Lebenslüge gezwungen. Sie hat ihren Lebenslauf vermutlich nur gefälscht, um aufzusteigen. Und das ist schlicht Betrug — und Verrat an ihren Wählerinnen und Wählern sowie an ihrer Partei.

Die FR-Leser wollen Stephan Hebel diesmal nicht folgen. Michael W. Rimkus aus Bad Hersfeld schreibt:

„Nein, diesmal gehe ich mit dem von mir ansonsten sehr geschätzten Stephan Hebel nicht ganz konform. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die SPD-Abgeordnete Petra Hinz als Opfer ihrer eigenen Unzulänglichkeiten dargestellt wird. Fakt ist nun einmal, und das hat Herr Hebel ja dankenswerterweise auch eingeräumt, dass sich Frau Hinz zu mehreren, teils gravierenden „Unzulänglichkeiten“ hat hinreißen lassen – aus welchen Gründen, die wir Außenstehenden nicht nachzuvollziehen in der Lage sind, auch immer.
Fakt ist auch, dass sich die Meute der auf Krawall gebürsteten Benutzer der „sozialen“ Netzwerke natürlich mit Macht auf so „ein gefundenes Fressen stürzen“ — mit den ebenfalls von Herrn Hebel zu recht kritisierten Ausuferungen, die leider jede Vernunft, Anstand und das sich ernsthaft mit dem Thema befassendes Bemühungen, vermissen lassen. Diese „Freiheit“, sich anonym in ebenso dümmlicher wie gehässiger Form über ein Thema auszulassen, von dem man oft gar keine Ahnung hat, ist leider eine der unsäglichen Geißeln in der heutigen Zeit, die den Rattenfängern von AFD und Pegida den Nährboden bereiten.
So weit, so schlecht. Doch jetzt kommt das Aber! Niemand weiß, aus welchem Grund und welchem Krankheitsbild sich Frau Hinz in stationärer, ärztlicher Obhut befindet — und es sollte auch nicht spekuliert werden. Fakt ist, dass das über viele Jahre aufgebaute Lügengebäude der Petra Hinz über ihr zusammengebrochen ist. Das diese Traumwelt niemanden, auch den SPD-Genossen und allen, die mit ihr beruflich und privat zu tun hatten, je auffiel, ist jedoch schon sehr bemerkenswert.
Weniger bemerkenswert ist da die Tatsache, dass die ohnehin im Bund wie NRW arg gebeutelte SPD reagiert, ja reagieren muss! Ob dies nun, wie Herr Hebel schreibt, in skrupeloser Form gedenk des Ultimatums geschieht oder um einfach noch größeren Schaden abzuwenden: Die Genossen mussten in Aktion treten. Denn wenn sich Frau Hinz, wenn schon nicht strafrechtlich (was noch zu klären sein wird), dann aber zumindest moralisch völlig daneben benommen hat, dann ist jede demokratische Partei in der Pflicht zu handeln.
Reagiert man nicht, dann darf man sich nicht wundern, wenn immer mehr Wähler die Lust verlieren, zur Wahl zu gehen — einfach, weil das ohnehin angekratzte Vertrauen in „die da oben“ schon viel zu groß ist. Das demokratische Parteien immer mehr an Zustimmung verlieren und so diejenigen, die ohne Rezepte, dafür aber mit martialischem Gedankengut, die Stimmen dieser, sich mehr und mehr verlassen fühlenden Bürger, einheimsen. Hier liegt, bei allen Umständen berücksichtigend, die Frau Hinz zu ihrem Fehlverhalten veranlasst haben, ihre moralische Schuld, für die nur Sie allein verantwortlich ist. Verantwortlich gegen sich selbst, der Partei, dem Bürger und denjenigen, die sie gewählt und damit auch eine moralische Verantwortung mit auf den Weg nach Berlin gegeben haben. Dem muss sich Petra Hinz stellen — am besten umgehend.“

Helmut Seipp aus Hofheim:

