Der Alabasterne Vorhang

Was sich wohl gerade im Palast des ägyptischen Präsidenten abspielt, in diesen ersten Minuten des 4. Februars, einem Freitag? Hat Mubarak die Fenster verrammelt und vernagelt, seiner Wache befohlen, sich bis an die Zähne zu bewaffnen? Wird er den Schießbefehl geben, wenn die Demonstranten zum Sturm auf den Palast ansetzen? Berät er sich gerade mit seinen Generälen? Erwägt er Ratschläge, jetzt zurückzutreten, um ein Blutbad zu vermeiden? Oder versucht er, die Armee auf seine Seite zu ziehen?

Es ist alles möglich in Ägypten. Sollte Mubarak, der als stur gilt, auf seinen Posten nicht verzichten, könnte das Land ins Chaos stürzen. Die Opposition hat ihm ein Ultimatum gestellt: Heute muss er zurücktreten. Bisher scheint er dazu nicht bereit zu sein. Zwei Tage lang ließ er Provokateure und Schlägertrupps durch Kairo ziehen, die die gewaltsame Auseinandersetzung mit den friedlichen Demonstranten suchten. Die Bilder, die wir zu sehen bekamen, gaben einen Vorgeschmack auf den Bürgerkrieg, der Ägypten im Falle droht, dass Mubarak stur bleibt. Heute nacht allerdings, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, scheint es in Kairo halbwegs ruhig zu bleiben. Hat er seine Schergen zurückgepfiffen?

Kairo holt Luft an diesem Freitagmorgen, so scheint es. Einiges deutet darauf hin, dass dies die Ruhe vor dem Sturm sein könnte. Niemand kann genau vorhersagen, was nach den heutigen Freitagsgebeten geschieht, aber der Wille der Demonstranten scheint ungebrochen. Ihr Protest gegen das Mubarak-Regime steigerte sich bis zum „Marsch der Million“ – an jenem Tag demonstrierten in ganz Ägypten vier Millionen Menschen. Ich denke, es wird von der ägyptischen Armee abhängen, die sich eine Weile unentschlossen zu verhalten schien, bis sie am gestrigen Donnerstag Mubarak-Freunde und -Gegner immerhin zu trennen versuchte. Sie scheint auf der Seite jener Demonstranten zu stehen, die das Ende des Mubarak-Regimes fordern, und sie hätte die Macht, dieses Regime auf der Stelle zu beseitigen.

Überraschung Nr. 1

Dies war eine der Überraschungen der letzen Tage. Nach der tunesischen Revolution hieß es noch, in Ägypten habe ein solcher Volksaufstand keine Chance, weil das Mubarak-Regime ganz anders geerdet sei. Ein mächtiges Militär und ein Präsident, der aus Militärkreisen hervorgegangen ist – das schien auf kraftvolle Seilschaften zwischen Mubarak und dem Militär hinzuweisen. So oder ähnlich formulierten es eigentlich alle Experten. Sie haben sich geirrt. Mubarak scheint kaum Rückhalt im Militär zu genießen. Wohingegen es regelrechte Verbrüderungsszenen zwischen den Demonstranten und den Soldaten gab. Menschen kletterten auf die in Kairo einrollenden Panzer und umarmten die Soldaten, sie halfen ihnen bei der Personenkontrolle, sie trugen Offiziere auf Schultern. Diese ägyptische Armee, so scheint es, ist eine Armee des ägyptischen Volkes, nicht des ägyptischen Diktators. Eine zögernde Armee allerdings. Doch es kann gut sein, dass dieser Freitag ihr die Entscheidung abverlangt, sich eindeutig, soll heißen: gewaltsam für eine Seite zu positionieren. Entweder um der Sache ein Ende zu machen und Schlimmeres zu verhindern, indem sie Mubarak zum Rücktritt zwingt, oder um das Schlimmste durchzusetzen: offene Gewaltherrschaft.

Überraschung Nr. 2

Hand aufs Herz: Wer hätte das den Ägyptern zugetraut? Mit erstaunlicher Beharrlichkeit, die sich zweifellos aus Wut speist und doch nicht gewaltsam wird, gehen sie auf die Straßen und fordern demokratische Reformen. Friedlich und dennoch unnachgiebig! Ihre Lebensverhältnisse sind erschütternd, sie haben nichts zu verlieren. Ein kleines bisschen kenne ich diese Lebensweise.

