Auf dem Leim der Tätersprache

Im Auftrag der Bundesbeauftragten zur Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs, Christine Bergmann, hat das Deutsche Jugendinstitut an mehr als 1100 Schulen, rund 300 Internaten und 100 Heimen Rektoren, Lehrer und Schülervertreter nach dem Umgang mit sexuell missbrauchten Kindern befragt. Das Ergebnis ist alarmierend: An fast jeder zweiten Schule (43 Prozent) wurden in den vergangenen drei Jahren Verdachtsfälle auf sexuellen Missbrauch gemeldet. Dazu kamen fast 40 Prozent der Internate und mehr als 70 Prozente der Heime. Vier von fünf Betroffenen waren Mädchen.

Dabei gerieten an den Schulen in den wenigsten Fällen (vier Prozent) Lehrer in den Verdacht, Täter zu sein. Weitaus häufiger wurde berichtet, dass Schüler Mitschüler missbraucht haben sollen (16 Prozent) – in jedem zweiten dieser Fälle war der mutmaßliche Täter jünger als 14 Jahre alt. Am häufigsten aber wurden dem DJI Verdachtsfälle gemeldet, die außerhalb der Institutionen stattfanden (32 Prozent). Einmal mehr zeigte sich hier, dass die herausragende Täter-Institution die Familie ist.

Das Problem: An den Schulen existiert offenbar kaum die pädagogische Kompetenz, Missbrauchsfälle zu erkennen. Die Lehrer sind überfordert und nicht geschult. Das hat Christine Bergmann „etwas erschüttert“. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, räumte im Gespräch mit der FR ein: „Das Thema wurde vernachlässigt.“ Bergmanns Forderungen nach Fortbildung für jeden Lehrer und ein Schutzkonzept für jede Schule wies er zurück. „Flächendeckend 800000 Lehrer in Deutschland zu Spezialisten für sexuellen Missbrauch zu machen, ist überhaupt nicht realisierbar.“

Herbert Klupp aus Rüsselsheim meint dazu:

„“Die Zahlen sind erschreckend hoch. So gibt es Hinweise auf sexuelle Gewalt, meistens gegen Mädchen, an fast 50 Prozent aller Schulen. Die Studie über die letzten drei Jahre zeigt keine Auffälligkeiten kirchlicher Institutionen. Dies kontrastiert ganz erheblich mit dem Medienrummel gegen die katholische Kirche, wo Einzelfälle der letzten Jahrzehnte medial maximal aufgebauscht worden waren. Die Verfehlungen einzelner Priester und Mönche, Ausnahmen, die den Regelfall der guten Sexualmoral der Kirche bestätigen, wurden als Sensationen verkauft. Mit der Realität hat diese Skandalisierung nichts zu tun, wie die aktuelle Erhebung beweist.
Ob unsere Gesellschaft die Reife hat, diese Verbrechen auch dann weiter zu verfolgen, wenn der ‚kirchliche Kitzel‘ fehlt, wenn es ’nur‘ noch um die Reduzierung des Leidens der Kinder geht?“

Regina May aus Münster erwidert:

„Wenn in dem Leserbrief von Herrn Klupp von ‚medial maximaler Aufbauschung‘ und ‚Medienrummel gegen die katholische Kirche‘ in Bezug auf sexuelle Übergriffe im kirchlichen Kontext gesprochen wird,  dazu von Einzelfällen und Verfehlungen von Einzeltätern, zielt dies völlig vorbei an der Tatsache, dass die Vertreter der Institutionen christlicher Kirchen jahrzehntelang den Anspruch unseres Rechtsstaates und anderer Rechtsstaaten  auf  Verbrechensverfolgung und -ahndung missachtet haben – und damit auch die Menschenrechte derer, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren.
In der katholischen Kirche sollen ihrer eigenen obersten Instanz Fälle sexueller Gewalt bekannt geworden sein, ohne dass etwas unternommen wurde. Wenn obere und oberste kirchliche Verantwortliche auch nur in einem einzigen Fall Augen und Ohren vor einer an sie gerichteten Klage seitens eines Gewaltopfers verschlossen haben, haben sie sich bereits schuldig gemacht, schuldig im Namen ihres Glaubens und ihrer Kirche und schuldig im juristischen Sinn, und das wäre, respektive: ist dann ein ausgewachsener Skandal und verdient ein entsprechend mediales Echo.
Ein Vergleich der Deliktzahlen von  nicht-kirchlichem mit  kirchlichem Umfeld bezogen auf die vergangenen drei  Jahre hinkt (um nicht zu sagen stinkt zum Himmel), was wohl kaum einer Erläuterung bedarf. Hier haben nicht – so skandalös auch dieses ist – ein Schulleiter, lokale Amtsträger oder ein Ministerium vertuscht und weggeschaut. Bei der katholischen Kirche hat eine weltumspannende Organisation, die an sich, ihre Vertreter und an die Gläubigen höchste moralische Ansprüche stellt, systemisch, länderübergreifend, über längere Zeiträume und bis in ihre höchste Instanz menschenverachtend gehandelt.
Allein die Verwendung des Wortes „Verfehlungen“ zeigt, dass Herr Klupp der Tätersprache auf den Leim gegangen ist und damit auch die Perspektive der Täter übernimmt. Die einzig richtige Einstufung für sexuelle Übergriffe auf andere Menschen gleich welchen Alters oder Geschlechts ist ‚Verbrechen‘, und wo Verbrechen geschehen, gilt es Täter ausfindig zu machen und Opfern zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Wort „Verfehlung“ aber hat seine eigene christliche Verwendungsgeschichte. Wenn in griechischen und hebräischen Texten von ‚Verfehlungen‘ gesprochen wird, so erscheint in den deutschen Texten an dieser Stelle zumeist das Wort ‚Sünde‘, und Sünden, die sind ja zumeist lässlich …“

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6 Kommentare zu “Auf dem Leim der Tätersprache

  1. „Bergmanns Forderungen nach Fortbildung für jeden Lehrer und ein Schutzkonzept für jede Schule wies er zurück. „Flächendeckend 800000 Lehrer in Deutschland zu Spezialisten für sexuellen Missbrauch zu machen, ist überhaupt nicht realisierbar.“

    Ausrede. Geht nicht um „von heute auf morgen“ , sondern darum , heute damit anzufangen.

    Dieselbe Forderung sollte aber auch an die Bildungspolitik gehen zwecks Einbau des Themas ins Studium.

    Auch könnte ich mir einen Kinder-und Jugendgerechten Unterrichtsteil für die Schüler selber vorstellen , wobei ich mir kein abschließendes Urteil über die Machbarkeit einer solchen Idee zutraue.

  2. Wo fängt „sexuelle“ Belästigung an ?

    Ich erinnere mich, als unter 14-jähriger Junge mit einem gleichaltrigen Freund schon mal Mädchen „gefangen“ zu haben und an eine Hauswand gedrückt und gekitzelt zu haben. Es war ein Spiel,
    die Mädchen haben gelacht und geschriehen – keine war danach ernstlich böse auf uns.

    Dürfen Jungs sich das heutzutage noch erlauben ?

  3. Die Schule ist kein Reparaturbetrieb der Gesellschaft.
    Lehrer müssen nicht erkennen, welche Probleme ihre Schüler haben und diese auch nicht lösen,
    sofern diese nicht durch die Lehrer selbst oder die Schule verursacht werden.

    Lehrer sind dazu da, in ungestörter Atmosphäre, selbst ungestört, ungestörten Schülern Wissen zu vermitteln.
    Die entsprechenden „Entstörungen“ vor, im und nach dem Lernprozess zu gewährleisten, ist Sache der Schulverwaltung,
    der Politik und aller anderen Belagerer der Schulen.