„Bis heute habe ich Stephan Hebels Analysen und Kommentare in der FR immer mit Freude und innerer Zustimmung zur Kenntnis genommen. Heute erlaube ich mir erstmals eine kritische Stimme zu erheben: Wenn eine Person eine bestimmte Stellung in der Gesellschaft oder z.B. in einem Unternehmen anstrebt und bei der Bewerbung falsche Angaben mit dem Ziel verwendet, die Entscheidung für sich günstiger zu gestalten, so ist das nach meiner (unmaßgeblichen) Meinung Betrug. Ob gegen Frau Hinz eine Hetzjagd stattfindet, erscheint mir zweifelhaft. Bisher ist m.W. nur berichtet worden, dass Frau Hinz aufgrund der falschen Angaben zu ihrer Ausbildung ihre Parteiämter aufgegeben hat und dass sie ihr Mandat als Bundestagsabgeordnete nicht zur Verfügung stellen will. Ich vertrete die Auffassung, dass das Grundgesetz keinen Abgeordneten gegen Angriffe und Maßnahmen schützt und schützen soll, die sich daraus ergeben, dass der Abgeordnete die Aufstellung zur Wahl und die Wahl selbst u.a. mit Hilfe falscher Angaben zu seiner Person erreicht hat.“

Ralf te Heesen aus Altenberge:

„Natürlich sollte man auf keinen Menschen eine Hetzjagd betreiben! Aber gebietet es nicht der Anstand, alle politischen Ämter sofort niederzulegen, die man sicher zum Teil unter flachen Angaben bekommen hat? Nennen Sie einen vernünftigen Grund, das Bundestagsmandat zu behalten! Kann Frau Hinz denn in ihrer politischen Arbeit noch ernst genommen werden? Muss man in dem Fall Verständnis für die Täterin haben? Nichts für ungut!“

Peter Himstedt aus Hamburg:

„Man stelle sich vor: Ich bestelle und bezahle bei einem Architekten einen Bungalow. Der liefert mir stattdessen einen Luftschutzbunker und erklärt dazu, Bungalow könne er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren und Luftschutzbunker entspräche auch objektiv eher meinem Interesse. Dann würde ich diesen Menschen wahrscheinlich zum Teufel jagen. Wenn ich bei einem Volksvertreter soziale Gerechtigkeit bestelle und der Mensch liefert mir stattdessen Sicherung des Standorts Deutschland, dann ist das durch seine grundgesetzlich geschützte Unabhängigkeit gedeckt und ich kann in vier Jahren bei ihm oder einem anderen noch einmal versuchen, soziale Gerechtigkeit zu bestellen.
Noch überzeugender als Martin Sonneborn und „Die Partei“ haben uns die Genossin Petra Hinz und die SPD den Unterschied zwischen Parlamentarismus und Demokratie vor Augen geführt. 1848 war der Parlamentarismus in der Frankfurter Paulskirche eine angemessene Form der Interessensvertretung. Mehr als 150 Jahre später ist er das nicht mehr. Gerne würden wir Frau Hinz in Ruhe lassen, wenn sie uns auch in Ruhe ließe und sich zum Teufel scheren würde.“

Einzig Manfred Kirsch aus Neuwied springt Stephan Hebel bei:

