Wir diskutierten ernsthaft, ob wir Privatbesitz in der WG zulassen konnten

Frankfurter Rundschau Projekt

Wir diskutierten ernsthaft, ob wir Privatbesitz in der WG zulassen konnten

Von Wilmar Steup

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1951 geboren, etwas spät dran für die „68er Generation“. Ein später 68er, Sohn aus einer Land- und Gastwirtschaftsfamilie im Umland von Gießen. Ich, die Familie eher unpolitisch, oft berieselt vom Kneipengeschwätz mehr oder weniger alkoholisierter dörflicher Welterklärer.

Steup etwa 1968Ich besuchte, glücklich profitierend von den Diskussion und den Reformbestrebungen im Bildungsbereich der 60iger Jahre, als zunächst einziger meiner Volksschulklasse eine weiterführende Schule, ein Jungen-Gymnasium in Gießen. Die Diskussion um die im April 1968 verabschiedeten Gesetze zum „äußeren und inneren Notstand“ legten mit Schülerstreiks uind -demonstrationen (heute mit dem Thema Klima ein Hoffnungsschimmer zu unser aller „Anstoß) einen Kristallisationskern zur Politisierung des „Obersekundaners“. So erwachte für mich als Schüler des naturwissenschaftlichen Zweigs mein politisches Bewusstsein, wurde das Fundament für meine genauere Beschäftigung mit politischen, gesellschaftlichen Fragestellungen gelegt.

Bild: privat

Aufsetzen konnte dies bei mir auf den Aufbruch, die „aufrührerischen“ Auswirkungen der Pop-Musik. Es war die englische Musikwelle, die mit den Rolling Stones als wichtigen Fahnenträgern in die deutsche Schlagermusikwelt hereinbrach. Medium war einerseits die Schlagerbörse im hessischen Rundfunk, als nahezu einzige Jugendsendung. Andererseits bezog ich wöchentlich vom knappen Taschengeld per Post direkt aus England die Musikzeitschrift New Musical Express – statt der „Bravo“. Mit ihr war ich bestens informiert, sie war eine Art Vorläuferlektüre im Übergang zu politischen Zeitschriften, Büchern und unterstützte nebenbei mein Englischlernen.

Mit der Pop-Musik wurde im Gegensatz zu in dieser Zeit alltäglich spürbaren autoritären, konservativen Strukturen mit ihren Anforderungen an Verhalten und Aussehen ein Aufbruch zu neuen Formen, eine gewisse „Respektlosigkeit“ gegenüber dem Hergebrachten initiiert mit langen Haaren als äußerem Ausdruck. Das Lebensgefühl aus der Musikkultur dieser Jahre begleitete meinen Weg und meine Politisierung als ein für meine Sozialisation nicht zu unterschätzender Faktor. Ein Erinnerung an unser Lebensgefühl in diesen Jahren, ein „Pech“ unter dem ich und meine Mitschüler litten: Klassenfahrt nach London, für eine Woche zwischen dem eintrittfreien Hyde Park Konzert von Blind Faith 7 Juni 1969, und dem Konzert Rolling Stones am 5 Juli im Hyde Park zwei Tage nach dem Tod des Stonesmitgründers Brian Jones. (Was war dies für ein Blick über den Kanal, im Gegensatz zum heutigen Brexit dominierten…)

Die Frage nach dem Autoritären war zentrales Thema der 68iger, autoritär eines der Schlüsselworte, Schimpfworte gegenüber dem „Alten“: Ich habe es noch genau vor Augen, als ich an einem Morgen eine auf den Schulhof gepinselte „Schwarze Liste“, „Abschussliste“ der autoritärsten Lehrkräfte des Gymnasiums studierte. Vorneweg der verklemmte, verknöcherte, verhasste Lateinlehrer…. So etwas wäre noch kurze Zeit vorher undenkbar gewesen.

Mit der 68er-Bewegung begann eine Aufweichung der Initiation in verkrustete Strukturen. Für uns als sinnleere bewertete Rituale ablehnend, haben wir dann im Mai 1970 kollektiv unser Abiturzeugnis ohne Reden, ohne Feier, ohne Zeremonie in unserem Klassenzimmer an einem Vormittag entgegengenommen. Ein Versuch (des von uns durchaus positiv beurteilten Klassenlehrers), den Moment in seiner Bedeutung für unsere weiteren Biographien einzuordnen, lehnten wir ab. Wir wollten unser Zeugnis und gehen. In dieser Tradition habe ich meine Mitabiturienten in den nun vergangenen knapp 50 Jahren nur einmal getroffen. Eigentlich ein bisschen schade, ein Art „Kollateralschaden“ der 68er Zeit…

Zu den Errungenschaften von 68 sehe ich insbesondere die Suche nach anderen Lebensformen, damit mein langjähriges Leben in Wohngemeinschaften. Um Themen wie Türen aushängen, keine explizit Einzelnen zugeordnete Zimmer, Geld zusammenwerfen, „kein Privatbesitz“… drehten sich die Gespräche bei der Gründung der ersten Wohngemeinschaft. Befeuert wurden solche Überlegungen durch Bücher wie „Die Gruppe“ des Gießener Psychologen Horst Eberhardt Richter. Die Brötchen wurden dann doch kleiner gebacken und auch mit festen Zimmern und nur gemeinsamer Haushaltsführung und Haushaltskasse hatten wir schon genug Themenfelder für die endlosen Wohngemeinschaftsgespräche.

