Zu wenig Lyrik in öffentlichen Räumen

Gomringer.

Dieses Gedicht des bolivianisch-schweizerischen Dichters Eugen Gomringer (* 1925) ziert (noch) die Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf, wo Sozialarbeiter, Kinderpädagogen und Pflegemanager ausgebildet werden. Zusammen mit dem Haus für Poesie vergibt diese Hochschule einen Poetik-Preis. 2011 war Eugen Gomringer der Preisträger. Sein Gedicht sorgte jedoch für Unmut unter den Studierenden, die darin patriarchale Traditionen reproduziert sahen und sehen. Es gab zum Teil heftige Diskussionen auch im Zuge der Sexismusdebatte und #MeToo.

Nun könnte man natürlich einfach sagen: Deutschland muss es wirklich gut gehen, wenn es sich solche Debatten erlauben kann. Das ist aber nicht der Punkt, sondern hier geht es um Kunst im öffentlichen Raum und damit um das Selbstverständnis der Deutschen. Um dasselbe Thema geht es im Prinzip auch bei jeder neuen Skulptur, jedem Denkmal und auch jedem neuen Brunnen, die irgendwo aufgestellt werden. Die aber ohne Worte mit ihren Betrachtern kommunizieren und daher große Projektionsflächen bieten für das, was unter Umständen in sie hineininterpretiert werden kann. Ein schriftliches Kunstwerk wie etwa das Gedicht „avenidas“ scheint da eindeutiger, auch wenn es ebenfalls Interpretationsspielraum lässt. Die Frage ist nun: Wie geht man mit diesem Spielraum um? Nutzt man ihn, um Debatten zu führen, die Denkanstöße generieren? Also: Erträgt man eine gewisse Spannung oder gar Provokation? Oder erträgt man sie nicht und lässt übermalen? Wenn das Gedicht wirklich sexistisch sein sollte, bietet es Anlass zur Reflexion. Ist es erst einmal entfernt, ist auch dieser Anlass verschwunden.

Vor drei Wochen fiel die Entscheidung: Die Fassade soll renoviert werden, anschließend werde ein anderes Gedicht einer anderen Preisträgerin darauf erscheinen. In der Begründung dieses Entschlusses des Akademischen Senats der Hochschule steht nichts von den wahren Hintergründen für diese Entscheidung. Man ist offenbar die Debatte leid. Damit ist diese Debatte aber noch nicht vorbei, denn sie ist längst auf ganz Deutschland übergesprungen und fand auch schon Eingang in die ARD-„Tagesthemen“. Zugespitzt könnte man sagen, Deutschland frage sich, ob jetzt wieder Bücher verbrannt werden? Oder wie weit es davon noch entfernt ist?

„Die Affäre um das Gedicht von Eugen Gomringer ist das traurige Beispiel einer zugespitzten Kampagne, in der schließlich jegliches Augenmaß für die Bedeutung von Kunst und einen souveränen Umgang mit ihr im öffentlichen Raum abhandengekommen ist“, schreibt FR-Autor Harry Nutt in seinem Kommentar „Ignoranz und Unbelehrbarkeit„. Und die Tochter des Dichters, Nora Gomringer, gab der FR ein lesenswertes Interview.

Positiv denkende Zeitgenossen könnten vielleicht sagen: Wie schön, es wird über ein Gedicht gestritten – wie lange hatten wir das nicht mehr? Nun, so lange ist es zwar noch nicht her, dass Günther Grass mit seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ eine große Debatte auslöste, aber dabei ging es ja auch um Israel. Hier aber geht es nur um ein Gedicht, einen beschädigten Dichter, einen beschädigten Lyrikpreis und das Selbstverständnis einer deutschen Hochschule mit überwiegend weiblichen Studierenden, die nicht bereit waren, diese Spannung auszuhalten.

