Die SPD braucht eine positive Zukunftsvision

Die SPD rückt nach links. Zunindest dann, wenn man annimmt, dass die Ideen, die sie da entwickelt und der Öffentlichkeit vorgestellt hat, dazu gedacht sind, irgendwie auch mal konkret in Taten umgesetzt zu werden. Über die Grundrente habe ich schon früher berichtet. Hartz IV soll zu einem Bürgergeld umgebaut werden. Mindestlohn rauf auf zwölf Euro. Längere Zahlung von Arbeitslosengeld I. Höhere Steuern für Reiche,´. Grundsätzlich weniger Sanktionierungen, bei der Grundrente keine Bedürftigkeitsprüfung. Das sind schon mal ein paar Pflöcke, die etwas Grundsätzliches erkennen lassen: und zwar eine Abkehr vom autoritären, bevormundenden, kontrollierenden Sozialstaat hin zu einem Gemeinwesen, in dem Menschen die Bedürftigkeit zunächst einfach mal geglaubt wird, statt ihnen von vornherein mit Misstrauen zu begegnen. Kontrolle muss natürlich trotzdem sein, aber nicht im Voraus, sondern im Nachhinein. Mein Vorschlag war: durch die Finanzämter.

Ein solcher Gesinnungswandel bedeutet einen grundlegenden atmosphärischen Wandel und würde ein sanfteres soziales Klima fördern. Er passt in eine Zeit, in welcher der Druck auf die Löhne ohnehin nachlässt, weil die Unternehmen allmählich merken, dass sie qualifiziertes, engagiertes Personal nicht für sich interessieren können, indem sie sie runterzuhandeln versuchen. Der Arbeitsmarkt ist zwar nicht leergefegt, aber so leer wie seit Jahrzehnten nicht. Die Macht der Arbeitnehmer wächst spürbar. Der neoliberale Slogan „Sozial ist, was Arbeit schafft“ gilt nicht mehr. Stattdessen gilt: „Sozial ist, was gute Arbeit schafft“. Das gilt auch für Jobs am unteren Einkommensende: Gute Arbeit ist auskömmliche Arbeit, die Einkommen ermöglicht, welche Chancen für einen gewissen Vermögensaufbau und eine ordentliche Absicherung im Alter eröffnet. Das ist keine unangemessene Forderung in einem vermeintlich so reichen Land wie Deutschland, sondern ist eine gerechte Forderung nach Teilhabe in einem gewissen, im Zweifelsfall trotz allem immer noch bescheidenen Ausmaß. Das sollte sich dieses Land leisten können – unter anderem auch deswegen, weil wir bereits gesehen und erlebt haben, welche Auswirkungen soziale Kälte haben kann: Sie gefährdet den gesellschaftlichen Frieden in unserem Land, indem sie die politischen Extreme erstarken lässt.

Also: Gut so, SPD! In der aktuellen großen Koalition haben die meisten Eurer Vorschläge wohl keine Chance, umgesetzt zu werden, aber es kann gewiss nicht schaden, mit solchen Forderungen in den nächsten Wahlkampf zu gehen. Es gibt da allerdings ein Problem, und das ist leider kein geringes: Man muss Euch auch glauben können, dass Ihr das, was Ihr da vorschlagt, wirklich tun wollt. Ich kann Euch diese Frage nicht ersparen: Wie steht’s um die Glaubwürdigkeit der SPD? Ich fürchte, da ist noch viel Arbeit zu leisten, denn das letzte Mal, als die deutschen Wählerinnen und Wähler einen Sozialdemokraten zum Kanzler wählten, kam Unsoziales dabei heraus. Das wird man Euch wohl trotz aller guten Vorschläge nicht so schnell vergessen.

Balken 4Leserbriefe

Rasmus Ph. Helt aus Hamburg meint:

„Die Neuausrichtung der SPD kann noch nicht ganz überzeugen. Zum einen fehlt, auch wenn die Besserstellung von Geringverdienern bei der Rente richtig ist, nach wie vor ein echtes Konzept gegen Altersarmut, von dem alle Bürger und nicht nur bestimmte Gruppen profitieren. Zum anderen dürfte eine Reform das Sozialstaates alleine bei weitem nicht ausreichen, damit die SPD Vertrauen zurückgewinnt, da es gerade in einer Zeit des rasanten technologischen Wandels vor allem darauf ankommt, eine positive Zukunftsvision für die Gesellschaft zu umreißen, die nicht nur Sicherheit, sondern auch Innovationen fördert. Deshalb muss insbesondere Finanzminister Olaf Scholz hier dringend seine Philosophie überdenken, die öffentlichen Investitionen wie nach Vorbild seines Vorgängers zu deckeln, da ein Schneckentempo hier das absolut falsche Rezept ist, um nicht weiter den internationalen Anschluss bei der Ausbildung von hochqualifizierten Fachkräften und der Digitalisierung zu verlieren!“

Jürgen Malyssek aus Wiesbaden:

„Die Presse spricht (nicht zu Unrecht) von der Traumatherapie bei der SPD. Wenn Andrea Nahles, nach einer knapp zweitägigen Klausur, sich ermutigt fühlt, eine „Aufarbeitung“ des Ballastes der Partei-Tradition und des Hartz IV-Systems zu beklatschen, dann kann man – ohne Prophet zu sein – sagen, so schnell und strahlend geht das schon mal gar nicht! Zu einer politisch-inhaltlichen Wende in Richtung Sozialstaat gehört mehr als eine Klausur und der knallige Satz: „Wir haben Hartz IV hinter uns gelassen!“. Es bedarf einer wirklich inneren Überzeugung, nicht nur des Drucks sinkender Umfragewerte und schnöder Absichten auf Wählerstimmengewinn. Diese Überzeugung ist für mich nicht erkennbar, was auch an den Eindrücken der jüngsten Stolper-Geschichte der SPD liegt, die bis heute nicht ihre neoliberale Fracht abgeworfen hat (und es auch nicht möchte). Für die SPD mit ihrer wankelmütigen Historie, reicht die zweite Aufbruchsstimmung nach Martin Schulz‘ kometenhaften Aufstieg und Fall (vor gut einem Jahr) nicht zum Befreiungsschlag mit der Verabschiedung des neuen „Sozialstaatskonzepts“. Schon mal gar nicht mit einem Bundesfinanzminister Olaf Scholz, bei dem die schwarze Null stehen muss.
So kann man eine Wende nicht aus dem Boden schießen!
Hartz IV hat über Jahre das soziale Klima in Deutschland aufs Äußerste vergiftet und eine neue Armut geschaffen. So etwas zu verändern braucht Jahre, wenn es denn ernsthaft gewollt ist und nicht nur den schlechten Umfragewerten und dem Mitgliederschwund geschuldet ist.“

Peter Boettel aus Göppingen:

„Selbstverständlich sind die Vorstellungen der SPD als Ansatz für eine Politik im Sinne ihrer Grundwerte und Programmatik grundsätzlich zu begrüßen, wenn sie auch, wie Stephan Hebel in seinem Kommentar schreibt, noch lange nicht ausreichen, um den Sozialstaat zu verwirklichen. Dass die Unionsparteien gleich Zeter und Mordio schreien, spricht im Grunde für die Vorschläge der SPD, da CDU und CSU mehr denn je in eine marktradikale Richtung steuern.
Dabei gilt es auch, die Falschheit des Vorwurfs, die Vorschläge stünden im Widerspruch zum Koalitionsvertrag, zu entlarven. Denn zum Einen ist, wie Stephan Hebel betont hat, die Zukunft des grundgesetzlich garantierten Sozialstaates, der zunehmend zugunsten einer Plutokratie ausgehöhlt wird und damit stark gefährdet ist, höher zu bewerten als ein lediglich auf Zeit zwischen mehreren Parteien abgeschlossener Koalitionsvertrag. Zum Anderen scheinen die Kritiker der Union ihren Koalitionsvertrag schlecht zu kennen, weil ausgerechnet deren eigene Vertreter in der Bundesregierung nichts anderes praktizieren als laufend gegen diesen Vertrag zu verstoßen, so z.B. Scheuer gegen die Ziele in der Klimapolitik oder von der Leyen in der Rüstungspolitik.
Jedoch muss die SPD sich zu ihren Vorschlägen vorhalten lassen, dass sie in der Vergangenheit, vor allem in ihren Wahlprogrammen, stets Vorschläge zur Verwirklichung des Sozialstaates in mehr oder minder konkreten Forderungen entwickelt hat, diese jedoch nach ihrem Eintritt in die Bundesregierung schnell wieder in der Schublade verschwinden ließ. Gerade die Parteivorsitzende Andrea Nahles war vier Jahre zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales und hat statt des damals bereits notwendigen Mindestlohnes von 12,00 Euro gerade 8,50 Euro hingebracht, woraufhin die Kanzlerin „was nicht zu vermeiden ist, auf ihre Fahnen geschrieben hat“, wie Stephan Hebel in seinem jüngsten Buch treffend erwähnt hat. Dies gilt in gleicher Weise für eine Reihe anderer überfälliger Maßnahme im Interesse der abhängig Beschäftigten, die zum Teil von der früheren Schröder-Regierung eingebrockt wurden und nun mit vielerlei Ausnahmen, die zur Wirkungslosigkeit führen, umgesetzt werden sollen.
Und wenn Andrea Nahles bereits jetzt eingesteht, dass diese Vorschläge nicht mit der Union realisierbar sind, muss der Hinweis erlaubt sein, dass die SPD sich bereits mit ihrem Eintritt in die GroKo im Jahre 2013 ihrer Möglichkeiten zur Erzielung einer sozialen Politik beraubt hat, obwohl damals hierzu entsprechende Mehrheiten zur Verfügung standen, die auch ein anderes Wahlergebnis im Jahre 2017 ermöglicht hätten, und sich nun den Vorwurf mangelnder Glaubwürdigkeit gefallen lassen muss, wenn die Maßnahmen nicht von vornherein ernsthaft in Angriff genommen werden.“

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26 Kommentare zu “Die SPD braucht eine positive Zukunftsvision

  1. Ohne einen Aufschluss darüber gewonnen zu haben, wie das Soziale inzwischen geworden ist, lässt sich schwerlich ein neues Konzept für einen künftigen Sozialstaat entwickeln. Insofern täte empirische Sozialforschung mehr als Not und nicht ein gleichsam aus der Hüfte geschossener Slogan, der Hartz IV für vergangen erklärt. Ansonsten steht zu befürchten, dass auch keine Antwort darauf gefunden werden kann, was das Gute an „guter Arbeit“ ist und worin es sich von schlechter Arbeit unterscheidet. Weil all das längst noch nicht geklärt ist, veranstaltet die SPD momentan lediglich ein geradezu ohrenbetäubendes Wortgeklingel.