„Stephan Hebels Forderung „Lasst diese Frau in Ruhe“ kann ich nur doppelt und dreifach unterstreichen. Hierbei bedarf es keiner Diskussion, dass ihr Verhalten, was das Schönen ihrer eigenen Biografie betrifft, verurteilt werden muss. Aber diejenigen, die meinen, über diese Sozialdemokratin jetzt richten zu müssen, sind zumindest teilweise sehr stark von Selbstgerechtigkeit geprägt. Vorkommnisse wie die um Petra Hinz sind immer die Stunde der Populisten und Rechten, die das zweifellos gegebene Fehlverhalten zur Polemik und Hetze gegen die repräsentative Demokratie insgesamt benutzen wollen. Petra Hinz hat, und diese Mahnung insbesondere an die Essener SPD, keine schlechte Arbeit als Abgeordnete gemacht. Dass Menschen wie sie auch von Allzu-Menschlichem nicht frei sind, zeigt sich in der Tatsache, dass sie sich aus persönlichen Motiven, die sich einem nur erschließen könnten, wenn man die Psyche von Frau Hinz kennen würde, wahrheitswidrig als Juristin ausgab. Es muss in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass die Möglichkeit groß ist, dass die jetzt offenbar gewordene menschliche Schwäche von Petra Hinz einigen Genossinnen und Genossen an der Essener SPD-Basis vielleicht ganz recht ist, um womöglich bestehende „alte Rechnungen“ zu begleichen.
Gerade Christen und Humanisten sollten sich bei aller Kritik daran erinnern, dass auch Politikerinnen und Politiker ein Recht auf Respekt haben, auch wenn sie sich fehlverhalten haben. Doch der Respekt vor der Würde des Menschen scheint mir im Falle Hinz von großen Teilen verletzt zu werden. Das sollten all jene nicht zulassen, die den Respekt vor der Würde des Menschen ernst nehmen.“

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25 Kommentare zu “Der Zusammenbruch eines Lügengebäudes

  1. Wie ja schon gebetsmühlenartig immer wieder gesagt, ist es mit den öffentlichen Informationen, die noch dazu gefärbt und aufgebauscht werden, unmöglich, sich ein Bild von der Sache und dem Menschen zu machen, und irgendeine Art von Urteil zu bilden.

    Die begrüßenswerte offene Diskussion in den Netzwerken wird allzuschnell zur „öffentlichen Meinung“ deklariert und erhält eine Wirksamkeit, die ihr nicht zusteht. Letztlich ist dies eine illegale Einflussnahme auf die Politik und die Politiker geworden.

    Eine Entscheidung über Konsequenzen oder Strafe steht allein der Justiz zu, und wenn das Handeln von Frau Hinz nicht strafbar ist, so darf auch die verfälschte öffentliche Meinung keine Konsequenzen oder Strafe einfordern.

    Die einzige Antwort ist, Frau Hinz nicht wieder zu wählen.

    Insofern stimme ich Stefan Hebel zu: Laßt Petra Hinz in Ruhe und schafft ein System, das solche Vorgänge verhindert.

  2. @Peter Himstedt

    „Wenn ich bei einem Volksvertreter …. bestelle und der Mensch liefert mir stattdessen ….“

    Das ist so geregelt, damit weder das Volk, noch ein Kanzler oder ein Dahergelaufener bei der Regierung einen Völkermord, Staatsterror und Verfolgung „bestellen“ können.

    Hat schon so seinen Sinn!

  3. „Gerade Christen und Humanisten sollten sich bei aller Kritik daran erinnern, dass auch Politikerinnen und Politiker ein Recht auf Respekt haben, auch wenn sie sich fehlverhalten haben.“ (Manfred Kirsch)

    Sehr schöner Hinweis.

    Wenn es sich um ein einmaliges Fehlverhalten handelt. Und bei Petra Hinz handelte es sich um ein einmaliges Fehlverhalten.

    Allerdings betraf das ihr gesamtes politisches Leben. Insofern ist der journalistische Scheiterhaufen genauso OK wie beim gegelten Karl-Theodor, der ja auch nicht wegen seiner Guttenbergerei bei der Dissertation gegrillt wurde, sondern wegen seiner zusätzlichen dämlichen Leugnung dieser Tatsache.

    Und bei der Erwähnung des Christentums in diesem Zusammenhang möchte ich doch daran erinnern, dass man die journalistischen Scheiterhaufen im Gegensatz zu den christlichen überlebt. Petra Hinz wird nicht einmal ihre erschwindelten Bezüge zurückzahlen müssen. Und erschwindelt sind die, denn sie wurde für eine Kompetenz gewählt, die sie nie hatte.

    Allerdings (leicht abgewandelt aber doch wahr): jedes Volk hat die Abgeordneten, die es verdient.