Ich habe vor einigen Jahren eine Reise durch Oberägypten gemacht, wie sie wohl nur wenige machen, und habe das Land zumindest in Ausschnitten aus einer anderen Perspektive kennengelernt als der der Nil-Kreuzfahrtdampfer. Wir fuhren auf einer Feluke, einem der landestypischen, einfachen Segelboote. Es gab an Bord keine Betten, keine Kabinen, keine sanitären Anlagen. Wir schliefen in Schlafsäcken auf dem Deck, wuschen uns im Nil, kauften Fisch direkt von Nilfischern und segelten so langsam von Assuan nach Edfu. Wenn wir zur Nacht bei einem Dorf anlegten, dauerte es nicht lange, bis wir vom Dorfvorsteher zum Abendessen eingeladen wurden. Einmal servierte uns ein Bauer, der als reich galt, in seiner „Villa“ Tee. Die „Villa“ war eine intakte Einraum-Lehmhütte, die luxuriös ausgestattet war: Es gab einen Fernseher, der kaum mehr zeigte als ständiges Grisseln, und es gab einen Ventilator, den der Hausherr uns stolz vorführte. Das sind Eindrücke aus diesem Land, die ich nie vergessen werde.

Das waren einfache Menschen, die etwas getan haben, was für sie selbstverständlich ist: Sie haben Gastfreundschaft walten lassen, ohne etwas dafür zu erwarten. Sie waren neugierig, wollten etwas über unser Leben erfahren, das ihnen so fremd erscheinen musste wie uns ihres. Und sie waren unverkennbar stolz darauf, Ägypter zu sein, so schlecht es ihnen aus unseren Augen auch ging. Natürlich haben wir uns erkenntlich gezeigt und sind der Gastfreundschaft mit kleinen Geschenken begegnet; zum Beispiel spendeten wir einen Betrag für die Dorfschule. Ich habe diese Menschen als offen, neugierig und tolerant erlebt. Und als stolz. Heute würde ich sagen: Die Beharrlichkeit, mit der sie protestieren, überrascht mich eigentlich nicht, denn diese Menschen wurden in ihrem Stolz verletzt durch ein Regime, das alles für sich und nichts für sie getan hat. 40 Milliarden Dollar soll Mubarak in den gut 30 Jahren seiner „Präsidentschaft“ für sich auf die Seite geschafft haben. Und zu diesem verletzten Stolz, dieser jahrzehntelangen Demütigung, kam der Zündfunke: Tunesien.

Historischer Umbruch

Die gesamte arabische Welt scheint vor einem historischen Umbruch zu stehen, und dieser Umbruch dürfte sich auch auf „den Westen“ auswirken. In vielen unserer Westler-Diskussionen über diese Entwicklung steht die Sorge darüber im Mittelpunkt, dass fundamentalistische Strömungen erstarken könnten, wenn sie bei freien Wahlen große Fraktionen in den neuen Parlamenten bilden. Diese Sorge muss man ernst nehmen. Ihr gegenüber steht allerdings die Erfahrung, dass es nichts gebracht hat, auf autokratische Systeme zu setzen, um die Fundamentalisten in Schach zu halten. Der Westen, der einerseits bei jeder Gelegenheit den Zeigefinger erhebt, um auf Einhaltung von Menschenrechten hinzuweisen, hat diese autokratischen Systeme gestützt, weil er meinte, sie als Bollwerke gegen Fundamentalisten nutzen zu können. Im Ergebnis sehen wir, dass fundamentalistische Strömungen trotzdem erstarkt sind. Oder sollte ich besser sagen: nicht trotzdem, sondern deswegen?

Demokratische Gesellschaften müssen sich mit allen gesellschaftlichen Strömungen auseinandersetzen. Das liegt in der Natur der Sache. Sollten die ägyptischen Muslimbrüder also bei Wahlen Gewicht erlangen, dann entspräche dieses Gewicht per abgegebener Wählerstimmen ihrem Gewicht in der ägyptischen Gesellschaft, und so ergäbe sich im Parlament ein realistisches Abbild des Zustands der ägyptischen Gesellschaft. Sowas nennt sich Transparenz und ist das Gegenteil von Unterdrückung. Mit den Muslimbrüdern müssten wir also wahrscheinlich leben. Allerdings müssen wir auch mit Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden und anderen Fundamentalisten in unseren europäischen Ländern leben. Und mit NPD und DVU in Deutschland. Alle diese „Bewegungen“ haben antidemokratische Aspekte. Die Muslimbrüder hingegen hatten noch gar keine Gelegenheit zu zeigen, ob sie Demokraten sein können. Ich halte die Angst vor den Muslimbrüdern daher für übersteigert. Sie ist allerdings typisch für uns, und sie entspringt einem Denken, das etwas von der Art an sich hat, wie wir früher über die Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs dachten.