  2. Anlässlich der Gründung des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“, der neben dem „Sozialdemokratischen Arbeiterverein“ zu den Gründungsorganisationen der SPD gehörte, dichtete Georg Herwegh 1863 das „Bundeslied“. Der vorletzte Vers lautet: „Deiner Dränger Schaar erblasst, / Wenn du, müde deiner Last, / In die Ecke lehnst den Pflug, / Wenn du rufst: Es ist genug!“

    Ein solches „genug“ habe ich von der offiziellen SPD seit Gerhard Schroeders Agenda noch nie vernommen. Dabei wäre es die einzige Entgegnung auf dessen „basta“, was sprachlich ebenfalls „genug“ oder „Schluss“ bedeutet und keine Einwände zulässt. Andrea Nahles und der Parteivorstand hingegen möchten „Hartz 4 hinter sich lassen“. Das hat die Bedeutung von überwinden. Es schließt sowohl ersetzen („Bürgergeld“) als auch bewahren („Fördern und Fordern“) ein und könnte die gegenwärtige Lebenslüge der Sozialdemokratie fortschreiben – bis zum bitteren und unwiderruflichen Ende der Partei. Deswegen plädiere ich für ein Tribunal.

    Auf einem öffentlichen Forum sollte der Verrat an den humanistischen und sozialistischen Idealen sowie die Kollaboration mit den Feinden des Sozialstaats ausgebreitet, die Schuldigen benannt und aus der Partei verbannt werden.
    Dabei könnte man sich an Vorbildern wie Chruschtschows Geheimrede von 1956, mit der die Entstalinisierung eingeleitet wurde, dem Russel-Tribunal von 1966 gegen den Vietnam-Krieg und Gorbatschows Politik der Perestroika ab 1986 orientieren. Nach einer schonungslosen Aufklärung und Demaskierung dürfe kein Quäntchen an Rechtfertigung für die Politik der Anpassung übrig bleiben. Nur aus den Trümmern des Opportunismus kann eine neue Gesellschaft hervorgehen, die kompromisslos demokratisch und sozial ist.

    Und wer sollte (es) richten? Ich denke an die Jungsozialisten, an den Sozialexperten Rudolf Dressler, an (sozialdemokratische) Persönlichkeiten aus dem „Institut für solidarische Moderne“, aber auch an ehemalige Sozialdemokraten wie Christoph Butterwegge oder den rührigen Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider.

  3. „Die SPD braucht eine positive Zukunftsvision.“ –

    Das ist freilich leichter zu fordern als zu realisieren.
    Denn sowas fällt nicht vom Himmel. Es ist bestenfalls Ergebnis einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit Versäumnissen der Gegenwart und Erfordernissen der Zukunft.
    Und man wird sich dem auch nur in kleinen Schritten nähern können.
    „Utopia“ von Thomas Morus ist ein Beispiel dafür, wie aus einer Kritik gegebener negativer Verhältnisse eine positive Utopie entstehen kann.

    Die Vorlage des Konzepts der „Respektrente“ von Hubertus Heil erscheint mir als ein Schritt in die richtige Richtung. Und zudem ist auch der Titel gut gewählt.
    Es ist ein Titel, der entlarvend und zugleich aufklärerisch wirken kann. Und beides gehört zusammen.

    Ein Friedrich Merz hat die beste Vorlage dafür geliefert, indem er großsprecherisch seine Million als Ergebnis seines Fleißes und seiner Arbeit bezeichnete. Und dabei in seiner Arroganz nicht einmal merkt, wie er damit die Krankenschwester und den Krankenpfleger verhöhnt, die mit Bereitschaft und hingebungsvoller Arbeit tagsüber wie nachts gerade so über die Runden kommen.

    Das groteske Missverhältnis von Leistung und „Honoraren“ oder Boni ist für solche Typen und denen, die sie wählen, längst schon als „Normalität“ verinnerlicht.
    Wenn Vertreter der Mövenpick-Partei FDP über „Leistungsträger“ schwadronieren, ohne nach Berechtigung oder Verhältnis zur tatsächlichen „Leistung“ zu fragen, dann offenbaren sie einen ähnlich pervertierten Begriff von „Respekt“, wie ihn Brecht an dem „Respekt“ vor den „großen Verbrechern“ (Stalin und Hitler) diagnostiziert, die keine „großen“ Verbrecher waren, sondern „Verüber großer Verbrechen“ (Nachwort zu „Arturo Ui“).
    Und entsprechend höhnisch unterschieben die selbst ernannten „Leistungsträger“ denen, die das groteske Missverhältnis von „Leistung“ und „Gratifikation“ thematisieren, einen grassierenden „Sozialneid“.

    Hubertus Heil hat bei „Hart aber fair“ die beste Antwort darauf gegeben:
    „Leistungsträger“ sind alle, die mit harter Arbeit zur Fortentwicklung der Gesellschaft beitragen und dementsprechend zu Recht dafür „Respekt“ und Partizipation einfordern können – statt mit Gnadenbrot nach entwürdigender „Bedürftigkeitsprüfung“ abgespeist zu werden.

    Das wäre doch schon ein Stück „positive Zukunftsvision“, und nicht ganz unbedeutender Art!
    Man muss es nur auch entsprechend zu kommunizieren wissen

  4. Sollte es also doch möglich sein Konzepte zu entwickeln auch wenn man an der Regierung beteiligt ist? Das Soziale allein reicht aber nicht und das Thema Glaubwürdigkeit gibt es halt auch noch. Mal sehen was noch kommt

  5. @ Klaus Philipp Mertens

    Es erstaunt mich, dass ich anscheinend in diesem Forum die Einzige bin, der es angesichts Ihrer Strafvisionen eiskalt den Rücken herunterläuft.
    Während Bronski sich ein sanfteres soziales Klima, einen grundlegenden atmosphärischen Wandel wünscht, Jürgen Malyssek von Traumatherapie und Aufarbeitung spricht, phantasieren Sie von Schauprozessen nach sowjetischem Vorbild, bei denen offenbar von vornherein feststeht, dass alle, die, vielleicht irrtümlich, glaubten, mit der Agenda 2010 der deutschen Wirtschaft wieder auf die Beine helfen und Arbeitsplätze schaffen zu können, mit Schimpf und Schande aus der Partei „verbannt“ werden. Warum eigentlich nicht gleich nach Sibirien?
    Inakzeptabel auch der Vergleich der Gräueltaten des Stalininsmus mit diesen – verfehlten, aber doch gut gemeinten – sozialen Verschlechterungen.
    Und dann stellen Sie auch noch den „lupenreinen“ Demokraten Chruschtschow als Vorbild hin für eine angemessene Aufarbeitung von Fehlern der Vergangenheit. Ich glaub es nicht!

    Und Sie haben auch gleich die Richter parat, die einen solchen Säuberungsprozess durchführen sollen. Wobei Ihnen offenbar entgangen ist, dass Christoph Butterwegge längst kein SPD-Mitglied mehr ist und schon allein deshalb als Mitglied für ein Schiedsgericht gar nicht in Frage kommt.
    Es muss Ihnen auch entgangen sein, dass es Gesetze und Parteisatzungen gibt, nach denen sich Schiedsgerichte zusammensetzen: In der SPD werden ihre Mitglieder von Parteitagen gewählt. Und die Verfahren, die über (höchst selten beschlossene) Parteiausschlüsse befinden, heißen „Parteiordnungsverfahren“, weil eben nicht von vornherein feststeht, dass das Ergebnis ein Parteiausschluss ist.

    Bei aller Notwendigkeit von Erneuerungen in der Partei: diejenigen, die sie herbeiführen, können nur alle Mitglieder sein und nicht eine von wem auch immer willkürlich berufenen Truppe von Rächern.

  6. @ Brigitte Ernst

    Sie verwechseln die logischen Ebenen, z.B. hinsichtlich Partei-Schiedsgerichten und einem Aufklärungsbegehren, das aus der Bevölkerung erwächst. Deswegen empfehle ich „Ludwig Wittgenstein, Tractatus, Satz 7“. Denn ich habe weder ein Strafgericht empfohlen noch mich (oder andere Gleichgesinnte) zum Prätor von eigenen Gnaden ernannt.

    Aber alle belogenen und betrogen SPD-Wähler, zu denen ich mich bis 1998 zählte, haben ein Recht auf Klartext, der ihnen bis heute verweigert wird. Ebenso alle SPD-Mitglieder, die jahrelang für eine Sache stritten, die einzuhalten bzw. umzusetzen von der Mehrheit der jeweiligen Vorstände nie beabsichtigt war (siehe „Theo Pirker, Die SPD nach Hitler“, erschienen 1965). Zur Gruppe dieser Enttäuschten und Missbrauchten zählte ich ebenfalls (von 1969 bis 1981); gehörte sogar dem Juso-Vorstand in Dortmund an, ebenso wie Christoph Butterwegge, der sich ebenfalls von der SPD verabschiedet hatte, was ich nicht vergaß zu erwähnen.

    Nur eine Art Tribunal könnte noch dazu in der Lage sein, denen Gehör zu verschaffen, über welche die SPD (spätestens) seit 1998 in überheblicher und herabwürdigender Weise hinweggesehen hat – bei gleichzeitigem öffentlichen Bekunden, exakt für diese Gruppen eintreten zu wollen.

    Als der Pazifist Bertrand Russell sich dazu bereiterklärte, ein Vietnam-Tribunal unter seinem Vorsitz einzuberufen, war ihm klar: Die Regierung der USA hielt einen Sieg ihrer Truppen in Vietnam für äußerst unwahrscheinlich. Dennoch wurde der Krieg fortgesetzt. Ähnlich dachten die NATO-Verbündeten. Aber niemand sagte das deutlich, keiner war ehrlich. Exakt an einer solchen Verlogenheit krankt die SPD bis heute.