  4. Natürlich ist das Verhalten von Petra Hinz auf keinen Fall zu rechtfertigen.
    Aber wenn ich nun diese gesamte Wutmaschinerie, die von drnglicheren Problemen – auch während des Sommerlochs – ablenken sollen, sehe, stimme ich ebenfalls Stephan Hebel zu, Frau Hinz endlich in Ruhe zu lassen und sich wichtigeren Themen zuzuwenden.
    Wieviele andere PolitikerInnen haben Leichen im Keller, ohne dass deren Rücktritt auch nur im Geringsten eine Erwähnung findet (z.B. Frau v.d. Leyen, Frau Schavan wird sogar zur Botschafterin ausgerechnet beim Vatikan befördert etc.), scheint es wohl vielen Medien besonders am Herzen zu liegen, mal wieder bei der SPD Haare in der Suppe zu finden.

  5. Gibt es denn keine Verfahren, die solche biografischen Daten überprüfen, bevor jemand Zugang zu Parteiämtern oder dem Abgeordnetensatus erlangt?

    Im finanzieller Hinsicht ist doch der Staat eine Art Arbeitgeber für Politiker, müssen da keine nachprüfbaren Belege für Lebensläufe etc vorgelgt werden?
    Erstaunlich, wenn es sowas nicht gibt und auch erstaunlich, daß ich es nicht weiß.

  6. Menschen reissen Köpfe ab,
    Verwirrte faseln von Waffen,
    Tausende verdursten,
    Tausende verhungern.

    Aber Lügen in der Provinz ist verwerflich.

    Wenn es schon in der Welt nur Böses gibt, dann schreit der Bürger nach Moral in seinen kleinen vier Wänden.
    Die kleinen Sünden straft der Bürger am liebsten.

  7. „Im finanzieller Hinsicht ist doch der Staat eine Art Arbeitgeber für Politiker, müssen da keine nachprüfbaren Belege für Lebensläufe etc vorgelgt werden?“ (BvG)
    @ BvG
    Weder ist ein Parlament eine Behörde, noch existiert eine saubere Stellenbeschreibung für Parlamentarier. Die Stellenausschreibung ist unsere Verfassung, die genaugenommen nur ein minimales Alter vorgibt.

    Der einstellende Personalleiter aber sind Sie als Wähler. Und Sie? Verlassen sich auf die Empfehlung der Parteien.

    Und die Parteien? Sind hierarchische Gebilde, in denen die höheren Ebenen von den Personalempfehlungen der unteren abhängig sind und sich auch auf sie verlassen. Der letzte „Schuldige“ ist also der Ortsverband.

    Es wäre bestimmt genauso interessant wie lehrreich, sich den Weg der Petra Hinz in ihrer Partei anzusehen.

  8. @BvG:
    Mir ist es auch unbegreiflich, dass angeblich niemand von dem gefälschten Lebenslauf gewusst haben soll.

    Es gab doch eine Schule, in der sie ursprünglich Abitur machen wollte, es gab Klassenkameraden, es gab eine Uni, in der sie nicht immatrikuliert war, es gab juristische Prüfungsämter, in denen sie nie zur Prüfung angemeldet war etc.

    Dass dies alles nicht bekannt gewesen sein sollte, ist unverständlich.

    Aber, wie erwähnt, es gibt zurzeit schlimmere Probleme auf der Welt, die uns mehr schaden als ein gefälschter Lebenslauf.

  9. In der weithin emotional geführten Diskussion um Petra Hinz gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass die Kandidatur um ein Bundestagsmandat mit einer Stellenbewerbung gleichgesetzt wird. Für ein Parlamentsmandat sollten hingegen die politischen Positionen der Kandidaten entscheidend sein. Doch für welche Inhalte steht Petra Hinz?