    Ich finde Lehrer, die sich Erziehungsaufgaben anmaßen, überheblich, Lehrern Erziehungsaufgaben aufzubürden ist fahrlässig und überfordernd, ihnen psychologische oder therapeutische, gar kriminalistische Aufgaben aufzubürden ist schlicht Unsinn.
    Man verfällt auf solche Ideen nur deshalb, weil die Schüler sich gezwungenermaßen in der Schule aufhalten und deshalb in den Blick des Lehrers geraten.
    Genausogut könnte man den Busfahrer oder Bahnfahrer, oder auch den Bäcker nebenan mit solchen Aufgaben betrauen.

  4. Ich finde schon, dass Lehrer erkennen sollten, wenn ihre Schüler Probleme haben. Die Lehrer sehen ihre Schüler täglich und welche Kontaktpersonen sonst sollten in der Lage sein, auffällige Veränderungen wahrzunehmen? Der Busfahrer oder Bäcker sicher nicht. Ein Pädagoge ist nicht nur zur reinen Wissensvermittlung da, ein Pädagoge im richtigen Sinne ist viel mehr. Es geht auch nicht um Pädagogen, die sich Erziehungsaufgaben „anmaßen“, sondern u.a. um Pädagogen als Vertrauensperson, Ansprechpartner und Vorbild. Und da krankt es leider erheblich. Die Lehrer sollen ja auch das Problem nicht lösen, sondern lediglich erkennen, dass ein Schüler/eine Schülerin solche Probleme hat oder haben könnte. Für das Lösen dieser Probleme gibt es andere Organisationen, aber es ist ja nicht neu, dass Lehrer oft schon mit der Wissensvermittlung anscheinend überfordert sind.

    Dass für die Schulung von Lehrern und für Schutzkonzepte mal wieder kein Geld da ist, zeigt, wie verantwortungslos und leichtfertig dieser Staat bzw. der Lehrerverband mit dem Leid von missbrauchten Kindern umgeht. Pädagogische Kompetenz kann sich nicht nur auf die reine Wissensvermittlung beschränken, pädagogische Kompetenz ist viel mehr. Dass der Lehrerverband es ablehnt, den Pädagogen notwendige pädagogische Kompetenzen zu vermitteln, spricht Bände über die Ablehnung pädagogischer Verantwortung durch Lehrer und ihre Verbände. Dass Sie, BvG, den Lehrer in pädagogischen Angelegenheiten und bei der Verantwortung für die anvertrauten Kinder/Jugendlichen mit Bäckern, Busfahrern oder Bahnfahrern vergleichen, spricht Übrigens auch Bände.

  5. @marie

    Nach meiner(möglicherweise veralteten) Kenntnis ist die pädagogische und psychologische Ausbildung von Lehrern grottenschlecht, nicht aber deren didaktische Ausbildung. Das muß man auseinanderhalten. Bände spricht dies nicht über meine Ansicht, sondern über die Qualität der Ausbildung und über die (überzogenen) Anforderungen, die an Lehrer gestellt werden.

    Lehrer sind meiner Ansicht nach keine Pädagogen, sondern Didaktiker, und das allein ist schwer genug. Ich argumentiere hier also nicht gegen, sondern für Lehrer. Wenn man die Grundkompetenzen zum Wissenerwerb der Schule aufbürdet, verfehlt man die Zielgruppe und die Kompetenzen. Grundkompetenzen zum Wissenserwerb müssen vor der Schulreife erworben sein, daher heißt es Schulreife, nicht umsonst beklagen Lehrer den Umstand, daß sie diese Grundlagen oft erst in der Schule schaffen müssen und damit wertvolle Zeit für den umfangreichen Stoffkatalog verloren geht.

    Im übrigen vergleiche ich Lehrer nicht mit Bäckern etc, sondern ich weise daraufhin, daß man Leistungen von Menschen verlangt, die dafür nicht ausgebildet sind und nur aus der bloßen Gelegenheit heraus Anforderungen kumuliert, die nicht leistbar sind.