    Tatsächlich war Chruschtschow kein Demokrat. Der stalinistische Apparat hatte ihn nach oben gebracht. Als er Mitglied des Führungszirkels geworden war, erkannte er, dass es so nicht weitergehen konnte und durfte. Das war sein historischer Verdienst. Für einen Platz im Himmel der Demokratie reichte es trotzdem nicht.

    Übrigens: Die deutsche Wirtschaft war 2002 nicht krank, sie bedurfte keiner „Agenda“. Sie war lediglich auf der Suche nach neuen Geschäftsfeldern, vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge – nachdem Staatsbetriebe wie die Deutsche Bundespost und die Deutsche Bahn bereits erfolgreich börsenreif geschossen worden waren. Deswegen haben Raffelhüschen und Rürup die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Rente quasi „krankgeschrieben“. Ihre Gefälligkeitsgutachten lesen sich wie die missglückte Abschlussarbeit eines Schülers, der seit seiner Einschulung absolut nichts gelernt hat. Doch Gerhard Schröder boten sie Gelegenheit zu einem „Deal“ mit Maschmeyer & Co. Soll all das dem Vergessen anheimfallen?
    Ich jedenfalls werde mich an der Vertuschung der Tatsachen nicht beteiligen. Und ich hoffe, dass ich nicht allein bin.

  7. @ Klaus Philipp Mertens

    Die Fehler der Agenda 2010 habe ich nicht geleugnet. Einen Schauprozess, wie Sie ihn anstreben, empfinde ich dennoch als undemokratisch und inhuman. Wer, bitte schön, soll denn die Richter bestimmen? Wer, wenn nicht das gewählte Parteigremium, soll über Parteiausschlüsse befinden?
    Wir haben in unserem Staat Gerichte, die freie Presse und – nicht zu vergessen – die Wählerinnen und Wähler, die über Recht und Unrecht befinden, falsche Politik aufdecken und sanktionieren können. Die Diskussionen werden doch seit Jahren bereits öffentlich geführt. Dafür brauchen wir keine Schauprozesse. Wenn sich die Politik nicht ändert, bedanken Sie sich lieber beim Wahlvolk. In dessen Hand liegt doch das Wohl und Wehe eines demokratischen Landes.

  8. @ Brigitte Ernst

    Sie sind keineswegs die einzige, der es angesichts der unsäglichen Äußerungen von Herrn Mertens „eiskalt den Rücken herunterläuft“.
    Ich habe aber bewusst abgewartet, ob dazu überhaupt etwas kommt. Auch unter dem Aspekt, ob eine solche intellektuelle Verirrung überhaupt eine Antwort verdient.

    Es sind dabei noch andere Hinweise, die mir den Magen herumgedreht haben:
    „Nur aus den Trümmern des Opportunismus kann eine neue Gesellschaft hervorgehen, die kompromisslos demokratisch und sozial ist.“
    Ich kann da nicht umhin, an den Selbstzerstörungswahn bürgerlicher Intellektueller vor dem ersten Weltkrieg zu denken, die aus Überdruss an der bürgerlichen Gesellschaft einen „reinigenden“ Krieg herbeisehnten – den sie dann ja auch bekamen, freilich alles andere als „reinigend“.
    Wobei ja auch einige, die als radikale Kapitalismus-Kritiker gestartet waren, in den Fängen der Nazis landeten. So Emil Nolde, Maximilian Rosenberg oder Gottfried Benn.
    Ich kann über so viel Verblendung nur den Kopf schütteln.

    @ Klaus-Philipp Mertens

    Ich erlaube mir, an die Ziele des „Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunals“ zu erinnern:
    Untersuchung und Dokumentation US-amerikanischer Kriegsverbrechen, dazu massivste Verletzungen des Völkerrechts, und der Menschenrechte bis hin zum Vorwurf des Genozids.
    Ich war gerade in Vietnam, war im Anti-Kriegsmuseum in Saigon mit diesen Bildern konfrontiert: Napalm- und Agent-Orange-verwüstete Wälder, „My Lai, „body-counting“, US-Soldaten mit Menschenresten als Trophäe, verunstaltete und verkrüppelte Menschen noch 50 Jahre danach. Dokumentationen, doch kein Hinweis auf Hass, Rache, Vergeltung.
    Auswirkungen von Hartz 4 in einem Atemzug zu nennen mit solch unermesslichem Leid empfinde ich als Verhöhnung dieser Opfer.
    Nicht zu sprechen von in meinen Augen verwerflichen Rachegefühlen in der Pose des Weltenrichters im Namen einer für sich selbst gepachteten „Moral“.

    Ihre Antwort an Frau Ernst verschlimmert alles noch.
    Sie gehören also zu den „Enttäuschten und Missbrauchten“.
    Gestatten, dass ich lache. Ich habe selbst den Inquisitoren gegenüber gesessen – von der SPD. Mit der Perspektive der Zerstörung der beruflichen Existenz vor Augen.
    Und berechtigt das, die „Verrats“-Metapher aufzuwärmen, die Rachekeule zu schwingen – just in dem Moment, in dem Fehlentwicklungen nicht nur erkannt werden, sondern auch eine Neuorientierung in Angriff genommen wird?

    „Recht auf Klartext“ und Inszenierung eines Tribunals sind zwei Paar Stiefel. Das werden Sie wohl selbst wissen.
    Und ich verwehre Ihnen das Recht, sich mit Ihrem unsäglichen Ansinnen auch noch auf den „Pazifisten Bertrand Russell“ zu berufen. Der war Realist genug, keinen Platz in dem von Ihnen beschworenen „Himmel der Demokratie“ zu beanspruchen.

    Ich bin da auch um einiges bescheidener. Ich weiß bloß nicht, wie ich Sie noch ernst nehmen soll.

  9. @ „Strafvisionen“ hin oder her – die Debatte führt zu gar nichts, wenn das System der Agenda 2010 nicht verstanden worden ist.
    Es handelte sich um ein ArbeitsMARKTreformgesetz, das die Trennung von Sozialhilfe und Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz total aufgehoben hat. Damit a) die Sozialhilfe entwertet und b)die Arbeitslosigkeit de facto vom gesellschaftlichen zum individuellen Problem erklärt wurde. Für die Arbeitslosigkeit wurde der Einzelne verantwortlich gemacht und entsprechend waren die Sanktionsmaßnahmen des SGB II die Folge und gesellschaftliche Diskrimierungsmarschroute, mit Kanzler Schröder und seinen Vasallen an der Spitze („Es gibt kein Recht auf Faulheit!“).

    Es gibt also keinen einzigen Grund dieses Hartz IV und seine Folgen für die Arbeitslosen, Arbeitssuchenden und sozial Benachteiligten zu entschuldigen und auch nur verständnisvoll mit der Sozialdemokratischen Partei umzugehen.

    Genau so ärgerlich war in dieser Zeit der Umsetzungen und teils chaotischen Umstrukturierungen der Arbeitsverwaltungen in Jobcenter, Arbeitsagenturen und Optionskommunen, das Einknicken der Verbände der Freien Wohlfahrt vor diesem Paradigmawecchsel, weil auch schon da die erste Frage war: Was lohnt sich da für uns? Wo können wir da mitmachen (Beispiel: Ein-Euro-Jobs).
    Ich habe beruflich diese Entwicklungen, einschließlich des „Sozialen Kahlschlags“ eines Ministerpräsidenten Roland Kochs in Hessen miterlebt und auf der mittleren Ebene versucht dagegen zu halten.

    Damit will ich schließlich sagen, dass ich das, was Herr Mertens zum Ausdruck bringen will, sehr wohl verstanden habe und ich nie bereit dazu war „mich an der Vertuschung der Tatsachen zu beteiligen“ und er damit jedenfalls nicht alleine ist.

    Nämlich den Betrug an den SPD-Wählern 1998 (Lafontaine ist abgesprungen) als auch den Schaden, den die SPD dem Volke zugefügt hat, indem es die sozialen Spaltungen in der Gesellschaft in einem Maße vorangetrieben hat, das unter anderem seit über 20 Jahren zu über 900 Tafeln und Armenküchen, einer Zahl von über 6 Mio Hartz-IV-Empfängern und einem versauten sozialen Klima in Deutschland geführt haben.

    Das ist eine Bilanz für die sich die SPD in Grund und Boden schämen muss und deshalb auch sich zu entschuldigen und der der Bevölkerung zu stellen hätte. Und keine Faseleien von vollbrachter Aufarbeitung oder x-ter Reformenkataloge.

    Wenn auch Klaus Philip Mertens aus seinem Erfahrungshintergrund andere Bilder der Aufklärung benutzt, so bin ich ganz seiner Meinung.
    Richtig ist auch, dass die Deutsche Wirtschaft 2002 nicht krank war und es nicht der „Agenda“ bedurft hätte. Es ging einzig und allein um den Startschuss zu einer einzigartigen Privatisierungswelle der öffentlichen Daseinvorsorge („PPP“ Private-Practice- Partnership), wie wir es heute in Vollendung bei den Kliniken, der Wohnungswirtschaft oder der Bahn und Post erleben. Hinzu ein verkümmertes Rentensystem, dass für zukünftige Generationen Fragen aufgeworfen hat, die in jungen Jahren zu früher Panik und Schwermut führen müssen. Von den „traditionellen“ Armutsgruppen (Wohnungslose oder Suchtkranke) und dem hohen Anteil von Kinderarmut und Altersarmut erst gar nicht zu sprechen. Das ist ein politischer Skandal sondergleichen!

    Nichts davon darf in Vergessenheit geraten und nichts auf eine billige Tour als abgearbeitet ins Archiv der Geschichte verfrachtet werden!
    Hier geht es also nicht um Rache oder Säuberungsprozess (Brigitte Ernst), hier geht es um Wiederherstellung von Gerechtigkeit, Beendigung der Elitenherrschaft und einer menschenfeindlichen Wachstumsideologie, die soziale und ökologische Verwüstungen hinterlässt.