Balken 4Leserbriefe

Thomas Fix aus Frankfurt meint:

„Frau Gomringer hat so recht und spricht mir – und hoffentlich vielen Menschen auch – aus dem Herzen, wenn sie sagt: Es gibt inhaltlich nichts zu beanstanden an dem Gedicht! Warum auch? Die Tradition, Straßenszenen zu beschreiben- auch in Lyrik- haben schon Walt Whitman und Fernando Pessoa gekannt und sicher sind dabei auch mal Frauen erwähnt worden. Wie hätten denn die Damen der Hochschule reagiert, wenn genau derselbe Text von einer Frau geschrieben worden wäre? Wäre dann die Empörung und die Heuchelei dieselbe gewesen? Und überhaupt: Kunst im Öffentlichen Raum in Deutschland ist nicht so häufig, wie in anderen Ländern, vor allem in südlichen. Wenn, dann sind es zumeinst Skulpturen und Installationen, Lyrik ist eher selten. Man sollte also schon von daher froh sein, dass Literatur und gerade die so verkannte Gattung Lyrik öffentlich und kostenlos für jedermann zu genießen ist! Richtig ist auch, wie es Frau Gomringer beschreibt, dass sich im Süden die Völker weniger echauffieren über solch ein Gedicht; vielleicht, weil Lyrik dort eher im Alltag und im Leben der Menschen vorkommt? Vielleicht aber auch, weil es- und auch hier hat sie recht- etwas durchaus transzendentes hat. Die Frage, was ist der laufende Passant da draußen, der Mensch, die Straße, welchen Sinn das alles hat, dass fragte sich schon Pessoa mit dem berühmten Rücken eines vor ihm laufenden Mannes ebenso wie viele Anthropologen. Wenn wir uns schon wegen eines harmlosen Gedichtes eines großen Lyrikers so aufregen, wo bleibt die Aufregung wegen all dem Hass gegen die Kleinen, Armen, Kranken, die Ausgestoßenen der Gesellschaft? Das wäre dann wieder ein eigenes Gedicht an der Wand einer Universität wert.“

Alexander Rajkovic aus Oberursel:

„Vor einiger Zeit las ich in der Zeitung von einem etwa elfjährigen Mädchen berichtete, das stolz darauf war ein Mädchen zu sein, weil Mädchen schöner und klüger seien als Jungs. Dass dann auch die erwachsenen Mädchen schöner sind als Männer bestätigt ein Blick in jede Menschenansammlang. Und da man, wie ich finde, Schönheit bewundern soll, kann eine solche Bewunderung von seiten eines Mannes und Dichters nur gutgeheißen werden.
Das heißt: Jede Hauswand sollte stolz darüber sein, die Aussage Gommringers über „flores und mujeres“ zu tragen! Bei „avenidas“ allerdings hätte ich da meine Zweifel.  Ein ganz anderer Aspekt der Sexismus-Debatte ist die möglicher Verunsicherung des deutschen Mannes mit der Folge einer Verringerung der Geburtenrate in deutschen Landen.“

Claudia Wegmann aus Krefeld:

„Soziale Arbeit ist eine Profession in der sich überwiegend Frauen in Beschäftigungsverhältnissen befinden und dennoch in der Mehrzahl Männer Führungspositionen bekleiden. Eine Profession, die explizit ein zugeschriebenes Menschenrechtsmandat vertritt und die eben nicht dazu ausgebildet wird, Kopfläuse aus Kindergärten zu entfernen, sondern wissenschaftlich begründet ihr Dreifach-Mandat handlungsorientiert umzusetzen. Eine solche Profession kommt erst dann in die Debatte, wenn es nicht direkt um sie und ihre prekäre Situation im beruflichen Kontext geht, sondern um künstlerische Eitelkeiten und Interpretationsbelehrungen.
Die Entfernung des Gedichtes „Avenida“ ist eine Absage an an die Existenz Gottes? Nein, der Wunsch das Gedicht dort zu positionieren wo es vielleicht seine theologische Intention in einen entsprechenderen Kontext setzt- und das mit Vehemenz, also vielleicht am Kölner Dom- zeigt nur das eine: Vielleicht sollte hier Kunst nicht in narzisstischer Kränkung vergehen, sondern sich mit den Beteiligten solidarisieren – mit der Situation sozialer Arbeit. Vielleicht ist es an der Zeit, dass Kunst und Künstler sich tiefergehend mit den gewandelten Inhalten einer wissenschaftlichen Profession auseinandersetzen, um deren Reaktion in ganzer Bandbreite zu verstehen. Kunst, Künstler und kulturbeflissenes Bildungsbürgertum dürfen proklamieren, wie schlicht doch das Verständnis gegenüber „avenidas“ ist. Vielleicht sollte man hier mal aus seiner eigenen, schlichten Nabelschau heraustreten und sich die Mühe machen, selbst in eine Auseinandersetzung mit Inhalten zu gehen, nämlich denen Sozialer Arbeit. Wie wäre es sich zu solidarisieren? Wollen nicht beide “etwas sichtbar machen“?
Es geht hier nämlich nicht um ein Gedicht, es geht hier darum dass es dort wo es steht weder sich selbst noch der sozialen Arbeit dient. Verständnisfragen funktionieren immer in beide Richtungen aber das wäre wohl zu viel verlangt. Da ist es schon einfacher, auf dem Sockel kultureller Überlegenheit, jede Anstrengung und Einarbeitung in andere Konstrukten von Oben, durch ( vermeintlich) wissende Überheblichkeit gleich ganz abzuschütteln. Gott sei dank ist das dann keine Absage an eine göttliche Existenz, sondern lediglich an das Vorhandensein einer intellektuellen Kompetenz von Sozialarbeitern. Das wiederum scheint dann doch keinen Aufschrei wert.“