Der Alabasterne Vorhang

Mit der Sowjetunion ging die Bipolarität der Weltpolitik unter. Wir wurden eines Feindbildes beraubt. Also suchten wir uns ein neues. George W. Bush half uns dabei, indem er Al Qaida inthronisierte. Er nutzte 9/11, um einen neuen Vorhang niederzulassen: Auf den Eisernen Vorhang folgte der Alabasterne Vorhang. Alabaster, der milchige Stein, aus dem die Moscheen sind. Und wir stürzten uns gierig auf das neue Feindbild: „Wir“ auf der einen Seite, „der Islam“ auf der anderen. Der „clash of civilizations“ ist aus dieser Perspektive unausweichlich. Dieses Denken wirkt bis heute weit in unsere Gesellschaften hinein und führt zu tiefer Polarisierung. Dieses Denken ist der eigentliche Grund für die Popularität, die ein Thilo Sarrazin in Deutschland und andere populistische Polarisierer in anderen europäischen Ländern genießen.

Spätestens nach den Ereignissen in Ägypten müssen wir uns fragen, ob wir uns nicht aufs Glatteis haben führen lassen. Die Araber sind nicht so, wie wir glauben, dass sie sind. Oder wie wir glauben sollen, dass sie sind. Mit erschütternder Selbstverständlichkeit fordern sie die gleichen universellen Rechte für sich ein, die für uns selbstverständlich sind. Wir sollten sie dabei unterstützen. Das sind wir ihnen schuldig, nachdem wir jahrzehntelang ihre Unterdrückung unterstützt haben. Wir sollten durch Kooperation, kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit dafür sorgen, dass Ägypten, wenn es sich demnächst eine demokratisch legitimierte Regierung gegeben hat, zu einem Land wird, in dem es den Menschen halbwegs gut geht. Dann, da bin ich sicher, haben Fundamentalisten dort keine Chance. Das ist der einzige Weg, den Islamismus nachhaltig zu entzaubern.

Für den heutigen Freitag wünsche ich uns allen daher, dass es den Demonstranten gelingt, den Diktator davonzujagen. Für die Zeit danach wünsche ich uns allen, dass es unseren Politikern gelingt, eine Brücke nach Ägypten zu schlagen und das Misstrauen zu überwinden, dass die Ägypter – zu Recht, wie ich meine – uns gegenüber hegen, stützten wir doch den Diktator. Zudem wünsche ich allen Arabern, dass die Strahlkraft des ägyptischen Aufstands ausreicht, alle diktatorisch regierten muslimischen Länder (einschließlich des nicht-arabischen Iran) zu erfassen und so das Gesicht unserer Welt zu verändern.

Mubarak, verschwinde!

Verwandte Themen

15 Kommentare zu “Der Alabasterne Vorhang

  1. Danke, Bronski, für diesen Thread und die m.E. gute Einführung.
    „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, sagte einmal ein mutiger Generalsekretär der KPdSU, der – anders als wohl heute westliche Außenminister und Staatschefs, in der Lage war, über seinen Schatten zu springen und in einer historischen Stunde angemessen zu reagieren. Schlimm genug für uns Deutsche, in einer ähnlichen Situation von einem Außenminister vertreten zu werden, der zu nichts als Sprechblasen abzusondern in der Lage ist. Wie sollte man von dem (und seiner Kanzlerin) erwarten, in einer historischen Stunde zu zeigen, was am nötigsten ist:
    – Mut, vergangene Fehler einzugestehen und zu korrigieren.
    – Charakter, aktiv für Prinzipien unserer Demokratie einzutreten statt herum zu lavieren und opportunistisch abzuwarten, bis der Sieger feststeht.
    – Gefühl für Solidarität mit Menschen, die bisher nicht im Genuss selbstverständlicher Menschenrechte sind und bereit sind, dafür zu kämpfen.
    – Entschlossenheit, die Chance der historischen Stunde zu ergreifen.