  10. @ Jürgen Malyssek

    Gegen eine Aufarbeitung zum Zweck der Fehlererkennug und -beseitigung hat ja niemand etwas, und linke Zeitungen und der Büchermarkt sind voll von entsprechender Kritik, ebenso die innerparteiliche Diskussion.
    Das muss aber keine Säuberungsaktion, wie sie sich Herr Mertens zusammenphantasiert, bedeuten.
    So, wie er sich das vorstellt, kann das rechtlich gar nicht funktionieren, weil ein Tribunal, wie er es sich wünscht, gar keine Befugnis zum Parteiausschluss besitzt.
    Ich darf Herrn Mertens zitieren:
    „Auf einem öffentlichen Forum sollte der Verrat an den humanistischen und sozialistischen Idealen sowie die Kollaboration mit den Feinden des Sozialstaats ausgebreitet, die Schuldigen benannt und aus der Partei verbannt werden.“ Und dann folgt das Vorbild Chruschtschow.
    Ich nenne so etwas Säuberungsprozess. Sie nicht, Herr Malyssek?

  11. @ Jürgen Malyssek:

    Meine Hochachtung und Dank für diesen Kommentar sowie für den o.a. Leserbrief.

    Dies sind alles Punkte, die unbedingt ausgesprochen/geschrieben werden mussten. Das Problem ist leider nur, dass unsere Gedanken von den Verantwortlichen ignoriert bzw. erst nicht gelsen werden.

  12. @ Peter Boettel

    Danke Ihnen für diese Rückmeldung. Mir geht es gerade darum, dass die wirklichen Wunden dieser Agenda-Missetat überhaupt nicht (partei-)politisch reflektiert werden, sondern allenfalls von „den hart arbeitenden Menschen“ schwadroniert wird, diese mit Komplimenten zu überschütten, um anschließend das nächste Reförmchen auf den Weg zu bringen, dass aber wenig mit der Gesamtentwicklung und sozialen Lage der Nation zu tun hat: Verarmung und Ausgrenzung!
    Allenfalls Hubertus Heil lässt durchblicken, dass er eine (stille) Ahnung davon hat, was es bedeutet, einen sozialen Existenzkampf zu führen.

  13. @ Brigitte Ernst

    Sicher sind die Zeitungen und Bücher voll von Kritik an Hartz IV und sicher grummelt es innerhalb der Partei-Diskussion der Sozialdemokraten (gerade in den alten Ortsvereinen, die teilweise überhaupt nicht einverstanden waren und sind, was die Großkopferten da oben verzapft haben), aber alle Diskussionen drehen sich seit Jahren im Kreise. Zudem hatte die SPD in den letzten Jahren auch nicht den Mut, auf die GroKo zu verzichten und echte Oppositionspolitik zu machen, weil sie dazu auch nicht in der Lage ist. Die „Drecksarbeit“ und die Behandlung der Soziale Frage blieb dann bei der Linken hängen. Die wiederum wurde systematisch von den Sozis links liegen gelassen.
    Sie sollten, meine ich, Frau Ernst, das „Tribunal“ oder den „Schauprozess“ nicht so wortwörtlich nehmen. Herr Mertens (der sich übrigens bestens selbst zu verteidigen weiß) benutzt kräftige Methaphern und macht auch Unterscheidungen (18.02., 18:24 h). Der Ärger und der Zorn sind berechtigt. Ich sagte es bereits. Die Vielzahl der Diskussionen zum Thema, die Sie erwähnen: Ja. Aber seit Jahren drehen sie sich im Kreise. Keiner will an die Stellen, wo’s wehtut (die Zerstörung des Sozialstaats). Butterwegge, Schneider, Sell, die schon.
    „Säuberungsprozess“(?!): Der von Ihnen zitierte Satz von Herrn Mertens ist nicht gerade mit Samthandschuhen („Pamphlet“)geschrieben. Aber wenn man jetzt nicht gerade an den Reizworten hängen bleibt, dann ist es letztlich eine längst fällige Abrechnung mit dem „Verrat“ der SPD an den eigenen Wählern, Genossinnen und Genossen sowie an der oben gesagten Zerstörung des Sozialstaates und dem großen Solidaritätsverlust quer durch die Schichten der Gesellschaft. Das darf man denn auch drastisch ausdrücken.
    Wenn man Schröder schon nicht aus der Partei verbannen kann (die Gedanken sind frei), dann die nächste Frage: Was hat dieser Mann da noch zu suchen? Überhaupt noch in einer sog. Volkspartei?

  14. Ich denke das es nicht zielführend ist eine Diskussion über Sozialreformen mit vergangenheitsbezogenen Schuldzuweisungen zu führen. Es ist grundsätzlich richtig aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und daraus Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Das Soziale Thema kann aber nur ein Teil eines Gesamtkonzept sein in dem auch die Umwelt und die Wirtschaftspolitik zusammen geführt werden müssen. Der Anfang erscheint mir gemacht.

  15. @ hans

    Absolute Zustimmung, insbesondere betr. die „vergangenheitsbezogenen Schuldzuweisungen“. Dass das – auch in diesem Blog – nun schon seit Jahren so geht, ist kaum mehr auszuhalten.

    @ Jürgen Malyssek

    Lieber Herr Malyssek,
    Sie wissen, dass ich großen Respekt vor Ihrem Engagement habe und Ihre Aufgeschlossenheit schätze.
    Ihr Rechtfertigung der anmaßenden Vorstellungen eines „Tribunals“ kann ich aber nicht mehr nachvollziehen.
    Über meine bereits geäußerten Anmerkungen hinaus weise ich auf Folgendes hin:

    Herr Mertens will auf „Trümmern des Opportunismus“ eine Gesellschaft aufbauen, „die kompromisslos demokratisch und sozial ist“. Nur: Seltsamerweise geht er mit keinem Wort darauf ein, was denn „sozial“ bedeuten soll. Auf positive Forderungen hinsichtlich aktueller und künftiger sozialer Maßnahmen (Thema des Threads!) wartet man vergebens. Schlimmer noch: Diejenigen, als deren Anwalt er sich fühlt, kommen in seinen Ausführungen nicht einmal vor.
    Wie war das mit der „Lebenslüge der Sozialdemokratie“? Ist eine auf Selbstüberhebung beruhende intellektuelle Lebenslüge, die Benachteiligte der Gesellschaft lediglich als Spielball für intellektuelle Planspielchen benutzt, denn so viel glaubwürdiger?

    Zum völlig abwegigen Bezug zum Russel-Tribunal über Kriegsverbrechen in Vietnam: Bertrand Russell war sich wohl bewusst, dass dieses „Tribunal“ ausschließlich Wirkungen auf moralischer Ebene entfalten konnte, über keine Mittel zur Durchsetzung seiner Beschlüsse verfügte. Sein „Tribunal“ war aufgrund der Ungeheuerlichkeit der Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen gerechtfertigt.
    Das Verlangen von Herr Mertens ist es nicht. Er geht zudem weit darüber hinaus: Er fordert Parteiausschlüsse, „Demaskierung“, einen innerparteilichen Krieg gegen „Verräter“. Da ist wohl klar, dass die erstrebten „Trümmer des Opportunismus“ auf Zerstörung der Sozialdemokratie überhaupt zielen. Und dass das auch unweigerlich die Folge wäre.
    Und das soll der bloßen „Aufklärung“ dienen, nichts mit Rache, nichts mit einem Schauprozess zu tun haben?

    Zu einigen Ihrer Ausführungen:
    – Der Analyse der Fehlorientierung von Hartz IV stimme ich prinzipiell zu.

    – „Wiederherstellung von Gerechtigkeit“:
    Weshalb „wieder“? Wann gab es die je und wo? Welche grundsätzlichen Forderungen wären zu stellen? Welche gesamtgesellschaftlichen Aspekte zu erwägen?
    Und wo bleiben die Konkretisierungen (wenigsten angedacht) für heute, für die Zukunft? Warum haben Sie nichts dazu zu sagen, wenn konkrete Vorschläge vorliegen, etwa von Hubertus Heil?

    – „Beendigung der Elitenherrschaft und einer menschenfeindlichen Wachstumsideologie, die soziale und ökologische Verwüstungen hinterlässt“:
    Was die „Wachstumsideologie“ betrifft, beschäftigt sich der „Club of Rome“ seit nunmehr fast 60 Jahren, seit den „Grenzen des Wachstums“, mit dieser Frage. Und das Problem soll nun per Eingebung (von wem eigentlich?) im Handumdrehen gelöst werden? Ohne auch nur die Voraussetzungen für Veränderung (etwa Verhaltensweisen in Hinblick auf ökologische Probleme), eintretende soziale Verwerfungen und Gegenmaßnahmen zu thematisieren?

    – „Beendigung der Elitenherrschaft“:
    Wo besteht da denn nun der Unterschied zu Trumps (vermeintlichem) Kampf gegen „das Establishment“?
    Welche konkreten Entwürfe dazu gibt es denn? Was gegenwärtig vorliegt, kommt fast ausnahmslos von extrem rechts. Und was dabei „beendet“ werden soll, ist nicht die „Elitenherrschaft“, sondern die Parlamentarische Demokratie.
    Nicht anders bei denen, die von den „Gelbwesten“ in Frankreich übrig geblieben sind. Wo die Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ inzwischen durch die Hauptforderung nach totalitärer „Volksherrschaft“ (unter dem Schlagwort des RIC, Référendum d’Initiative Citoyenne) abgelöst ist.
    „Totalitär“ in mehrfacher Hinsicht: Abschaffung der Gewaltenteilung durch „Volksherrschaft“ im Sinne pausenloser Referenden über alles: Verfassungsänderung, Abwahl des Präsidenten und von Abgeordneten zu jedem denkbaren Zeitpunkt, Beschluss und Abschaffung aller möglichen Gesetze ohne Einschränkung, ebenso wie Veränderung aller möglichen Dekrete und Verordnungen. Alles ausschließlich über Referenden und ohne Festlegung irgendeines Quorums. – Der „Brexit“-Beschluss erscheint demgegenüber geradezu als Inkarnation der Rationalität.
    (Weitere Ausführungen dazu spare ich mir, habe ich im Thread „Gedankenlose Bequemlichkeit, Januar 2019, bereits vorgelegt http://frblog.de/konsumskla
    http://frblog.de/konsumskla

    Hier dazu nur soviel:
    Wer, im Sinne des Themas, „positive Zukunftsvisionen“ entwickeln will, hat auch die Pflicht, existierenden Ansätzen, möglichen und wahrscheinlichen Auswirkungen, Umbrüchen, programmierten Katastrophen, Menschenrechtsverletzungen usw. kritisch nachzugehen.
    Und dazu gehört auch, eigene Verletzungen nicht zum Maßstab und Ausgangspunkt politischer Entwürfe zu machen.
    Ansonsten wird er ungewollt zum Büttel von Demagogen, die auf ganz andere Weise ihr Süppchen mit Zukunftswünschen und Utopien kochen.