Schrittweise änderte sich im post 68iger Umfeld meine Vorstellung, womit ich einmal mein Geld verdienen will. Hatte ich mit einem Studium Ziel Diplom-Physik-Mathematik begonnen, so änderte ich nach 2 Jahren mit absolviertem Vordiplom das Ziel hin auf den Lehrerberuf. Zeitgeist gemäß nahm ich gegen Ende des Studiums noch das Zweitstudium Soziologie auf.  Ich wollte etwas (gesellschaftlich) „sinnvolles“ machen und Ziele wie kompensatorische Erziehung, Bildung, Chancengleichheit führten mich als Gymnasiallehrer an eine integrierte Gesamtschule. Ich brach das Zweitstudium ab – irgendwann musste man auch Geld verdienen, wenn die etwa 400DM Bafög ausblieben. Nach dem Referendariat nahm ich eine Stelle an einer Versuchsschule in einem sozialen Brennpunkt im Raum Hannover an. Hier war ein Ort an dem ich hoffte, im Sinne der Umsetzung meiner Ideen aus der 68er Zeit bezüglich erstrebenswerter schulischer Sozialisation von jungen Menschen wirken zu können. Das Klima in Hannover mit Thomas Ziehe („Der Neue Sozialisationstyp“) und Oskar Negt als Mitbegründern der alternativen Glockseeschule, den Gesamtschulen, Versuchsschulen im ansonsten „schwarzen“ CDU-Niedersachsen von Ernst Albrecht regiert, zog mich an. Auf die integrierte Ganztagsgesamtschule in Garbsen war ich durch meine spätere Frau, die von ihr abonnierte linke Zeitschrift „Päd-Extra“, aufmerksam geworden.

An der IGS Garbsen musste ich die „Mühen der Ebene“ in meinem „Gang in die Institutionen“ schmerzlich erkennen. Organisiert war die Schule im Teammodell mit etwa 10 Lehrerteams, die ihren Stundenplan selbst organisierten. Die Kinder des 5. und 6. Schuljahres – in dem ich neben der Oberstufe unterrichtete – lernten im Dschungel der Schule mit über 2000 Kindern wochenlang in allen Fächern an dem Projektthema „Wasser“, solange bis es allen Beteiligten sprichwörtlich aus den Ohren kam. Die Grenzen von schulischem Erziehungseinfluss, die Hartnäckigkeit ansozialisierter Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen aus dem Einzugsgebiet inklusive großem sozialen Brennpunkt in einer Hochhaus-Betonsiedlung, lebensmilieu-bedingten Hypotheken bestimmten den Schulalltag. Insbesondere meine nur eingeschränkte Kompetenz in der Arbeit mit „Problemschülern“ infolge der gymnasialen Ausrichtung meiner Lehrerausbildung führte bei mir zu wachsendem Unbehagen und auch Versagengefühl. Ich erlebt hier deutlich die Differenz zwischen meinen Ansprüchen und der alltäglichen Realität.

Anfang der 80iger Jahre zog ich mich dann auf das „einfachere“ Feld der schulischen Erwachsenenbildung zurück. Ich gab den Beamtenstatus in Niedersachsen auf und wurde Lehrer am Abendgymnasium Gießen. Hier wurde ich weicher mit der Spannung zwischen autoritär und positiver, angemessener Autorität in der Schule konfrontiert. Ich erinnere dazu eine Schlüsselsituation. Ein Studierender, wie die Lernenden genannt wurden, sprach mich eines Tages vorsichtig an – er befürchtete wohl mich als langhaarigen, alternativen Lehrer zu kränken – mein Verhalten als Mathematiklehrer gegenüber den teilweise älteren Lernenden halte er in Teilen für autoritär.

Es schreckte mich nicht sonderlich. Mit Wohngemeinschaftsjahren, gruppendynamischen Seminaren, Reflexionen über Lehrerrolle, Anstößen zu Selbsterfahrung, Selbstreflexion im antiautoritären Spontimillieu im Rücken diskutierte ich mit den Lernenden zusammen die Frage autoritär oder situationsangemessene Autorität in der Sache und der Person. So ließen sich für alle erträgliche Umgangsformen und Vorgehensweisen finden, die dem gemeinsamen Bemühen um das Ziel Abitur im traditionellen Schulumfeld der Institution Abendgymnasium gerecht wurden.