    In einer Situation, in der von einem korrupten diktatorischen Regime Hatz auf Ausländer und ausländische Journalisten betrieben wird, gebietet es nicht aber nur die Solidarität mit demokratischen Bestrebungen, sondern schlichtweg auch die Verantwortung und das Eigeninteresse, die „noble Zurückhaltung“ zu verlassen und klar und entschieden Stellung zu beziehen. Und es ist da wohl nicht die Aufgabe von demokratischen Regierungschefs, für den Erfolg demokratischer Bestrebungen zu „beten“, sondern das ihnen Mögliche für sie zu TUN.
    Mich überzeugt auch die im gestrigen „Hart aber fair“ geäußerte Einschätzung (ich weiß nicht mehr von wem), dass die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme in dem Maße zunimmt, als die Entscheidung heraus gezögert wird.
    Ich meine daher, dass in einer solchen Situation das Handeln nicht den politischen Vertretern überlassen bleiben sollte. Vor allem kommt es auf klare Zeichen an, welche die mutigen Menschen in Ägypten stärken, und das hat nichts mit „Einmischung in innere Angelegenheiten“ zu tun.
    Es müsste doch möglich sein, über Internet-Foren wie Facebook z.B. Solidaritätserklärungen zu sammeln und auf schnellstem Wege an Kontaktleute in Ägypten zu versenden. Zusätzlich müsste m.E. auf ähnlichem Weg mit dem Ziel schneller und eindeutiger Maßnahmen Druck auf die Bundesregierung ausgeübt werden sowie auf die EU-Kommission, etwa über EU-Parlamentarier.
    Zu den zu fordernden Maßnahmen gehören m.E. nicht nur die eindeutige Aufforderung an Mubarak zum Rücktritt, sondern auch (wie auch von Grünen und Linken gefordert) der sofortige Stopp von Waffenlieferungen, die Sperrung von Auslandskonten der ägyptischen Machthaber und die Vorbereitung einer Anklage vor dem UN-Tribunal. Amnesty International wird sicher mit Material aushelfen können, das dazu ausreicht, bis die Hintermänner (bzw. der Hintermann) der gegenwärtigen Gewaltaktionen entlarvt sind (bzw. ist).
    Vielleicht kann ja in dieser Hinsicht jemand weiter helfen. Dann hätte auch dieser Blog die Aufgabe erfüllt, nicht nur ein Forum zum Austausch von Meinungen zu sein.

  2. Ach, wie plötzlich doch ein „Wir“ daraus wird!

    1 oder 2 Millionen eines 80 Millionen Volkes demonstrieren, aber was ist den mit den restliche 78 Millionen?
    Angsthasen, Regimetreue, Indifferente?
    Würde die Bundesregierung zurücktreten, wenn es, sagen wir mal, die Saarländer (1,022,585) forderten, um ein nicht näher bestimmtes System zu errichten? .

    Und was heißt bitte, „wir“ hätten das Regime unterstützt? Wer denn? Die Millionen Reisenden, die Waffenlieferanten, die Politiker, oder wer? Ich war es jedenfalls nicht und ich bin auch nicht qua Wahlergebnis verantwortlich für alle Taten der Regierenden, Lieferanten oder Reisenden.

    Dann noch, als Gipfel:“Und wir stürzten uns gierig auf das neue Feindbild: “Wir” auf der einen Seite, “der Islam” auf der anderen.“

    Nein,mein lieber Bronski, eine Menge Leute haben sich nicht auf dieses Feindbild gestürzt und sind auch nicht darauf hereingefallen.

    Erstmal fällt mir ein erstauntes „Wie bitte?“ ein, aber dann, als ein Anspruch an den Journalismus der FR, ein fragendes „Wie, bitte“.

    Mehr Differenzierung, mehr Information, aber kein „wir“ von 80 Millionen Ungefragten.

  3. Im Gegensatz zu Herrn Engelmann bin ich der Meinung, dass unsere Regierung (wie überhaupt alle westlichen Regierungen) gut beraten wäre, sich mit Rücktrittsforderungen zurückzuhalten. Wie Bronski bereits in seinem letzten Absatz dargelegt hat, genießen westliche Regierungen in den von Diktaturen regierten Gesellschaften der arabischen Welt zurecht sehr wenig vertrauen – nicht nur, weil der Westen mit den Diktatoren kooperiert hat, soweit es ihm nützlich war, sondern auch wegen der im derzeitigen Ergebnis katastrophalen Versuche des Demokratie-Exports nach Afghanistan und in den Irak. (Im ARD-Nachtmagazin vom 5.2. hat der Politologe Volker Perthes in einem überaus sehens- und hörenswerten Beitrag die These aufgestellt, dass die Kriege in Afghanistan und Irak Demokratiebewegungen in der arabischen Welt verzögert haben – nach dem Motto: Wenn das Demokratie ist, halten wir uns doch lieber an unsere guten alten Kleptokraten).

    Natürlich besteht die Möglichkeit, dass das Verhalten des Westens als Opportunismus gedeutet wird. Das gilt nicht nur für die Option der Zurückhaltung („Warten auf einen Sieger“), sondern auch für eine eindeutige Parteinahme zugunsten der Protestler (man könnte „uns“ – i.S.v. unserer Regierung – unterstellen, wir glaubten, die Würfel seien schon gefallen und würden uns nun nur dem Sieger anschließen wollen – glaubwürdig wäre eine Unterstützung der Demokratiebewegung nach 30 Jahren Kooperation mit dem Ancien Regime jedenfalls nicht).

    Auch taktische Überlegungen sprechen dafür, keine Rücktrittsforderungen auszusprechen: wenn unsere Regierung sich klar zugunsten der Demonstranten positioniert, könnte das Regime versucht sein, die Proteste als vom Westen angestachelt und die „Rädelsführer“ als Agenten westlicher Geheimdienste darzustellen. Das könnte sich nicht nur nachteilig auf die Dynamik der Proteste auswirken, es könnte auch die Autorität einer etwaigen Nachfolge- oder Übergangsregierung untergraben.