  16. @ Werner Engelmann

    Lieber Herr Engelmann,

    geben Sie mir noch etwas Zeit und ich antworte Ihnen. Heute muss ich noch anders fertgmachen.

    Immerhin ging es in diesem Kapitel um Aufarbeitung, Neuausrichtung und Glaubwürdigkeit der SPD.

  17. @ Werner Engelmann

    Ob ich in allen Punkten zu einer zufriedenstellenden Antwort beitragen kann? Ich weiß es nicht? Denn ich habe zwar den Aufklärungswunsch an und den radikalen Bruch mit der Agenda von der SPD unterstützt, aber „Tribunal“ und „Säuberungsaktion“ waren für mich, wenn es auch hart rübergekommen ist, Metaphern, Ausdrucksmittel, die ich nicht weiter übernehmen muss.
    Also, will sagen: Ich habe das nicht so übersetzt, wie Sie und Frau Ernst das aufgegriffen haben. Den Zorn über die „Lebenslüge der Sozialdemokratie“, den habe ich sehr wohl erkannt – und der ist mir nicht fremd, weil ich seit den 2000ern diesen Kampf gegen diese verheerende sozialpolitische Wende mit Schröder und Konsorten in allen Ecken und Facetten des sozialen Lebens der Menschen in Armut und Abhängigkeit miterlebt habe.
    Ja, Betroffenheit! Aber auch sozialpolitisch und -arbeiterisch ein Kampf gegen Windmühlen der Konformität, der Verleugnung, Selbstverleugnung und schließlich ein System, das die Republik „geistig-moralisch“ gewendet hat.
    Alle Versuche der Sozialdemokratie, sich wieder ins bessere Licht bei ihren Wählern und Ratsuchenden zu setzen, sind nach 2005 gescheitert. Deshalb das Misstrauen und auch der Vertrauensverlust in einem enormen Maße.

    Wenn etwa Heinz Bude vom einem Kampf ums Dasein von Millionen von „Ausgeschlossenen“ spricht. Und die Deutsche Armutskonferenz (Strategie Europa 2020) sagt deutlich: „Deutschland verabschiedet sich vom Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung!“
    Da bleibt nicht mehr viel von dem Glauben an einen Neuanfang und schon mal gar nicht nach einer Klausur von 2 Tagen.

    Es hat keinen Sinn, etwas schön zu reden, nur weil der unbändige Wunsch besteht, dass es doch endlich so sein müsste.
    Ich bin ansonsten sehr nahe dran bei dem, was Christoph Butterwegge in seinem Gastbeitrag am 15. Februar in der FR (S. 12) zum SPD-Konzept zur Überwindung von Hartz IV zu sagen hat.
    Vieles, was Butterwegge („Krise und Zukunft des Sozialstaates“) in den letzten Jahren zu sagen hatte, ist übrigens Teil einer möglichen Wiederherstellung von sozialer Gerechtigkeit:

    Absicherung von Arbeitslosen, wie zu Zeiten des alten Arbeitsförderungsgesetzes, weg mit dem Niedriglohnsektor, weg mit der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, das letztenendes das SGB II geschaffen hat, REkommunalisierung der öffentlichen Daseinvorsorge, Schluss mit den Jobcentern und den Pseudomaßnahmen für Arbeitslose. Dann diese ganze Sanktionsmaschinerie, auch in der Verantwortung des Bundesagentur für Arbeit, deren Forschungsabteilungen einen Riesenanteil von Beschäftigung ausmacht, aber eigentlich nichts davon an die Öffentlichkeit dringt und wie eine Geheimwissenschaft operiert.
    Ich könnte die Reihe bis morgen früh forsetzen und wäre immer noch nicht am Ende.

    Mir geht es also nicht um Rache oder einen Schauprozess im leibhaftigen Sinne, aber schon um ein bisschen mehr als ein Jubelschrei der Vorsitzenden nach einer Parteiklausur.

    Es tut mir leid, das verfängt sich bei mir nicht mehr und ich bin viel zu skeptisch, um schnellen Aufbruchstimmungen gleich zu folgen. Das muss ich denen überlassen, die es zur Herstellung ihres persönlichen Gleichgewichts brauchen (Achtung! Sie sind damit nicht gemeint, lieber Herr Engelmann!).

    Fortsetzung folgt morgen.

  18. Was denn das Soziale ist (um auf die Frage von Herrn Engelmann zurückzukommen), ist bislang nur in Ansätzen begriffen. Einer der prominenteren, der nicht nur im deutschsprachigen Raum von Relevanz ist, ist dabei der „Göttinger Ansatz“. Dessen Konstituens ist die exzentrische Positionalität des Menschen (Plessner, H., 2016: 407, 2. Aufl.), also die Fähigkeit des Einzelnen sich selbst von außen zu betrachten. Sehr viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Insofern sind die Grundlagen, auf denen sowohl die frühere Agenda 2010 als auch das jüngste Sozialstaatskonzept der SPD aufbauen, noch kaum erkundet. Dass angesichts des dürftigen Erkenntnisstandes etliches schief gelaufen ist mit der Agenda 2010, nimmt somit nicht wunder. Die Verwegenheit, mit welcher die Agenda 2010 von Kanzler Schröder betrieben wurde, ist bis heute deshalb unübertroffen. Damit sich nicht dieselben Fehler wiederholen, müsste sich die SPD wenigstens bewusst sein, auf welch dünnem Eis sie sich gleichsam auch mit ihren aktuellen Vorschlägen bewegt, Hartz IV hinter sich zu lassen, weil die Voraussetzungen nach wie vor dieselben sind und zumindest wissenschaftlich keine nennenswerten Erkenntnisfortschritte in der Zwischenzeit erzielt worden sind.

  19. @ Werner Engelmann

    Eine Vorbemerkung:
    Vielleicht kann man das vermeintliche Schreckenswort „Tribunal“ auch etwas runterdämmen. Selbst in der Aufklärungsarbeit der Katholischen Kirche zu den Mißbrauchsskandalen, ist der Begriff und die Anwendung kein Tabuthema. Wobei ich jetzt nicht die verschiedenen Themen wirklich miteinander vergleichen will, sondern nur auf die Aktualität einer Konfrontation von „Täter“- und „Opfer“seite aufmerksam machen will – beispielhaft.
    Aber auch so werde ich wohl für diesen Gedanken keinen Beifall bekommen.

    Auf das Beispiel „Russell-Tribunal“ wäre ich persönlich gar nicht gekommen – diese Reichweite der Thematik.

    -„Zur Wiederherstellung von (sozialer) Gerechtigkeit“:

    Ich sehe übrigens wirklich positive Ansätze beim Bemühen des Hubertus Heil, etwa bei dem Thema Grundrente. Er ist augenblicklich der Letzte, dem ich im Reigen der SPD einen Vorwurf machen kann, dass es nicht da oben geklickt hätte.
    Dies kam auch hier verschiedentlich zum Ausdruck. Sie haben ja auch die Szene bei „Hart aber fair“ (manchmal eine fürchterliche Sendung mit einer Fülle von Abgehobenheitskandidaten und Technokratie) erwähnt, die ich zufällig auch mitgekriegt habe und wo ich seit langem mal eine anständige Antwort auf das „Leistungsträger“-Argument aus eben dieser Elite-Etage gehört habe. Da habe ich dann in Richtung Hubertus Heil signalisiert: Respekt!

    Sicher hat es nie DIE Gerechtigkeit gegeben. Aber zu Zeiten der „Sozialen Marktwirtschaft“ bis in die 1980er Jahre hinein, gab es es ein handhabbares Sozial(hilfe)gesetz, das eben getrennt war von den Arbeits- und Leistungsgesetzen unter der Hohheit der Bundesanstalt für Arbeit. Die Arbeitslosen waren mittelfristig abgesichert. Die Anschluss-Arbeitslosenhilfe federte auch noch gut ab.
    Wenn auch damals schon Leistungen erstritten werden mussten bei Arbeits- und Sozialhilfe, so ging es unter dem großen Strich, gerecht zu, als auch mit Ermessensspielräumen, also das Prinzip der „Berücksichtigung des Enzelfalles“.

    Alles futsch gemacht worden durch das Hartz IV und dem Pardigmenwechsel. „Leistung muss sich wieder lohnen!“ usw. usw.
    Und über die Diskriminierung von Arbeitslosen ist genug gesagt worden.

    Ich suche nicht die totale Gerechtigkeit, aber dieses elende „Fördern und Fordern“ (aus der Sozialen Arbeit geklaut), das eigentlich zu einem Fordern und mikrigen Fördern entstellt worden ist (Sanktionen, irrelevante Maßnahmen), das hat zigtausende von Leistungsempfängern gedemütigt und erst richtig ins soziale Abseits und in die Armut getrieben.
    Ohne das Hartz IV mit den neuen Armutsentwicklungen hätte es nie diese große Zahl von Tafeln und Armenküchen gegeben, die heute und schon längst als politisch + zynisch als Standard-Versorgung verkauft werden!

    Wissen Sie was in einem der derzeitigen bzw. aktualisierten Lehrbücher für „Beschäftigungs-orientieres Fallmanagement“ unter dem Kapitel ‚Beratung im Kontext des SGB II‘ steht?