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8 Kommentare zu “Zu wenig Lyrik in öffentlichen Räumen

  1. Bewunderung ist eine Form der Aneignung, die ihr Objekt nicht beschädigt oder zerstört. Sie nimmt es nicht einmal in Besitz. Sie genießt nur, da zu sein und sich daran zu freuen.
    Catherine Deneuve war und ist ein Objekt der Bewunderung, und wer wollte ihr verdenken, dass sie das zeitlebens genossen hat? Sie ist selbstsicher und ohne Zweifel erwachsen. Und sie hat diese kleine Beziehung zu einem Mann klar abgegrenzt von jedwedem Übergriff.
    Ich habe einmal einer Bekannten, die viel jünger ist als Deneuve (und als ich selbst) meine Bewunderung ausgedrückt. Bei einer Unterhaltung unter vier Augen habe ich sie beiläufig gefragt, ob sie keine Angst habe. Sie hat gelacht und gesagt: Kann ich mich nicht wehren? Ich kann es! Aber es gibt keinen Grund dazu. So konnte sie meine Bewunderung genießen, die ihre Sinnlichkeit anerkannte, und ich ihre Gegenwart. Wie Deneuve war sie selbstbewusst und damit auch längst erwachsen.
    Das Spannungsfeld männlichen Begehrens gegenüber einer Frau mag von gewalttätiger Inbesitznahme bis zu stiller Bewunderung reichen. Irgendwo daneben liegen Gleichgültigkeit und hässlich zum Ausdruck gebrachte Verachtung. Gomringer hat in diesem sehr weiten Feld eine Stelle besetzt, die für Frauen wie Männer, die sich von seinen wenigen Zeilen angesprochen fühlen, wohltuend wirkt: eine zurückhaltende Huldigung, die durchaus abgelehnt oder übergangen, aber auch souverän genießend angenommen werden kann. Wer das einmal gespürt und wahrgenommen hat, kann ermessen, dass Gomringer hier gerade wegen der radikalen Beschränkung auf wenige Worte ein kleines Meisterwerk der Poesie gelungen ist.
    Im Sexualkundeunterricht in der Schule werden manchmal Jungen und Mädchen getrennt, damit sie unbefangener über ihre Fragen reden können. Dabei muss es nicht nur um Biologisches gehen, anhand eines solchen Gedichtes könnte auch die Beziehung zwischen Männern und Frauen diskutiert werden: Jungen, die eben noch auf dem Schulhof Wörter wie „Fotze“ und „Schlampe“ benutzt oder gehört haben, könnten erfahren, dass man Frauen auch und viel besser poetisch begegnen kann, Mädchen aber, dass sie genau das erwarten dürfen und einfordern können.
    Die Kritikerinnen von Gomringer wissen natürlich auch, dass sich das männliche Begehren weder abschalten noch durch die Löschung seines Ausdrucks unterdrücken lässt. Warum auch, es ist doch schön? Schlimm und dumm ist aber, dass sie und vielleicht die eine oder andere Protagonistin der absolut berechtigten und sehr verdienstvollen Metoo-Kampagne nicht begreifen, dass so ein Gedicht einen Weg zeigt weg von männlicher Stärke und Gewalt hin zu (nicht weniger männlicher!) Einfühlsamkeit und Poesie.