    Auch in der FR habe ich dazu keine validen Informationen gefunden. Ebenso vermag ich die Meinungsbildung in dem Essener SPD-Ortsverein, in dem Frau Hinz (noch) Mitglied ist, nicht zu durchschauen.
    Es ist mir auch unbegreiflich, warum der Vorsitzende der Essener SPD, der Jurist und Justizminister Thomas Kutschaty, noch nicht einmal geahnt haben will, dass die juristischen Fachkenntnisse von Petra Hinz über die eines Laien kaum hinauszugehen schienen? Oder besaß er doch entsprechende Kenntnisse und hat er möglicherweise sein Mitwissen der Parteiräson geopfert? Entsprach Petra Hinz vielleicht dem Idealtyp einer Mainstream-Sozialdemokratin, die man nicht verlieren wollte?

    Nach meinen persönlichen Erfahrungen in der Ruhrgebiets-SPD der späten 60er und frühen 70er Jahre wurde einer/m, der/die gefördert werden sollte, die Kosmetik des Lebenslaufs vielfach einfach gemacht. So avancierte ein Verkäufer im Einzelhandel per Federstrich zum kaufmännischen Angestellten (was sachlich nicht falsch war, aber besser klang). Oder ein verdienter Sozialdemokrat, der auch in der Gewerkschaft Karriere machte und sich regelmäßig in der Werkszeitung eines großen Unternehmens zu Wort meldete, zum Redakteur. In der Regel betraf das die Vertreter des rechten Parteiflügels (damals Kanalarbeiter genannt). Und weder Parteigenossen noch Wähler ließen sich von den Bezeichnungen auf Visitenkarten täuschen. Denn sie wussten, wer sich zur Wahl stellte.

    Mir erscheint auch der Vergleich mit Karl-Theodor zu Guttenberg nicht gegeben. Petra Hinz hat sich nicht des Plagiierens schuldig gemacht und sie hat den bisherigen Berichten zufolge keine Dokumente über Schul- und Hochschulabschlüsse gefälscht. Sie hat sich beruflich als jemand anders ausgegeben (möglicherweise, weil sie sich unausgesprochenen Erwartungen anderer anpassen wollte) und das ist kaum einem aufgefallen. Gehören nicht die, die sich unkritisch täuschen ließen, mit auf die Anklagebank?

  10. Vor einigen Jahrzehnten wurden noch Mitbürger gewählt hinter deren Namen Berufsbezeichnungen wie Kaufmännischer Angestellter oder Betriebselektriker stand, die Leistung war ausschlaggebend für den Wahlerfolg. Heute rümpft jeder Wähler die Nase, wenn der Kandidat nicht mindestens ein Hochschulstudium, besser Dr. oder Prof. nachzuweisen hat (tschüss Leistungsgesellschaft in der Politik). Frau Hinz hat, wohl auch dank ihrer Intelligenz, früh genug die Zeichen der Zeit erkannt und sich dem Willen des Wahlvolks angepasst. Haben wir Wähler die wir uns im Arbeitsleben ähnlich, auch mit Hilfe von Lügen, auf der Karriereleiter hocharbeiten ein Recht ihr Verhalten zu kritisieren? Wenn sie sich in den vergangenen Jahren um die Belange der „Werktätigen Mitbürger“ gekümmert hat war sie doch die richtige SPD Kandidatin. Leider kann ich trotz der vielen Zeitungsartikel nicht beurteilen ob Frau Hinz ihren Job gut gemacht hat, denn nach solch einer Geschichte kriechen die Neider aus allen Löchern und verbreiten ihren Senf.

  11. „Haben wir Wähler die wir uns im Arbeitsleben ähnlich, auch mit Hilfe von Lügen, auf der Karriereleiter hocharbeiten ein Recht ihr Verhalten zu kritisieren?“ (Gerhard Sturm)

    @Gerhard Sturm
    Diese Ehrlichkeit ist ja geradezu bezaubernd. Und natürlich ist das richtig. Die Wähler, die sich wie Sie mit Lügen auf der Karriereleiter hocharbeiten, haben nicht das Recht, Frau Hinz zu kritisieren.

    Alle anderen aber schon.

    Was ich nicht ganz verstehe: Finden Sie wirklich, dass der Job des Parlamentariers einer ist, an den man keine besonderen Ansprüche stellen sollte? Mir scheint, Sie nehmen den Begriff repräsentative Demokratie etwas zu wörtlich.