    „Beratungspflicht“:
    ‚Niemand wird bestreiten, dass es auch unter Androhung von Sanktionen/Ausübung von Druck zu einer vernünftigen Beratungsarbeit kommen kann …‘

    „Druckausübung als positiver Veränderungsreiz“:

    ‚Druck auszuüben, hierzu dienen ja die Sanktionen im SGB II, ist nicht per se unethisch oder ungerechtfertigt. Er kann dazu werden, wenn ethische Parameter nicht beachtet werden …‘

    „Gesellschaft akzeptiert keine Verweigerungshaltung“:
    ‚Letztlich bleiben die Veränderungen am Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft nicht ohne Auswirkungen auf den Einzelnen. Die Diskussion um den (aktivierenden) Sozialstaat ist voll entbrannt und wird Wahlen entscheiden. Egal wie man zu dieser Entwicklung steht, wie berechtigt um eine an sozialen Kriterien orientierte Verteilung der gesellschaftlichen und ökonomischen Ressourcen gerungen werden muss, die Gesellschaft kann und will es in vielen Fällen nicht hinnehmen, dass solche mehrfach belasteten Klienten, die ihnen angeboteten Hilfen nicht annehmen … usw, usw.‘.

    Leider stammt beim Letzten ein Teil der Argumentation sogar aus dem Lehrapparat des Fachhochschulbereichs für Sozialarbeit.

    Muss man zu diesem Zeitgeist in Kürze noch was sagen oder ist man bereit, das so zu schlucken, wie es letztlich in den Jobcentern und Arbeitsagenturen „zwangsläufig“ umgesetzt wird?

    Woher kommt diese Geisteshaltung? Dreimal darf man raten.

    Die anderen Punkte:

    -„Beendigung der Elitenherrschaft und menschenfeindlichen Wachstumideologie …“

    Sicher bin ich nur ein armes Würstchen, mich so einer großen Forderung anzuschließen, wenn schon der sehr ehrenwerte „Club of Rome“ schon seit vielen Jahrzehnten sich daran abarbeitet und nicht gerade Erfolg und Beifall erntet. Schon mal garnicht in Zeiten der Wachstumsorgien, Riesenkonzerne und schließlich des unaufhaltsamen digitalen Aufstiegs in der Welt.
    So ist denn Ihre Frage, wer das „per Eingebung und im Handumdrehen“ lösen soll, bestimmt nicht die, die ich Ihnen beantworten kann. Und im Handumdrehen schon mal gar nicht. Wir haben bei anderen gesellschaftlichen Themen immer wieder über Verhalten, Haltung oder Überzeugung gesprochen – und weitestgehend ein gegenseitiges Verständnis für die miesliche Lage zu Veränderungen erarbeitet. Warum sollte das jetzt anders sein? Ich bin, wie wir alle hier, nicht der große Zampano und bin auch darauf angewiesen, was in meiner Kraft steht im sozialen Umfeld zu problematisieren, etwas anzustoßen oder mich zu engagieren. Und: manchmal gibt es diese Gunst der Stunde und hier und da, lohnt sich ein langer Atem. Deshalb etwa meine moralische Unterstützung für eine taffe schwedischen Schülern namens Greta Thunberg, die ihren Weg machen wird. Und sie ist bestimmt resistent gegen fragwürdige wirtschaftliche und politische Vereinahmungen.

    – „Beendigung der Elitenherrschaft“

    Oh doch! Trumps (vermeintlicher) Kampf gegen „das Establishment“, das ist sowas von durchschaubar. Denn er ist das Establishment in persona! Also ist ziemlich klar, was dieser große weiße Mann, der sich ins Weiße Haus verirrt hat, von der von Gewaltenteilung lebenden Parlamentardemokratie hält.

    Wie es mit den „Gelbwesten“ weiter geht, muss man sehen. Auch da haben wir schon die Divergenzen innerhalb dieser Protestgruppe problematisiert. In Wiesbaden protestieren seit einiger Zeit vielleicht so 100 Leute in Gelbwesten. Und es sind mehrheitlich Rechte und Trittbrettfahrer.

    „Ich“ kann also nichts dafür („Ich war’s nicht“), wenn sich die Appelle und Schreie nach „sozialer Gerechtigkeit“ in eine totalitäre Richtung wenden.
    Ich glaube, dass die Tiefen unserer gesellschaftlichen Krise sowieso nur richtig deutlich werden, wenn es mal richtig kracht und dann will es wieder mal niemand gewesen sein. Ich erlaube mir diesen dunklen Blick und die weiteren Entwicklungen.

    Der Hallenser Psychoanalytiker und Psychiater Hans-Joachim Maaz(„Das falsche Leben“, 2017)analysiert haarscharf Phänomene wie Pegida und AfD, den zunehmenden Hass auf Ausländer, aber auch die Selbstgerechtigkeit der politischen Elite, als ein Ergebnis unseres falschen überangepassten Lebens.
    Aber wer interessiert sich schon für jemanden, der aus der Reihe des Konformismus‘ tanzt?

    Ich habe bereits im ersten Teil meines Versuchhs einer Antwort auf die von Ihnen gestellten Fragen, Thesen gesagt, dass ich mich nicht so gut dafür eigne, jetzt „positive Zukunftsvisionen“ zu liefern. Das läßt meine Skepsis nur bedingt zu. Ich bin eher ein Alltagsarbeiter und zehre von den Erfolgen an der Basis.
    Mein Maßstab und Ausgangspunkt sind auch nicht etwaige „eigene Verletzungen für politische Entwürfe“ zu machen.
    Verarbeitete Erfahrungen und das Stromern, der Alltag aber schon.

    Bis demnächst.

  20. @ Jürgen Malyssek

    Erst einmal danke für die ausführlichen Ausführungen. Meine Antwort hat etwas gedauert, denn ich musste gestern unsere Flüchtlingskinder in Paris abholen.

    Zunächst mein Widerspruch zur Selbsteinschätzung „Sicher bin ich nur ein armes Würstchen“.
    Gerade Greta Thunberg belegt, was so ein „armes Würstchen“ ausrichten kann. Es kommt eben darauf an, den Nerv vieler Menschen zu treffen. Und selbstverständlich braucht man auch, wie Sie richtig betonen, einen „langen Atem“.
    Den aber beweist gerade der „Alltagsarbeiter“. Und das Entscheidende sind wohl die „Erfolge an der Basis“.

    Ich lasse mal das Thema „Hartz 4“ weg und gehe medias in res in Bezug auf das Thema des Threads: „positive Zukunftsvision“. Nur so lässt sich ein Teufelskreis fortwährender vergangenheitsbezogener – und insofern fruchtloser – Kritik durchbrechen, deren pessimistische Sicht sich wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung fortlaufend selbst bestätigt und erzeugt.

    Zu den ethischen Grundprinzipien: Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit.

    Beide gelten wohl in noch höherem Maße, wenn es darum geht, sie (wieder) herzustellen.
    Und beide bedürfen fortlaufender Rückkopplung mit der „Basis“, der Erfolge der „Alltagsarbeiter“.
    Wobei diese ethischen Grundprinzipien nicht zu verwechseln sind mit einer politischen Strategie. Während es sehr wohl einer klaren Vorstellung der ethischen Grundprinzipien im Sinne einer „positiven Utopie“ bedarf, hat bei politischer Strategie höchste Vorsicht zu walten. Sie anhand von theoretischen Prämissen festlegen zu wollen, ohne diesen ständigen Kontakt zur „Basis“, führt zwangsläufig zu Dogmatismus.
    Die Verirrungen des „wissenschaftlichen Sozialismus“ sind dafür ebenso ein Beispiel wie die intellektuelle Abgehobenheit, der teilweise Realitätsverlust der 68er.

    Daher auch meine strikte Ablehnung des Gedankens an ein „Tribunal“ in der politischen Auseinandersetzung, meine Bezeichnung als „intellektuelle Verirrung“.
    Und dafür sind nicht nur ganz konkrete eigene Erfahrungen maßgebend, was dies für einzelne bedeutet.
    Es geht vor allem darum, dass keine „positive Zukunftsperspektive“ möglich ist, wo der Blick auf die Vergangenheit verhaftet bleibt und zugleich der konkrete Kontakt zu denen verloren geht, für die in erster Linie „Gerechtigkeit“ geschaffen werden soll. Und dazu bedarf es eben der „Alltagsarbeiter“.
    Ohne die ist keine „Glaubwürdigkeit“ möglich, degeneriert „Gerechtigkeit“ zur bloßen Floskel. Abgleiten in totalitäre Ideologie ist da viel wahrscheinlicher.

    Das dürfte auch der Grund sein für gegenwärtige Verbreitung rechtsradikaler Ideologien.
    Ich unterstelle dabei, dass auch bei deren Anhängern so etwas wie eine Idee von „Gerechtigkeit“ existiert, freilich abgehoben von jeglicher Realität (z.B. was das konkrete Schicksal von Flüchtlingen betrifft), dementsprechend degeneriert zur bloßen Ideologie, die in ihrem totalitären Anspruch die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung dieser „Ideen“ nicht scheut.
    Das ist auch das Dilemma von Politikern, die meinen, AfD-Anhänger mit inhaltlichem Entgegenkommen, mit eigenen populistischen Methoden „einfangen“ zu können.

    Zur „positiven Zukunftsutopie“ am Beispiel der „Grundrente“ nach Vorstellung von Hubertus Heil.

    Ich halte diesen Vorschlag nicht nur für einen Schritt in die richtige Richtung. Er erfüllt auch die oben genannten Voraussetzungen für einen Teil einer „positiven Zukunftsutopie“.
    Ich beschränke mich hier auf grundsätzliche Erwägungen, denn im Einzelnen habe ich mich dazu bereits unter dem Thread „Mit der Grundrente übernimmt die Gesellschaft Verantwortung für ihr Versagen“ geäußert:
    http://frblog.de/grundrente/#comment-53097
    http://frblog.de/grundrente/#comment-53112

    Zunächst ist bei diesem Vorstoß der Aspekt „Gerechtigkeit“ in der Weise berücksichtigt, als er ganz konkrete Verbesserungen in sozialer Hinsicht für Benachteiligte der Gesellschaft enthält.
    Das allein aber würde nicht genügen: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein.“
    „Glaubwürdigkeit“ ist nicht allein eine Frage der Erfüllung sozialer Forderungen. Es geht vor allem auch um „Respekt“: die Anerkennung von „Lebensleistungen“.
    Das ist wohl auch die entscheidende Frage, die von der SPD im Zusammenhang von „Hartz 4“ vernachlässigt wurde.