  2. @ Jan Prediger

    Da ich ich es nicht annähernd so ausdrucksstark hätte sagen können wie Sie oben, schließe ich mich ganz ideell Ihrem Kommentar an.
    Durch die Kritik an dem Gedicht des E. Gomringer und die Konsequenzen, die an der Hochschule gezogen werden, zeigt sich wie unausgegoren weiterhin Teile der Sexismusdebatte sind und wie verquast das Verhältnis von Mann und Frau zwischen Bewunderung, Anziehungskraft, Begehren.

    Dass die Entfernung des Gedichts dann auch noch an der Alice-Salomon-Hochschule für Sozialarbeit passiert, ist deprimierend.

  3. Finde an dem Gedicht nichts, was mich stört und ja, die Debatte schlägt an der ein oder anderen Stelle in eine mir nicht mehr verständlichen Richtung aus. Aber sollte es nicht Frau überlassen sein zu artikulieren was sie stört und nicht schon wieder von Mann erklärt bekommen, wo sie falsch liegt und wie sie das Gedicht zu verstehen hat?
    Und ob das männliche Begehren schön ist, wie Herr Prediger das ausdrückt, ist doch auch dem Empfinden der Frau überlassen.

    Und lieber Herr Malyssek, die augenblickliche Debatte ist noch sehr jung, geben sie ihr doch die Chance in ein beide Seiten berücksichtigendes
    Fahrwasser zu kommen. So verquast ist es meiner Meinung nach nicht.
    Vielleicht steht die junge Frau von heute auch nicht auf eine poetische Verpackung des Begehrens.

  4. @ Anna Hartl

    Ja, Frau Hartl, gebe gerne, auch der Debatte, eine Chance.

    Zumindest sehe ich bei dieser Debatte die Gefahr, dass es in die Richtung einer Über-Correctness geht – überhaupt so ein Phänomen der Zeit.

    Es hat ja die Tochter des Dichters was Befreiendes gesagt.
    Sie (also Frau Gomringer) und Herr Prediger haben das sowieso viel besser ausgedrückt als ich.

  5. Ich persönlich möchte Männern weiter die Freiheit zugestehen, Frauen anzuschauen und zu bewundern.Ich selbst habe mich immer darüber gefreut, wenn mir männliche oder auch weibliche Mitmenschen ihre Bewunderung signalisiert haben. Das hat für mich nichts mit Sexismus zu tun. Bewunderung, höflich und achtungsvoll ausgedrückt, halte ich für eine positive zwischenmenschliche Äußerung.

  6. Ich dagegen habe viele Jahre dazu gebraucht, Bewunderung oder freundliche Komplimente annehmen zu können. Immer misstrauisch, ob da nicht doch Abwertung dahinter stecken könnte oder Reduktion auf das Äußerliche….
    Zu Frau Wegmann: Sie haben recht, mit der Profession der Sozialarbeite*in hat das Gedicht nicht das Geringste zu tun! Aber gerade das ist doch schön! Soll sogar ein Gedicht noch so reduziert sein auf das Funktionale und Professionelle? Kann es nicht auch etwas zeigen, das jenseits dessen liegt? Wie wäre es z.B. mit dem Kleinen Prinzen? Oder Romeo und Julia? Gibt es nicht auch die Notwendigkeit über den begrenzten Rahmen des professionellen Daseins immer wieder hinaus zu blicken?

  7. Frau Wegemanns Beitrag erinnert mich an die Forderungen an den Deutschunterricht in den 70er Jahren. Das einzige Kriterium für die Auswahl der im Unterricht zu behandelnden literarischen Texte war damals deren „gesellschaftliche Relevanz“. Ich bin froh, dass die Didaktik mittlerweile von dieser sehr engen Sichtweise abgerückt ist.

  8. Ohne meine eigenen literarischen Fähigkeiten mit denen zu vergleichen, die Eugen Gomringer zweifelsohne besitzt, lässt sich dennoch sagen, dass Dritte dessen in Rede stehendes Gedicht wenigstens nicht in aller Öffentlichkeit als „Geschwurbel“,“dummes Geschwätz“ oder „heiße Luft“ bezeichnen, weil solch völlig beliebige Herabwürdigungen sich normalerweise allein auf meine Person beziehen.

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