  12. @ Gerhard Sturm Sie haben ja recht. Man muss nicht studiert haben, um die Interessen der Wähler zu vertreten. Warum sollte das ein Akademiker besser können als ein Mensch, der die Probleme von unten kennt? Von Frau Hinz weiß ich nur das, was man zu lesen bekommt. Da steht, sie war nicht nett zu ihren Mitarbeiten. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Nein, ich kenne die Frau gar nicht. Wenn die Wähler und die Partei sie für gut befunden haben, wo ist dann das Problem? Vor kurzem ist ein falscher Arzt enttarnt worden, der gar kein ausgebildeter Arzt war, der aber offensichtlich Fähigkeiten durch seine Alltagspraxis erworben hat, die den Patienten gut getan haben. Ein Patient sagte sogar, das sei der beste Arzt, der ihm je begegnet sei. Vielleicht hatte er besondere einfühlsame Antennen für die Nöte seiner Patienten. Manche Dinge sollte man nicht so streng sehen nach den Buchstaben des Gesetzes.Und was Frau Hinz und alle anderen betrifft: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein! (Nee, ich bin nicht religiös, finde aber die überlieferte Haltung von Jesus als Aufforderung zum Frieden, zur Menschlichkeit sehr gut)

  13. @ Gerhard Sturm
    „Haben wir Wähler, die wir uns im Arbeitsleben ähnlich, auch mit Hilfe von Lügen, auf der Karriereleiter hocharbeiten, ein Recht, ihr Verhalten zu kritisieren?“
    Von wem sprechen Sie? Von sich selbst? Dann vergessen Sie bitte nicht die vielen Wähler, die solche Tricks in ihrem Berufsleben nicht angewendet haben, vielleicht, weil sie es nicht nötig hatten.
    Ich gehöre nicht zu denen, die Frau Hinz lautstark an den Pranger stellen, aber die Intelligenz, die Sie ihr bescheinigen, hat sie ja offenbar nicht bewiesen, denn sonst hätte sie sich nicht selbst in eine Situation gebracht, die sie nun um ihren guten Ruf und ihren Arbeitsplatz bringt.

  14. @Wohlgemuth
    Ich meinte das schon etwas konkreter. Es muß ja eine Verwaltung geben, die den Abgeordneten das Geld überweist und alle anderen Aufgaben einer Personalverwaltung wahrnimmt, die nicht in die Verantwortung des Abgeordneten selbst fallen.

    Es ist doch sehr verwunderlich, daß so eine Menge Geld monatlich an Personen überwiesen wird, deren Lebenslauf nicht bei Eintritt überprüft wurde.
    Hoffentlich wurden wenigstens die Personalien überprüft..

  15. @Wohlgemuth
    Nachtrag:
    Ich bin als Wähler durchaus nicht der Personalverantwortliche. Ich darf wohl entscheiden, welchen Kandidaten ich wähle, aber ein ordnungsgemäßes Verfahren obliegt entsprechenden Verwaltungen unter Anwendung der Verwaltungsverfahren.
    Es ist schon beunruhigend, daß es hierzulande so leicht ist, hochzustapeln und daß es anscheinend kein geordnetes Verwaltungsverfahren für das politische Personal gibt.

  16. @ BvG
    Diese Verwaltung hat da nichts zu überprüfen.

    Sie haben als Wähler die Angeordneten „eingestellt“, nachdem sie zur Wahl gestanden haben.

    Wer immer gewählt wurde, ist anschließend Abgeordneter, fertig.

    Wo kämen wir hin, wenn eine Verwaltung das Mandat durch die Wähler in Frage stellen dürfte?

    Auf was sollte diese Verwaltung denn reagieren? Wenn Abgeordnete erkennbar die Wahlversprechen ihrer Partei brechen? Sie merken, jetzt wird es lustig.

    Das Urteil über Petra Hinze ist ein moralisches. Sie hat ihrer Partei ein sehr faules Ei ins Nest gelegt, indem sie demonstriert hat, dass es da reicht, Kompetenz einfach zu behaupten, um zur Wahl aufgestellt zu werden.