    Daher ist auch die Anerkennung des RECHTS auf angemessene Rente, als Frucht einer ERBRACHTEN Leistung so wichtig, im Unterschied zu einem Almosen, das Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt.
    Unabhängig davon, wie viel unter den gegebenen Machtverhältnissen, unter der GroKo durchsetzbar ist:
    Mit der Definition von „Leistungsträgern“ als denjenigen, die (in welcher Form und welcher Position auch immer) zur Gestaltung und Fortentwicklung der Gesellschaft beitragen, ist der Begriff vom Kopf auf die Füße gestellt. Die ethische wie begriffliche Pervertierung in der Welt spätkapitalistischen Scheins wird so zugleich in einem zentralen Punkt entlarvt.
    Das Geschrei in Union und FDP ist beredter Ausdruck dafür, dass hier ein zentraler Punkt ihrer Verschleierungsstrategie getroffen ist.
    (Von der AfD gar nicht zu reden: die hat ja noch nicht einmal ein Rentenkonzept, geschweige denn eine der Menschenwürde entsprechende Vorstellung von „Gerechtigkeit“.)

    Ich sehe in der GroKo keinen grundsätzlichen „Verrat“ (ein Begriff, der an sich schon höchst problematisch ist). Denn zur „Glaubwürdigkeit“ gehört auch der Nachweis, dass zumindest einiges an „sozialen Forderungen“ durchsetzbar ist.
    Das zumindest habe ich bei meiner Kontakt mit vielen Eltern der Unterschicht als Lehrer in Berlin-Kreuzberg begriffen: Die respektieren zwar idealistischen Einsatz für „Gerechtigkeit“. In ihrem konkreten Verhalten orientieren sie sich aber daran, wer denn die Macht hat, ihre eigenen Interessen auch konkret durchzusetzen.
    Auch deshalb halte ich die These, dass allein in der Opposition, in der „Rückkehr“ zur „reinen Lehre“ Glaubwürdigkeit wieder errungen wird, für falsch.
    Indem jegliche Gestaltungsmöglichkeit aufgegeben, die Verschlimmerung sozialer Verhältnisse in Kauf genommen, eine konkrete Machtoption in weite Ferne gerückt wird, geht auch ein großes Stück Glaubwürdigkeit gerade bei solchen Menschen verloren.

    Es ist also keine Frage des Prinzips, des ideologischen Bekenntnisses, sondern der konkreten Praxis, in welchem Maße Glaubwürdigkeit verloren wird bzw. wieder gewonnen werden kann.
    „Konkrete Praxis“ heißt hier: Entscheidend ist, dass überhaupt konkrete Schritte sozialer Verbesserung erkennbar sind und durchgesetzt werden. Und dass ZUGLEICH auf die verändernde Kraft „positiver Zukunftsvisionen“ gesetzt wird.

    Eine Illusion und – angesichts internationaler Vernetzung und eines geradezu unermesslichen Vernichtungspotentials – zugleich verantwortungslos ist demnach die Vorstellung, dass „aus den Trümmern des Opportunismus (…) eine neue Gesellschaft hervorgehen“ müsse (Klaus Philipp Mertens, 15. Februar 2019 um 19:01).
    Eine Zukunft kann im 21. Jahrhundert nur Stück für Stück errungen und gestaltet werden. Die Alternative dazu ist die Bombardierung zurück ins Steinzeitalter und – sofern dann überhaupt noch möglich – Neubeginn von diesem Stand aus.
    So freilich stelle ich mir eine „neue Gesellschaft“ nicht vor. Und niemand, der sich nicht in Ideologie verrennt, wird dies wohl tun können.

    Was tun?
    Die verändernde Kraft, die in der Neubewertung der wirklichen „Leistungsträger“ der Gesellschaft liegt, ist auszubauen, der „Respekt“, auf den dies zielt, zur Entfaltung zu bringen, als Waffe im ideologischen Kampf gegen Verschleierung und Diversion zu nutzen.
    Das birgt die Chance, dass auch auf anderen Gebieten falsche, bereits verinnerlichte Vorstellungen und Begriffe in Bewegung geraten.
    Greta Thunberg hat ein Beispiel gegeben, wie versteinerte Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden können.
    Freilich ist auch das nur ein Baustein, nicht zu verwechseln mit politischer Strategie, die sie weder vorgeben will noch kann. Doch der Jugend das Recht zuzubilligen, sich in ihrer Weise und Sprache auszudrücken, wach zu rütteln, Forderungen zu stellen – ohne, wie Paul Ziemiak, in lächerlicher Weise gleich die Vorlage einer ausgefeilten politischen Strategie zu verlangen- das ist schon viel.

  21. Die SPD hat ein weiteres Problem gegen das sie aus ihrer Situation eigentlich kurzfristig nicht ankommen kann. Rot, Rot, Grüne Wähler werden aus verschiedenen Gründen vermehrt Grün wählen, unter anderem auch um Jamaika zu verhindern. Die Umfragen geben das derzeit klar her. In Hessen kommt noch dazu das der Schwarz/ Grüne Koalitionsvertrag einige gute Punkte enthält und es eine hohe Glaubwürdigkeit, aus der Erfahrung der letzten 5 Jahre, gibt das er auch umgesetzt wird. Da würde auf Bundesebene nicht das Soziale im Vordergrund stehen sondern Klimaschutz und Wirtschaft. Wenn dann noch Vereinbarungen wie in Hessen zum Verfassungsschutz kommen wäre das durchaus ein interessante Alternative. Die SPD kommt leider erst danach wieder zum Zuge, aber dafür braucht es auch dann ein Programm und Glaubwürdigkeit.

  22. 1999 veröffentlichten Tony Blair und Gerhard Schröder das nach ihnen benannte Papier. Sie beschrieben darin die neue Mitte, die Labour und SPD mit ihren Positionen „erobern“ wollten. Es war eine Antwort auf einen strukturellen Wandel in der Gesellschaft und gleichzeitig ein Abschied vom Sozialstaat alter Prägung – weg vom fördernder hin zum (heraus-)fordernden Staat. Es kamen Hartz IV, Billigjobs, Zeitarbeit, eine Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, eine Kürzung der Renten, eine Ergänzung der solidarischen Rentenversicherung um eine kapitalgestützte Säule und last but not least eine sich sich immer weiter spreizende Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Die solidarische Gesellschaft – nennen wir sie den Wohlfahrtsstaat – begann zu bröckeln. Andere Prioritäten wurden gesetzt. Die oben angerissene Auffassung des Sozialstaates, die ja der liberalen eher entstammt, als der sozialdemokratischen Tradition, fordert nach einem völlig anderen Menschenbild. Gefragt ist der risikofreudige Performer, der Risiken eher als Herausforderung, denn als Bedrohung begreift. Der sich und sein Leben entgrenzt, nicht weiter einschränkt durch die Trennung z.B. von Arbeit und Privatem. Der sich in den Mittelpunkt stellt und zur Hauptsache erklärt. Der Solidarität auch als Einschränkung, gar als Freiheitsbeschränkung empfindet, und sie auf das Notwendigste beschränkt wissen will. Nicht jeder kann und will so leben. Und doch ist genau diese gesellschaftliche Ausrichtung heute gesellschaftliches Leitbild. Und es ist weithin akzeptiert. Die liberale Linke – und als solche verstehen sich sicherlich viele – stellt die grundlegende Staatsraison und den gesellschaftlich-kulturellen Wandel nicht in Frage. Sie ist vielmehr Teil davon. Und so bleibt Erneuerung auch bei der liberalen Linken oft in Reformen der Reformen stecken, die gar nicht nötig wären, hätte man nicht zuvor in die aktuelle Richtung reformiert. Hartz IV will die SPD zurücknehmen, eine Respektrente einführen, die Zeit, in der ALG 1 gezahlt wird verlängern. Alles richtig, nur: Verändert sie damit das gesellschaftliches Leitbild? Das Leitbild, das sie selbst vor knapp 20 Jahren als „Neue Mitte“ geschaffen hat. Nein. Und mir scheint eine Erneuerung an dieser Stelle auch fast unmöglich. Obwohl sie nötig wäre. Das ist meiner Meinung nach die wirkliche Aufgabe einer linken Alternative. Doch dieser Aufgabe stellt sich die SPD nicht. Sie repariert offensichtliche Schäden – gut so. Doch sie bleibt an der Oberfläche, stellt nicht in Frage, wie wir heute wirtschaften und leben. Dass sollte die große gesellschaftliche Debatte sein, hier braucht es Visionen. Wenn die SPD den Mut findet, sich dort an die Spitze zu setzen, hat sie eine wirkliche Zukunft. Wenn nicht, wird sie nur ein paar Stimmen zurückgewinnen …

  23. @ Bertram Münzer

    Ich kann Ihnen kaum widersprechen.

    Das gesellschaftliche Leitbild wird dominiert von der ökonomischen Macht der Konzerne und dem Kleinhalten der Lohnarbeiter sowie einer weitestgehenden Diskriminierung von Armen und Arbeitslosen.

  24. @ Werner Engelmann

    Ich kann Ihnen ganz gut folgen und ich denke auch, dass Sie ähnliche persönliche Erfahrungen machen und gemacht haben, was die „Alltagsarbeit“ und die „Erfolge an der Basis“ (auch Misserfolge sind lehrreich)betreffen.

    Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit bleiben wichtige Prüfsteine einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung.
    Mir ist es auch wichtig, mich nicht in einem Dogmatismus zu verfangen. Intellektualität ist wichtig, aber sie muss sich vor Abgehobenheit und Besserwisserei retten.
    Den Streit um das „Tribunal“ lasse ich jetzt ruhen.
    In einem Punkt bin ich nicht so Ihrer Meinung:
    Eine „positive Zukunftsperspektive“ ist nicht vernagelt, wenn der Blick auch die Vergangenheit geht. Ich sollte immer verstehen, warum es so gekommen ist, wie es jetzt ist. Es kann ja durchaus sein, dass die Gegenwartsbestandsaufnahme eine „positive Zukunftsperspektive“ nicht ohne weiteres zulässt. Das sollte man sich auch trauen dürfen zuzulassen.
    Umso erfreulicher ist aber gerade das Beispiel Greta Thunberg, die – so scheint es – doch etwas bewegen kann. Bravo! kann ich da nur sagen.
    Mit rechtsradikalen Gedankemgut und mit dem feststellbaren REchtsruck in Deutschland und außerhalb Deutschlands werden wir noch lange zu tun haben, vor allem, wenn die sozialen Schieflagen bestehen bleiben und die politische Instrumentalisierung von alten und neuen Bevölkerungsgruppen funktioniert.