    Eine ganz entscheidende Frage zur Rolle islamischer Fundamentalisten hat Bronski schon angedeutet mit seinem Satz: wir sehen, „dass fundamentalistische Strömungen trotzdem [trotz der Stützung autokratischer Systeme durch den Westen] erstarkt sind. Oder sollte ich besser sagen: nicht trotzdem, sondern deswegen?“ Weiter ausgeführt hat diesen Gedanken der Blogger Jens Berger (www.spiegelfechter.com) in einem Beitrag für die NachDenkSeiten:
    (Link abgelehnt, Anm. Bronski, siehe Blog-Regel Nr. 8 )
    Darin heißt es: „Die relative Bedeutung dieser islamistischen Gruppierung ist … eine .. Folge der vom Westen tolerierten Unterdrückung jeglicher Opposition. Die Muslim-Brüderschaft hat zumindest einen relevanten Organisationsgrad, während sämtliche zivilgesellschaftlichen Kräfte seit Jahrzehnten im Keim erstickt wurden.“

    Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ich habe aber eine Frage an Herrn Engelmann: warum teilen Sie die Einschätzung, „dass die Gefahr einer islamistischen Machtübernahme in dem Maße zunimmt, als die Entscheidung heraus gezögert wird“? Ich denke, dass das genaue Gegenteil zutrifft, weil nämlich je länger die Proteste dauern, sich den zivilgesellschaftlichen Kräften desto mehr Gelegenheit bietet, sich zu sammeln und den organisatorischen Vorsprung der Muslim-Bruderschaft wettzumachen.

    Deshalb finde ich es auch nicht tragisch, dass Mubarak immer noch nicht zurückgetreten ist, im Gegenteil. Ein schneller Wechsel an der Staatsspitze und das Versprechen, die Verhältnisse demokratisch zu reformieren (was sich dann später als rein kosmetische Veränderung hätte herausstellen können), hätten manche Protestler vielleicht besänftigt oder gar zufrieden gestellt und der Bewegung so den Schwung nehmen können. Wir reden über ein seit 30 Jahren regierendes und eingespieltes Regime, da gibt es viele Nutznießer. Ein Wechsel im Präsidentenamt und ein Austausch der Regierung würden die alten Seilschaften in Behörden, Militär und Wirtschaft ja erstmal unangetastet lassen. Mit Mubarak im Präsidentenamt kann man darauf hoffen, dass der Opportunismus, der die herrschende Clique bisher gemeinsam das Land hat auspressen lassen, sich jetzt – unter den veränderten Bedingungen, dem Druck der Straße – gegen die Gruppe richtet. Mubarak wird sich gezwungen sehen, ein Bauernopfer nach dem anderen anzubieten. Und sein Gefolge wird es mit der Angst zu tun bekommen, wenn jeder befürchten muss, selbst das nächste Bauernopfer zu werden – dann werden sie Mubarak davonjagen, das ist nur eine Frage der Zeit. Meine Überzeugung: je länger man sich Zeit nimmt für den Wandel, desto tiefgreifender und nachhaltiger wird er sein.

    Um eins klar zu sagen: ich will nicht so verstanden werden, als könnten oder sollten die westlichen Gesellschaften gar nichts unternehmen. Regierungen könnten nachdrücklich und beharrlich den Schutz der eigenen Staatsbürger einfordern, die sich zur Zeit in Ägypten aufhalten (insb. der Journalisten) – das kann nicht als Einmischung gewertet werden und ist ein guter Vorwand, um Druck auszuüben. Falls die ägyptischen Medien noch effektiv zensiert werden (weiß da jemand näheres?), kann man z.B. dafür sorgen, dass die internationale TV-Berichterstattung mit Original-Aufnahmen der Demonstrationen (insb. die in englischer und arabischer Sprache kommentierten) nach Ägypten gelangt, z.B. via Satellit. Auf dem gleichen Weg könnte man Bilder von Demonstrationen dorthin senden, die im Ausland lebende Ägypter in größeren westlichen Städten veranstalten. Solidaritätsbekundungen auf einer nicht-staatlichen Ebene sind natürlich auch immer möglich.

    Auf gar keinen Fall sollte man das Auslandsvermögen der Familie Mubarak beschlagnahmen oder gar eine Anklage vor einem UN-Tribunal vorbereiten, solange Mubarak noch im Amt ist. Wenn er davon Wind bekommt, wird im klar sein: er kämpft nicht mehr nur um die politische Macht, sondern auch um – wie er es wohl sieht – sein gesamtes verbliebenes (Inlands-)Eigentum und um seine persönliche Freiheit. Er wird es dann auf jeden Kampf ankommen lassen – und sei dieser noch so brutal und seine eigenen Aussichten noch so schlecht.