    Zur Erläuterung ein ganz einfaches Beispiel: Im Bus, in der Schule und beim Bäcker ist geordnetes, situationsgerechtes Verhalten notwendig. Ein Bäcker erwartet dies, ein Busfahrer betet darum, ein Lehrer muß darum kämpfen.

  6. @BvG
    Ich habe selbst auf Lehramt studiert und die Ausbildung ist grottenschlecht. Mit Pädagogik, wie ich sie verstehe, hat diese Ausbildung wenig zu tun und ich habe nach einigen Semestern entnervt das Handtuch geworfen. Die Erfahrungen, die ich während der 13-jährigen Schulzeit meines Sohnes mit Lehrern machte, waren auch nicht gerade prickelnd und ich habe ganz gewiss nicht zu den Müttern gehört, die ständig auf der Matte standen. Es gab auch einige gute Lehrer, aber sie waren in der Minderzahl, und auf deutschen Schulen werden Kinder und Jugendliche von vielen Lehrern regelrecht gequält. Da gibt es Lehrer, die etwas gegen Alleinerziehende haben, Lehrer, die ausländische Eltern geradezu terrorisierten und die z.B. meinen Sohn, wegen einer Allergie, auf Unterricht am Krankenbett verweisen wollten, obwohl der Unterricht in der Schule problemlos möglich war. Ich musste das Schulamt einschalten, um gegen diese Lehrer etwas zu erreichen und heute studiert mein Sohn Mathematik. Wenn ich nicht gekämpft hätte, wäre er „ausgesondert“ worden, weil es den Lehrern zu mühsam war, tote und lebende felltragende Tiere aus dem Klassenraum zu verbannen.

    Ich habe Dinge erlebt, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte, leider und auf viele Lehrer bin ich nicht besonders gut zu sprechen. Wenn Lehrer von ihren Schülern mehr Verantwortungsgefühl und erwachsenes Verhalten einfordern, als sie selbst vorleben, dann ist etwas gehörig in Unordnung geraten. Wenn Lehrer asthmakranke Schüler Turnhallen fegen lassen, obwohl sie genau wissen, dass dann ein Atemstillstand droht, ist das ungeheuerlich. Nein, ich bin nicht gut zu sprechen auf Lehrer, die ihre Schüler quälen.

    Und für mich gehört zur pädagogischen Verantwortung selbstverständlich auch, dass Lehrer für ihre Schüler das Beste wollen, und einschreiten, wenn sie erkennen, dass ein Schüler schwere Probleme hat. Um das zu erkennen (von alleine sind sie meist nicht dazu in der Lage), müssen sie entsprechend geschult und sensibilisiert werden. Schreckliche Eltern wird es immer geben, aber es gibt auch genug schreckliche Lehrer. Und daran sollte sich unbedingt etwas ändern, denn es wird nicht gelingen, alle Eltern zu Mustereltern zu machen, das kann der Staat nicht leisten. Eine ordentliche Ausbildung der Lehrer schon, dass schreckliche Menschen Eltern werden, kann man nicht verhindern, dass schreckliche Menschen Lehrer werden, schon. Und die bestmögliche Ausbildung von guten Lehrern sollte Standard sein und nicht am Geld scheitern. Jedes Kind hat eine Chance verdient, auch dann, wenn es unfähige Eltern hat. Auch dann, wenn es missbraucht wird, hat es ein Recht auf Schutz und bestmögliche Entfaltung. Das können keine Busfahrer leisten, da müssten schon die Lehrer ran, eine andere Möglichkeit sehe ich jedenfalls nicht.

    Lehrer können sich ihre Schüler nicht backen und Lehrer klagen grundsätzlich sehr viel. Wenn ein Kind bei der Einschulung nicht über alle Kompetenzen verfügt, muss es gefördert werden, mit Klagen ist da nichts zu machen und die Kinder können auch nichts für ihre Eltern.

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