    Ich habe schon betont, dass ich in der Person und Politgestalt von Hubertus Heil ein Stück Glaubwürdigkeit erkenne. Ich sehe in seinen Vorschlägen zur Sozialpolitik einen Weg in Richtung Gerechtigkeit. Und es ist ehrenwert, dass er das elitär benutzte Schlagwort des „Leistungsträgers“ etwas vom Kopf auf die Füsse stellt. Das hat man schon lange nicht mehr so gehört.
    Insofern bin ich mit Ihren Passagen auf Seite 27 einverstanden: „Zunächst ist bei diesem Vorstoß der Aspekt „Gerechtigkeit“ in der Weise berücksichtigt …“ bis „… Die respektieren zwar idealistischen Einsatz für „Gerechtigkeit“. In ihrem konkreten Verhalten orientieren sie sich aber daran, wer denn die Macht hat, ihren eigenen Interessen auch konkret durchzusetzen.“

    Allerdings bin ich immer noch davon überzeugt, dass sich die SPD mit ihrer zweiten Groko-Vermählung einen großen Glaubwürdigkeitsverlust eingehandelt hat und in der Opposition (was nicht „Rückkehr“ zur „reinen Lehre“ bedeuten muss) hätte Profil zeigen können. Ich bin überzeugt, dass gerade an der alten SPD-Basis, wie in den noch funktionierenden Ortsgruppen, der Makel der Unglaubwürdigkeit so empfunden wurde.
    Die verändernde Kraft und der Ansatz einer Glaubwürdigkeit blitzte jetzt wieder auf (nicht wegen der SPD-Klausur-Euphorie, sondern eben in der erkennbaren Standfestigkeit eines Hubertus Heil.
    Sie sprechen dann noch von der Alternative zu einer Zukunft im 21. Jahrhundert, die „Bombardierung zurück ins Steinzeitalter und …“ Das ist mir ehrlich gesagt zu „bombastisch“!

    Die Rückgewinnung des „Respekts“ für die wirklichen „Leistungsträger“ wäre in der Tat ein großer gesellschaftlicher Fortschritt. Das wäre die Chance, in dieser elenden „Faulenzerdebatte“ (Schröder, Clement, Müntefering, Struck u.a.)was zu verändern. Denn diese Sozialzote hat inzwischen, auch in Verbindung mit der Migrantendebatte, gerade im Arbeiter- und Angestellten-Milieu um sich gegriffen. Vorurteile und Vorverurteilungen sind durch Hartz IV und die oben namentlich genannte politische Schöpfergarde so richtig ins Leben gerufen worden. Sie wirken wie böse Geister, die man nicht mehr loswerden kann.

  25. @ Bertram Münzer, Jürgen Malyssek, all

    Insgesamt stimme ich Ihnen beiden zu.
    Vorneweg zwei Punkte, die zu präzisieren wären:

    Jürgen Malyssek: „Eine „positive Zukunftsperspektive“ ist nicht vernagelt, wenn der Blick auch in die Vergangenheit geht.“
    Natürlich nicht. Selbstverständlich ist Aufarbeitung der Vergangenheit notwendig. Tun wir in Sachen Faschismus auch seit über einem halben Jahrhundert.
    Es kommt aber darauf, von wem und wie das geschieht. Selbst die 68er haben mit persönlichen Attacken auf ihre Eltern so gut wie nichts erreicht. Dagegen haben sich viele Dokumentationen, beginnend etwa mit Film „Holocaust“, als ausgesprochen wirksam erwiesen.
    Aufarbeitung der Vergangenheit ist primär Angelegenheit von Historikern, beim Beispiel Hartz 4, etwa auch von Wirtschaftswissenschaftlern. Das dauert Jahrzehnte, ist nur langfristig wirksam. Für grundlegende Weichenstellungen für die Zukunft freilich unerlässlich.
    Politiker aber müssen auch kurzfristig handeln, oft ohne ausreichende Kenntnis von Hintergründen. Da sind Fehler und Irrtümer eingeschlossen. Das ist Gegenstand für politische Diskussionen und Auseinandersetzungen, nicht für persönliche Abrechnungen oder gar „Tribunale“ – ausgenommen natürlich verbrecherische Handlungen.

    Bertram Münzer: „Doch sie (die SPD) bleibt an der Oberfläche, stellt nicht in Frage, wie wir heute wirtschaften und leben.“
    Das muss nicht zwangsläufig so sein, auch nicht bei einer GroKo. Ich werde das am Beispiel der Renten-Initiative von Hubertus Heil ausführen.

    Gern nehme ich die Forderung von Bertram Münzer nach einem „völlig anderen Menschenbild“ auf:
    „Gefragt ist der risikofreudige Performer, der Risiken eher als Herausforderung, denn als Bedrohung begreift. (…) Der sich in den Mittelpunkt stellt und zur Hauptsache erklärt. Der Solidarität auch als Einschränkung, gar als Freiheitsbeschränkung empfindet, und sie auf das Notwendigste beschränkt wissen will.“

    Ich ergänze dem entsprechend meine Grundprinzipien für eine „positive Zukunftsvision“, „Gerechtigkeit“ und „Glaubwürdigkeit“ (http://frblog.de/buergergeld-2/#comment-53126) durch zwei weitere: solidarisches Menschenbild“ und „Partizipation“.

    „Solidarisches Menschenbild“:

    Die sozialen und ökonomischen Hintergründe des „Abschieds vom Sozialstaat alter Prägung“ hat Bertram Münzer klar zusammengefasst:
    „Es kamen Hartz IV, Billigjobs, Zeitarbeit, eine Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, eine Kürzung der Renten, eine Ergänzung der solidarischen Rentenversicherung um eine kapitalgestützte Säule und last but not least eine sich immer weiter spreizende Ungleichheit zwischen Arm und Reich.“

    Das dem entsprechende Menschenbild findet seine Entsprechung insbesondere in der von FDP verbreiteten Ideologie von „Leistungsträgern“ (unter den oberen Zehntausend) einerseits, in der Behauptung von der „Neidgesellschaft“ andererseits – projiziert auf die untersten Gesellschaftsgruppen.
    Ich habe oben ausgeführt, dass das Konzept der „Respektrente“ dieses pervertierte Verständnis Begriff „vom Kopf auf die Füße stellt“.
    Das ist exakt im Sinne eines (wieder) zu fordernden „solidarischen Menschenbilds“ gemeint.
    Allerdings meine ich (anders als Herr Münzer), dass dies nicht „an der Oberfläche bleibt“. Dass ihm durchaus systemüberwindende Kraft innewohnt, wenn es ernst gemeint ist, entsprechend der Erklärung von Hubertus Heil:
    „Deshalb soll es auch keine Bedürftigkeitsprüfung geben. Schließlich geht es nicht um Almosen, sondern um Lebensleistung.“ (Interview mit der „Rheinischen Post“)

    Die Vorstellung des „Almosens“, die auch Hartz-IV zugrunde liegt, stellt einen Rückfall in frühkapitalistisches Denken dar. Nach Marxscher Definition: Der Mensch als „Anhängsel der Maschine.“
    Mit der Anerkennung der „Lebensleistung“ wird diese Abhängigkeit durchtrennt. Der fiktive Tauschwert als Maßstab der Leistung wird auf den realen Wert zurückgeführt: der Beitrag des Menschen innerhalb der Solidargemeinschaft.
    Freilich hat dies zwei Voraussetzungen:
    (1) Der Verzicht auf „Bedürftigkeitsprüfung“ ist als Essential der Reform anzusehen, ggf. auch als wesentliches Kriterium für die Fortsetzung der Koalition.
    (2) Dieses Prinzip einer solidarischen Leistung ist, über das Rentenrezept hinaus, auch anderen Reformen zugrunde zu legen, insbesondere dem noch ausstehenden Ersatz des geltenden Hartz-IV-Systems.

    „Partizipation“:

    In einer interessanten Dokumentation auf „Phoenix“ über den Diskussionsstand über „bedingungsloses Grundeinkommen“ in verschiedenen Ländern wurde Folgendes festgestellt:
    Lange Zeit verlief die Entwicklung des Werts von Kapital und Arbeit annähernd parallel. Seit etwa 10 Jahren stagniert der Wertanteil der Arbeit, während der des Kapitals exponentiell in die Höhe schnellt.
    Dies ist zweifellos der Hauptgrund für die zunehmend auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich.
    Aber es ist nicht nur eine soziale Frage: Es bedeutet zugleich eine rasant zunehmende Umverteilung der Macht nach oben, eine Einschränkung bis ein Verschwinden der Möglichkeiten der Partizipation nach unten. In letzter Konsequenz die Umwandlung der Demokratie in Oligarchie.

    Soziale Absicherung als Grundlage für Partizipation ist auch der Grundgedanke, welcher der Forderung nach „bedingungslosem Grundeinkommen“ zugrunde liegt. Eine Diskussion, die erstaunlicherweise in der Schweiz, sogar in Namibia sehr viel weiter gediehen ist.
    In Namibia, wo dies als Experiment sogar schon eingeführt wurde, konnte so auch nachgewiesen werden, dass das Prinzip der Sanktionen, dem zugrundeliegenden negativen Menschenbild entsprechend, irrig ist. Nicht nur hat es zu erhöhter Arbeitsbereitschaft geführt, auch hat die erhöhte Kaufkraft die Wirtschaft des Landes belebt.

    Mir scheint, dass längerfristig die richtige Antwort auf rasant fortschreitende Digitalisierung in dieser Richtung liegt: Ein Roboter ist nicht Produkt des Eigentümers an Produktionsmitteln, sondern eine Leistung der Gesamtgesellschaft. Der dementsprechend auch gesamtgesellschaftliche Partizipation zu gewährleisten hat.
    Vielleicht noch Zukunftsmusik. Die Weichen in diese Richtung sind aber jetzt zu stellen.

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