  4. # 2, I. Werner
    Danke an für die Übermittlung der Solidaritätsadresse, die ich selbstverständlich nutze und auch weitergebe.

    #4, J.Voeller,
    Danke für den Hinweis auf den interessanten Artikel von Jens Berger. Dessen Einschätzung betr. das Verhalten westlicher Politiker teile ich durchaus. Allerdings kann ich nicht erkennen, weshalb daraus die von Ihnen formulierten Bedenken gegen eine klare Stellungnahme folgen sollten.
    Dazu sollte man m.E. folgende Punkte unterscheiden, die zueinander durchaus in einem Spannungsverhältnis stehen:
    1. Universalität der Menschenrechte
    2. Glaubwürdigkeit demokratischer Staaten
    3. Islamistische Bedrohungen
    4. Nationale Interessen an der Golfregion.

    Wenn man von einem Spannungsverhältnis dieser für sich gesehen alle berechtigten Gesichtspunkte ausgeht, stellt sich die Frage der Priorität. Diese müsste vor allem unter dem Aspekt eigener Glaubwürdigkeit in der genannten Reihenfolge angesetzt werden. Westliche Politik der vergangenen Jahrzehnte hat diese Priorität aber geradezu auf den Kopf gestellt.
    In seinem Artikel bringt dies Jens Berger durchaus auf den Punkt:
    „Demokratie und Menschenrechte, die eigentlich eine conditio sine qua non sein sollten, verkommen dabei zur Verhandlungsmasse.“
    Eine solche Prioritätensetzung diskreditiert nicht nur westliche Politik, sondern Demokratie überhaupt und darüber hinaus die Menschenrechte. Sie erklärt das Erstarken fundamentalistischer Bewegungen nicht nur unter diktatorischen Bedingungen wie in Ägypten, sondern auch in demokratischen Ländern: Wo die in der UN-Charta verankerte Universalität der Menschenrechte aufgegeben wird, verkommen diese nicht nur zur nationalen Angelegenheit (Beispiel China), dies befördert auch die Suche nach pseudo-religiösen „ewigen Wahrheiten“ als vermeintlich einzigem Halt. Gefühle (vermeintlicher) Demütigung – ob berechtigt oder nicht – werden so durch den vermeintlichen Alleinbesitz der „ewigen Wahrheiten“ und das Gefühl moralischer Überlegenheit kompensiert. Und
    diffuse Ängste vor westlicher „Bevormundung“ und werden zum gezielten Angriff auf die Menschenrechte.
    Aus dem genannten Grund meine ich, dass die Unterstützung von Bewegungen, die auf eine universelle Geltung der Menschenrechte zielen und diese einfordern, Priorität hat vor allen anderen Überlegungen.

    Zur Frage möglicher Entwicklungen, hier möglicher Machtübernahme durch die Moslem-Brüder:
    Im Leitartikel der heutigen Ausgabe der FR (5./6.02., S.15) argumentiert Martin Gehlen:
    „Und die gut organisierte Muslimbrüderschaft hält sich nach wie vor betont im Hintergrund, weil sie dieses Land nicht übernehmen kann und nicht übernehmen will.“
    Andererseits wird S. 5 berichtet: „Islamisten in Istanbul fordern Mubaraks Rücktritt.“
    Offenbar besteht in dieser Frage unter den Islamisten selbst Dissens. Während bei den türkischen Islamisten der Wunsch der Vater des Gedankens sein dürfte, kann man wohl davon ausgehen, dass die Moslembrüder in Ägypten die Chancen einer sofortigen Machtübernahme realistischer einschätzen. Es erscheint logisch, dass sie auf Zeit spielen, um sich reorganisieren zu können.
    Eine Volksbewegung, die nicht einmal in Ansätzen eine solche Organisierung aufweist, hat aber diese Chance einer späteren Durchsetzung ihrer Forderungen von vornherein nicht. Was sie nicht sofort erreicht, ist auf sehr, sehr lange Zeit verspielt. Und man wird davon ausgehen müssen, dass mit dem Wiederaufbau des Repressionsinstrumentariums – gleich ob vom alten Regime oder von den Moslembrüdern – eine neue Bewegung effektiv verhindert wird.
    Daher erscheint mir die klare Unterstützung der Bewegung ohne Hintergedanken und die Forderung nach sofortigem Rücktritt Mubaraks wichtig: als Signal an die ägyptische Bevölkerung und Ausdruck des Respekts vor dem Volk, der nicht als „äußere Einmischung“ missverstanden werden kann.