Die Tradition 68iger Ideen griff ich dann als junger Kollege „aufmüpfig“, aktenkundig von der Schulleitung als Rädelsführer eingeordnet, auch im Kollegium mit der Arbeit an der Entstaubung und Demokratisierung meiner neuen Arbeitsstelle auf. Mit zunehmender Anzahl jüngerer KollegInnen konnten wir dann mit Projektwochen Rüstung und Frieden, zu Problemen der Integration von Randgruppen, Ausländer, … an der Politisierung der konkreten Schulsituation arbeiten. Wir führten alternative Lernformen ergänzend zum Unterricht zusammen mit den Lernenden ein. Da wurden wir für unser Engagement schon mal verbal von bis dahin selbstzufriedenen Kollegen „nach drüben“ geschickt – wie zu dieser Zeit gegenüber missliebigen kleinen Rebellen durchaus üblich.

Informatikunterricht, informationstechnische Qualifizierung als schulische Antwort auf die inzwischen im Zuge der globalen Digitalisierung thematisierten Veränderungen wurden dann von mir als Informatiklehrer nicht nur als technische Projekte eingeordnet und unterrichtet. Grundlegend war für mich immer die Frage: Was bedeuten die neuen Technologien für unser gesellschaftliches und privates Leben? Nie war die Frage ist das „technicaly sweet“ – wie Oppenheimers Wahrnehmung des Atombombenprojekts – oder „Digitalisierung first, Bedenken second“ – wie in freidemokratisch „Lindner“-scher Zukunftssicht – Antrieb meines Handelns. Joseph Weizenbaums „Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“, die Bücher von Neil Postman, Hans Jonas, Günther Anders, Fragen der Technikfolgenabschätzung bildeten einen wichtigen theoretischen Hintergrund meines Lehrens von Informatik.

Mit 68 ist für mich ich auch zentral mein Verhältnis zur Frage von Geschlechterrollen, dem Umgang mit der Differenzen von Frauen und Männern verbunden. Es wurde entscheidend in dem studentischen Milieu der 70iger Jahre geprägt. Das Bemühen war und ist im persönlichen privaten und beruflichen öffentlichen Leben Gleichberechtigung zur Grundlage und zum Maßstab zu machen, Herrschaftssensibililtät, diesbezüglicher Herrschaftsabbau als gelebte Werte in meiner Familie, meinem gesamten Leben.

„Mein 68“ stößt auch Gedanken zu den Wirrungen und Irrungen an – von autoritären Ideologien in K-Gruppen, RAF bis unfassbaren Entgleisungen in Umfeld eigentlich fortschrittlicher pädagogischer Ansätzen wie in der Odenwaldschule. Die Odenwaldschule sehe ich auch befeuert durch die 68er Bewegung mit ihren heute in Teilen nur schwer oder nicht nachvollziehbaren Diskussionen über das Verhältnis Erwachsene und Kinder. Aber auch in Kenntnis solcher Auswüchse stellt 68 die wesentliche Basis für mein heutiges Verhalten, meiner Position in Bezug auf aktuelle Fragen (wie Migration, Klimawandel, politisches System, Radikalisierung, Populismus). 68 hat mich, der ich mich der undogmatischen Linken zugehörig fühlte, insbesondere nachhaltig hin zur kritischen Haltung gegenüber jeglichen Dogmen gebracht.

Ich sehe es als persönliches Glück, diese Zeit erlebt zu haben. Ich bin aber auch bedrückt bzgl. der riesigen Probleme infolge des gleichzeitigen Unvermögens, der Versäumnisse unserer Generation und der Generationen vor uns. Was haben wir zur Sicherung des (Über-)Lebens der Menschheit, menschenwürdiges Leben für alle heute lebenden Menschen und künftige Generation bzgl. Umwelt und demokratische Lebensverhältnisse im Einklang mit der Natur beigetragen?
Was wollten wir, was wurde?

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Steup heuteDer Autor

Wilmar Steup, Jahrgang 1951; 1970 bis 1975 Studium Mathematik, Physik, Soziologie in Gießen. Abschluss Lehramt an Gymnasien Mathematik-Physik; Weiterbildung Informatik; knapp insgesamt 40 Jahre als Mathematik-Physik-Informatik-Lehrer tätig; 15 Jahre Schulleiter an einer Schule für Erwachsene; Promotion im Bereich politische Bildung zum Mensch-Maschine-Verhältnis mit Schwerpunkt Künstliche Intelligenz; Vater zweier Töchter.

Bild: privat

 

 

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