Teebettler bei den Engländern

Von Peter Sohr

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Meine Erfahrungen nach der mehrmonatigen Flucht mit Mutter und zwei jüngeren Schwestern:

Nach etwa zweimonatiger Flucht aus Komotau (heute Chomutov in Tschechien) trafen meine Mutter mit uns drei Kindern (7, 6 und 3 Jahre) Mitte Juli 1945 in Berlin ein, wo sich meine Eltern bei Tante Käthe, einer Schwester meiner Mutter, für den Fall verabredet hatten, dass sie sich in den zu erwarteten Wirren der Nachkriegszeit aus den Augen verloren haben würden. Unser Vater war – wie wir später erfuhren – in polnische Kriegsgefangenschaft geraten. Glücklicherweise hatte die Tante in ihrer Mietwohnung in Eichkamp den Krieg überlebt und nahm uns in einem Zimmer auf.

Peter 44Eichkamp kam bei der Teilung Berlins im Potsdamer Abkommen zum britischen Sektor und wir wohnten nicht weit von einem Militärlager der „Tommies“. Da die Versorgungslage in dieser Zeit erbärmlich war, wurden wir älteren Kinder von unserer Mutter auf Entdeckungsjagd nach Essbarem geschickt.

Peter Sohr (links)
im Jahr 1945
nach der langen Flucht.

Wie froh waren wir, als wir herausfanden, dass die Engländer hinter ihrem Maschendrahtzaun durchaus für unsere pantomimischen Versuche ansprechbar waren und uns aufforderten, beim nächsten Besuch ein Gefäß mitzubringen. Mit unserer Mutter und voller Erwartung auf eine Überraschung kamen wir bald wieder und waren hocherfreut, als wir mittels einer von den Militärs mitgebrachten Schnur unsere Milchkanne hin- und zurück über den Zaun befördert sahen, gefüllt mit warmem Tee mit viel Zucker und Milch. Leider war diese Versorgungquelle nicht immer verlässlich und versiegte nach ein paar Wochen ganz – vermutlich wegen einer Versetzung des uns so zugeneigten Soldaten. Erfahren haben wir dabei eine unerwartete Freundlichkeit durch den Vertreter unseres bisherigen Feindes, die die sonst uns gegenüber geübte skeptische Haltung der ansässigen Deutschen weit übertraf.

Ein anderes Beispiel der unerwarteten Freundlichkeit der britischen Feindesvertreter: Ebenfalls in Eichkamp war ein offensichtlich höherer Militär mit seiner Ehefrau in einem requirierten Privathaus einquartiert, zu dem meine Mutter Kontakt bekommen hatte – wahrscheinlich durch Übernahme irgendwelcher Näharbeiten. Ich wurde jedenfalls über mehrere Wochen jeweils zum Mittagessen bei Frau Oberst eingeladen und erhaschte so einen Einblick in ein mir paradiesisch erscheinendes Leben. Meine Mutter, die uns sonst kaum einmal etwas mehr als die gefürchtete Heringsschwanzsuppe mit Kartoffelschalen vorsetzen konnte, verschaffte offensichtlich mit diesem „Geschäft“ wenigstens einem in der Familie – mir – eine verbesserte Kalorienaufnahme! Außerdem kam ich in den unvergesslichen Genuss, mit den Modellautos des Oberst spielen zu dürfen und dazu „Cadbury“ – Schokolade zu naschen.

Als ich einige Jahrzehnte später – während des Völkermords in Ruanda und Burundi – im Rahmen eines Erwachsenenbildungsprogramms in Uganda arbeitete, wurde ich oft u.a. auch von Flüchtlingen aus den Nachbarländern gefragt, ob ich mir überhaupt vorstellen könnte, was dieses aktuelle Problem überaupt bedeutete. Ich glaube, zum ersten Mal erzählte ich spontan, wie es mir und meiner Familie als Flüchtlinge damals selbst erging. Niemand meiner damaligen afrikanischen Gesprächspartner hätte es für möglich gehalten, dass dieser europäische Berater Ähnliches erlebt hatte wie einige unter ihnen. Diese „Gemeinsamkeit“ hat viel Vertrauen und Positives bewirkt… und letztlich dazu beigetragen, dass mich die Flüchtlingsproblematikl bis heute und ganz aktuell hier nicht los lässt. So schliesst sich der Kreis.

Peter Sohr, geboren 1937 in Landeck (heute polnisch Lędyczek),
Grenzmark Posen-Westpreußen, lebt heute in Ratzeburg.

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