  17. „Haben wir Wähler, die wir uns im Arbeitsleben ähnlich, auch mit Hilfe von Lügen, auf der Karriereleiter hocharbeiten, ein Recht, ihr Verhalten zu kritisieren?“ Hatten wir das nötig? Ja! Offensichtlich nicht alle hier, weil ihr Leben in geraden Bahnen verlief: Abitur, Studium, Bewerbung, Festanstellung. Keine Ausfälle, keine Umwege, eingesprengselt noch ein Auslandsaufenthalt zur Horizonterweiterung, alles glatt. Aber was sollen Menschen schreiben, die größere Ausfälle in ihrer Bildungslaufbahn hatten? In der WG-Küche gesessen, neue Lebensformen ausprobiert, ständig diskutiert, wie eine bessere Gesellschaft möglich wäre, vielleicht auch mal „bewusstseinserweiternde“ Drogen ausprobiert haben? Oder die psychisch mal in ein tiefes Loch gefallen sind? Wie soll man solche Zeiten in seinen Lebenslauf einbauen?

    Die einzig wichtige Frage ist doch: wofür hat sich Petra Hinz eingesetzt, wofür hat sie sich erfolgreich engagiert.“ … für welche Inhalte steht Petra Hinz?“ fragt Klaus Philipp Mertens. Ja, das wüsste ich auch gern.

  18. @Wohlgemuth
    Sie wollen mal wieder nicht verstehen. Eine solche Verwaltung ist lediglich für die Überprüfung von Personalien und Lebensläufen da, sie nimmt keinerlei Einfluss auf das Verhalten und Arbeiten der Abgeordneten.
    Das allgemeine politische Geschwafel, „sag ich’s heute oder morgen anders..“,ist nicht zu vergleichen mit einer Täuschung, wie sie hier geschehen ist.

    Verallgemeinert ist es jedoch sehr traurig, daß es noch immer manchen Leuten sinnvoll erscheint, ihre Lebensläufe aufzuplustern und zu schönen, und es wirft auch ein schlechtes Licht auf die Wähler selbst, wenn sie sich von sowas blenden lassen. Mehr Scheinen als sein ist wohl immer noch die Devise.

    @I.Werner
    Eben! Wenn sich heutzutage noch einer dafür rechtfertigen muß, eine Zeitlang was anderes (besseres) getan zu haben, als es der gesellschaftliche Mindesthorizont für gut heißt, sind wir noch nicht sehr viel weiter gekommen.

  19. Meine Karriereleiter hatte sehr wenige, sogar Morsche, Sprossen und dafür war Lügen nicht notwendig. Wir alle haben doch hie und da einmal in unserem Leben miterleben dürfen wie sich die Menschen winden können um ihre selbst gemachten Fehler nicht zugeben zu müssen. Vielleicht haben wir uns auch selbst gewunden. Angeblich lügt der Mensch ja zwischen 2 und 200 mal am Tag ( http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article106292192/Die-ganze-Wahrheit-ueber-das-Luegen.html ).
    Karl Theodor hat ein Studium hinter sich, ist schneller aufgefallen als Frau Hinz und hat, wenn ich mich richtig erinnere, noch Urkundenfälschung begangen. Beim flunkern erwischt zu werden ist nicht abhängig vom Intelligenzquotienten sondern von Glück oder Pech.
    Die Leistung unserer Politiker ist, für mich, vergleichbar mit den Leistungsangaben der elektrischen Energie. Die Scheinleistung setzt sich zusammen aus Wirkleistung (z.B. Mitarbeit im Parlament und der Gesetzgebung) und Blindleistung (z.B. Schaumschlägerei bei Terrorbekämpfung und wir schaffen das). Es fällt mir schwer den individuellen Anteil von Wirk- und Blindleistung für den jeweiligen Politiker zu bestimmen. https://www.youtube.com/watch?v=HVgBRg9Ooow
    Wir entscheiden ob wir unseren Politikern die Stimme nach Wirk-, Blind- oder Scheinleistung geben.
    Irgendeine höhere Instanz (keine Religiöse) muss unsere gewählten Volksvertreter, auch die der EU, für ausgemachte Blindleister halten, denn über die Vertragstexte von CETA und TTIP dürfen sie nicht einmal in den Parlamenten diskutieren. So viel zur Intelligenz unserer Hochkarätig besetzten Parlamente. Entschuldigung, der Beitrag ist etwas lang geraten.