    Zu praktischen Maßnahmen:
    Immerhin ist das Wirtschaftsministerium der Forderung nach sofortigem Stopp von Rüstungslieferungen bereits gefolgt. Über den angemessenen Zeitpunkt einer Anklage von Menschenrechtsverletzern vor dem UN-Tribunal kann man sicher diskutieren. Ebenso sicher kann man aber davon ausgehen, dass ein Politiker vom Schlage eines Mubaraks keines Nachhilfeunterrichts darüber bedarf, was abgehalfterten Diktatoren blühen kann. Ob er „davon Wind bekommt“, erscheint daher ziemlich unerheblich. Ob er mit Klauen und Zähnen seine Macht verteidigt (was er sowieso tut), hängt nicht davon ab, sondern davon, ob das Volk es ihm ermöglicht (siehe Berlusconi), sich einer juristischen Verantwortung zu entziehen.

  5. Eines scheint mir bei der Debatte zu kurz zu kommen: die Frage nach dem Auslöser. Korrupte Regime gab und gibt es ja (nicht nur in diesen Ländern) sowohl in Tunesien als auch Ägypten, aber 3 Jahrzehnte hat Mensch sich dort arrangiert, und der Westen sich mit den Machthabern. Auslöser waren die Ausweglosigkeit der jungen Generation, in Tunesien die eines jungen IT-Fachmannes, der sich sein Brot als Gemüsehändler verdienen mußte. Dazu kam in beiden Ländern die Addition der nicht mehr aufgehenden Gleichung Ausbildung = Job mit den steil ansteigenden Preisen von Grundnahrungsmitteln.

    Erinnern wir uns? 2008 hatten wir die gleiche Situation schon einmal, und die Regierungen konnten den Volkszorn nur durch kräftiges Herunter-Subventionieren zügeln und dämpfen. Doch hat dies diesmal nicht gereicht, weil noch etwas Wichtiges hinzukam, die Wegnahme von Würde, etwas, was auch dem Ärmsten bis zuletzt noch bleibt.

    Und da sollte sich der Westen besinnen. Es ist eben nicht damit getan, jetzt von Menschenrechten zu faseln und diese einzufordern. Erst kommt das Fressen, dann die Moral, um es mit Berthold Brecht zu sagen. D.h. konkret, wir müssen endlich auf den internationalen Finanzmärkten durch eine Steuer alle Zockereien verteuern, und das Zocken mit Lebensmittel- und Ölmengen gehört dazu. Wir müssen aufhören, die Erzeugung von Nahrungsmitteln internationalen Konzernen zu überlassen, die voll auf Gentechnik setzen, und damit Kleinbauern, die sich das teure Saatgut nicht leisten können, ruinieren. Wir müssen aufhören, gerade auch in Deutschland, an Produkten von Heckler + Koch die ganze Welt „genesen“ zu lassen. Und wir müssen raus aus Afghanistan, weil wir hier nur noch die strategischen Interessen der Amerikaner vertreten und als Freiheit am Hindukusch nur noch die der Drogenbarone und Warlords verteidigt wird. Mit den – geschätzen – 1,5 Milliarden Euro könnten wir dann massiv die Bevölkerung vor Ort bei der Erzeugung eigener Nahrungsmittel und Energie unterstützen. Das wäre dann wirkliche Hilfe, die auch noch mittel- und langfristig trägt.

    Wenn der Magen knurrt, lässt es sich wohl nicht so gut über Demokratie reden, sondern eher über die einfacheren, radikaleren Lösungen, die dann auch ein Teil der Muslimbrüder parat hält.

    Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen: Wenn ich einem bettelnden Landstreicher 5 Euro in die Hand drücke, freut sich dieser und gibt, wenn es gut läuft, nur die Hälfte davon für Alkohol aus. Biete ich ihm an, einen Tag lang meinen Garten umzugraben, gebe ihm dafür Geld, ein warmes Mittagessen und eine dicke Jacke, die unbenützt im Schrank hängt, ist dies schon ein Fortschritt. Rede ich mit ihm, und erfahre, daß er ausgebildeter Handwerker ist, könnte ich ihm ggf. einen Job besorgen. Er hat dann womöglich immmer noch ein Alkoholproblem, aber auch Hoffnung. Und Hoffnung auf Veränderung ist ein starker Verstärker.

    Was – nicht nur – die arabische Welt braucht, ist praktische Solidarität, Hilfe zur Selbsthilfe, Respekt vor dem Anderen auf Augenhöhe – dann klappt es irgendwann auch mit der Demokratie. Vor allem dann, wenn wir vorher ordentlich vor der eigenen Haustür gekehrt haben.

