Eine Willkommenskultur ist mir nicht erinnerlich

Eine Willkommenskultur ist mir nicht erinnerlich

von Jürgen Malyssek

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Es war schwierig, immer wieder neu ankommen zu können. Orts- und Schulwechsel als Lebensweg.

Ich bin als Soldatenkind* einer norwegischen Mutter und eines deutschen Vaters in Norwegen geboren, am 31. August 1945 im Internierungslager für vormals stationierte deutsche Soldaten in der Lazarett-Reservation 54, Hönefoss-Süd, Bezirk Oslo. Mein Vater stammte aus Birkenhain-Beuthen/Oberschlesien. Meine Mutter ist in Oslo geboren. Beide heirateten 1945 in Eggemoen vor dem richterlichen Militärjustizbeamten beim Feldgericht der deutschen Luftwaffe.

Strandleben 1948 mit VaterAls mein Vater Dezember 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war und nicht mehr zurück in seine polnisch besetzte Heimat konnte, ließ er sich zunächst zu Verwandten nach Hamburg entlassen (registriert durch die Sonderdienststelle für Durchreisende), bis zum Eintreffen meiner Mutter. Es folgte eine Odyssee als Flüchtlingsfamilie über Hamburg nach Schleswig-Holstein bis in den Südwesten Deutschlands. Meine Mutter war als Norwegerin nach Kriegsende praktisch eine Heimatlose. Die Liaison einer norwegischen Frau („tyskepiker“) mit einem deutschen Besatzer-Soldaten war ein großer Makel und bedeutete für lange Zeit gesellschaftliche Verachtung. Ein Zurück nach Norwegen wollte ihr nie mehr richtig gelingen und eine Integration in Deutschland hat nie wirklich stattgefunden.

„Strandleben“ mit Vater im Jahr 1948
Foto: privat

Ein Ankommen von mir in einer festen bestimmten Heimat und Zugehörigkeit war immer eine von Unsicherheit geprägte Suchbewegung, was einerseits im Laufe der Zeit eine weitestgehende Distanz zum Mutterland Norwegen mit sich brachte und andererseits eine wirkliche Zugehörigkeit zu Deutschland nie ganz ermöglichte. Letztlich eine Frage der Identitätsbildung.

Strandleben 1948 mit MutterZurück zum Ausgangspunkt: 1945/46 bin ich zeitweise bei den Großeltern mütterlicherseits in Oslo und im zerbomten Hamburg aufgewachsen. 1947 Übersiedlung nach SchleswigHolstein (damals britische Zone) an den Stakendorfer Strand, Kreis Plön, „Haus am Meer“, in ein Hotel, das zu Flüchtlingswohnungen umfunktioniert worden war. Dort lebten wir bis 1949.

„Strandleben“ mit Mutter 1948
Foto: privat

Die norwegischen Verwandten schickten uns in dieser bitterarmen Zeit Lebertran, der für meine Ernährung sehr wichtig wurde. Ich hielt mich tagsüber als kleiner Junge sehr viel am Stein- und Kieselstrand gegenüber vom Flüchtlingshotel auf, hatte Zeit zum Spielen und sammelte Strandkoks als Brennmaterial in meinem selbstgenähten Stoffsäckchen. Ich muss es als eine freie, vielleicht auch unbeschwerte Zeit empfunden haben. Dieses Strandleben ist bis heute emotional haften geblieben.

1950 dann die nächste Übersiedlung nach Rheinland-Pfalz in das Dorf Hahnenbach, bei der Kreisstadt Kirn/Nahe (damals französische Zone). Im ersten Jahr waren wir in einem Bauernhaus in einem Zimmer untergebracht. Im zweiten Jahr wurde in der Hauptstraße ein Mietshaus für Flüchtlinge gebaut, in dem wir dann etwa ein Jahr lebten. In diesem Jahr, nachdem er zunächst in Kirn einige Zeit als Bademeister im dortigen Freibad arbeitete, bekam mein Vater eine feste Stelle bei den amerikanischen Streitkräften in Baumholder/Nahe (damals eine der größten Truppenübungsplätze in Deutschland) in der Office oft the Commissary.