  20. @BvG
    Gemäss Bundeswahlordnung muss ein Kandidat folgende Angaben machen: den Familiennamen, die Vornamen, den Beruf oder Stand, das Geburtsdatum, den Geburtsort und die Anschrift (Hauptwohnung) des Bewerbers.
    Berufsbezeichnungen sind in der Regel nicht geschützt. So darf sich jedermann Physiker oder Politologe nennen. Ein Lebenslauf ist nicht notwendig. Es gibt also keinen Grund zur Überprüfung.
    Wenn man bedenkt, dass jemand, der einen anderen Menschen bei einem Verkehrsunfall unter Alkoholeinfluss getötet hat, später noch Verkehrsminister werde konnte, findet ich die Reaktionen etwas übertrieben.

  21. @Flessner
    Dann gibts ja keinen rund zur Aufregung.
    Trotzdem wäre es angebracht, solche Überprüfungen einzuführen.

  22. @ Henning Flessner
    Finden Sie angesichts der Völkermorde und Kriege in der Welt die Aufregung über kleine Einzelmorde oder gar mickrige Körperverletzungen, Wohnungseinbrüche etc. auch übertrieben?

    @ Gerhard Sturm
    Zwischen kleinen Flunkereien aus Höflichkeit, um sich Ärger zu ersparen oder sich vielleicht auf einer Party wichtig zu machen, und dem jahrzehntelang aufrechterhaltenen offiziellen Fälschen eines gesamten Lebenslaufs liegt für mich ein himmelweiter Unterschied.
    BvGs Verwunderung darüber, dass das keiner gemerkt haben soll, teile ich. Schließlich fällt ja niemand als Kandidatin für den Bundestag vom Himmel. Petra Hinz ist im Alter von 18 Jahren in die SPD eingetreten. Da hatte sie doch eine Familie, einen Freundeskreis und Klassenkameraden. Danach hat sie eine Ausbildung gemacht und ist einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen, hatte also Vorgesetzte und Kollegen. Folglich muss eine große Anzahl von Menschen gewusst haben, dass sie keine Juristin war. Warum das nie publik wurde, ist in der Tat rätselhaft.

  23. @Henning Flessner:

    Richtig, ich finde, dass Ihre Anmerkungen endlich gesagt werden mussten.

    Wie bereits oben erwähnt, gibt es dringlichere Probleme, so dass manche langatmigen Dialoge wenig zur Sache beitragen.

  24. @Brigitte Ernst
    Falsche Angaben für nicht einen nicht veröffentlichungspflichtigen Lebenslauf für das Handbuch des Bundestages, also maximal eine Ordnungswidrigkeit, auf eine Stufe mit Straftaten zu stellen, genau das meinte ich mit übertriebener Reaktion.
    @Gerhard Sturm
    Vermutlich stand es doch nur im Handbuch des Deutschen Bundestages und wer liest das schon.
    Der Lebenslauf eines Menschen geht uns doch eigentlich gar nichts an.

  25. @ Henning Flessner
    Tun Sie doch bitte nicht so, als hätten Sie nicht verstanden, was ich meinte. Natürlich gibt es Schlimmeres als das, was Frau Hinz getan hat. Darf man eine solche Hochstapelei nicht kritisieren, nur weil es Schlimmeres auf der Welt gibt? Es gibt auch Schlimmeres als Plagiate in Doktorarbeiten, und dennoch legt man Politikern, denen man solche nachgewiesen hat, zu Recht nahe, zurückzutreten.

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