Übrigens ist mir eine „Willkommenskultur“ aus der Zeit unserer verschiedenen Unterbringungen für Flüchtlinge nicht in Erinnerung.

FlüchtlingsausweisDie späteren Stationen zur Verbesserung der Familiensituation – auch nachdem mein Bruder 1955 zur Welt gekommen war – waren Idar-Oberstein (meine erste Einschulung mit fast sieben Jahren), Baumholder und Birkenfeld/Nahe, jeweils in den typischen Siedlungen der 1950er/60er Jahren auf Basis des sozialen Wohnungsbaus.

Ein unruhiges Leben mit vielen Standortwechseln und Besuchen bei den Familienangehörigen in Norwegen in den 1950ern/60ern.

Foto: privat

Mein Vater nahm sich 1967 im Alter von 52 Jahren in Wiesbaden das Leben. Meine Mutter starb mit über 93 Jahren an Demenz erkrankt in Hamburg.

Liest man die noch auffindbare Briefpost von meinen Eltern aus der Zeit der frühen Umsiedlungen, dann spiegelt sich vieles wider, was meine Eltern an harten Existenzkämpfen und persönlichen Problemen im Nachkriegsdeutschland zu bestreiten hatten: Familie zusammenhalten, Wohnen, Armut, Hunger, Arbeitslosigkeit  (Obst und Kartoffel-Klauen auf Wiesen und Feld gehörten auch zur Alltagsbewältigung). Dann die teils schreckliche Zeit – vor allem emotional – meiner Mutter als Norwegerin im fremden Land.

Ein Großteil meines Berufslebens war die Arbeit mit Wohnungslosen (früher genannt „Nichtseßhafte“). Kein Zufall. Die Schatten, und wenn man so will das Erbe der Vergangenheit, die uns bis heute in die weiteren Generationen geblieben sind und die beim Nachdenken darüber immer deutlicher werden: Die Anwesenheit des Vergangenen in der Gegenwart.

malyssek-heute*) Aus der deutschen Besatzung Norwegens zwischen 1940-45 sind dort schätzungsweise zwischen elf- bis zwölftausend Soldatenkinder geboren worden, auch in den dortigen Lebensborn-Heimen (Heinrich-Himmler)

Jürgen Malyssek. Jahrgang 1945. Sseit 1964 in Wiesbaden lebend.
Gelernter Industriekaufmann und Schriftsetzer.
Von 1980-2005 Sozialarbeiter und Fachreferent in der Wohnungslosenhilfe
und Schuldnerberatung in Mainz und Limburg. Seit Dienstende engagiert
in Fragen Armut und sozialer Ausgrenzung.
Verheiratet und ein Sohn (32 Jahre). Muttersprache Norwegisch.
Foto: privat

 

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2 Kommentare zu “Eine Willkommenskultur ist mir nicht erinnerlich

  1. Sehr geehrter HerrMalyssek,

    so wie Sie nehme ich die „Anwesenheit des Vergangenen in der Gegenwart“ durch meine Recherchen in der Lebensgeschichte meiner Familie wahr. Die Erkenntnisse werden immer ausgeprägter und sind zeitweise überraschend und / oder schmerzhaft. Die Auseinandersetzung mit der Thematik hat mir sehr geholfen, meine eigene Geschichte besser einzuordnen. So bin ich sehr glücklich, als Nachkriegskind im Frieden leben zu können.

  2. Sehr geehrter Herr Malyssek , sie haben am 20.5. In der FR einen Leserbrief veröffentlicht. Darin haben Sie auf ein Buch verwiesen. Könnten Sie mir bitte dieses Buch nennen. Im übrigen hat mir ihr Lesebrief aus der Seele gesprochen : “ es gibt kein richtiges Leben im falschen „.

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