  6. #5, Werner Engelmann:
    Bei den vier Punkten, die Sie als Maßgabe für das Verhalten westlicher Regierungen anführen, vermisse ich einen ganz entscheidenden: die Souveränität des ägyptischen Volkes. Gerade in Ägypten gibt es aus historischen Gründen (Fremdherrschaft durch Osmanen, Franzosen und Briten) sehr ausgeprägte und berechtigte Ängste vor Fremdbestimmung, die leicht in Hass umschlagen können. Da die westlichen Regierungen, in meinen Augen taktisch klug, zurzeit auf Rücktrittsforderungen verzichten, trifft es in der von der ägyptischen Regierung derzeit kolportierten Verschwörungstheorie „nur“ die westlichen Journalisten, was aber offenbar schon reicht, um Feindseligkeiten zu schüren (s. z.B. hier: http://bit.ly/g7bcPn ) Äußerungen von iranischen Offiziellen, die in Ägypten das „Echo der islamischen Revolution“ am Werk sehen, werden von der ägyptischen Regierung dankbar aufgegriffen und als hasserfüllte und feindselige Einmischung bezeichnet (s. dazu etwa die 20:00 Uhr-Tagesschau vom 5.2.). Man braucht nicht viel Phantasie, um sich die Reaktion auf die Rücktrittsforderungen westlicher Regierungen vorzustellen, die im Übrigen derzeit ohnehin in der arabischen Welt keine Glaubwürdigkeit besitzen – egal, wie sie sich jetzt verhalten. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis Glaubwürdigkeit und Vertrauen einigermaßen wieder hergestellt sind. Das äußerste, was man von offizieller westlicher Seite tun kann und meines Erachtens auch sollte, ist der Beginn einer engen und gleichberechtigten Kooperation mit Tunesien beim Aufbau demokratischer Strukturen. Das wäre auch ein erster Schritt hin zu mehr Glaubwürdigkeit.

    In Ägypten hat meines Erachtens eine Entwicklung begonnen, in deren Verlauf Mubarak zwangsläufig die Macht verlieren wird (in einem zeitlichen Rahmen von Wochen oder höchstens ein paar Monaten) und die nicht mehr aufzuhalten ist. Jetzt kommt es vor allem darauf an, dass er möglichst große Teile der herrschenden Clique mit in den Abgrund reißt. Das wird er umso mehr, je länger er noch im Amt verbleibt (als ein Indiz für diese These kann auch gewertet werden, dass er heute die Führungsriege seiner Partei hat über die Klinge springen lassen – eines der Bauernopfer, die ich in meinem Beitrag von heute morgen ansprach).

    Die Dynamik, die eine herrschende Clique im Angesicht des Abgrunds auseinander reißt, kann man sich übrigens sehr gut anhand der preisgekrönten RBB-Dokumentation „Die Chronik der Wende“ vergegenwärtigen (gibt es bei der Bundeszentrale für politische Bildung sehr günstig, EUR 25,- für 18 DVDs, s. hier: http://bit.ly/i8KUxM ). Ohne die Revolutionen von ’89 und die derzeitige in Ägypten im Detail vergleichen zu wollen, muss man doch sehen, dass ein bestimmtes Muster wieder erkennbar ist:
    1) gewaltsame Repression von staatlicher Seite (damals: 7. und 8. Oktober ’89)
    2) völlige Lähmung der Führungsclique angesichts des Fortgangs der Proteste
    3) zögerliche und für eine Besänftigung viel zu geringe Konzessionen
    Einer der führenden Köpfe der damaligen Oppositionsbewegung sagt in der Doku, dass die Oppositionellen – aus Furcht vor einer Spaltung der Bewegung – damals froh waren, dass auf Honecker Krenz folgte (ein Apparatschik, von dem alles wussten, dass sich unter ihm nichts ändern würde) und nicht etwa Hans Modrow (der damals als moderner Reformer bekannt war), der es dann erst wurde, als für die SED wirklich nichts mehr zu retten war.

    Wenn ich die von Hilary Clinton und Angela Merkel auf der Münchener Sicherheitskonferenz gemachten Aussagen richtig deute, teilen sie meine Sichtweise zumindest insoweit, als der Wandel langsam und nachhaltig vonstatten gehen sollte – vor allem, weil der Aufbau einer unabhängigen Justiz, eines demokratischen Parteiensystems und einer freien Presse Zeit braucht.

  7. Wolfgang Fladung hat in seinem Beitrag sehr richtig bemerkt, daß in dieser Diskussion, beginnend mit Bronski, die Akzente doch ein wenig falsch gesetzt werden. Der Protest gegen Mubarak nährt sich doch erst in zweiter oder dritter Linie aus der Tatsache seines autokratischen Führungsstils. Was Bronski (und viele andere in den Medien) uns da vorerzählen wollen, die Geschichte vom heldenhaften Demonstranten, der für demokratische Reformen kämpft und gegen einen bösen Diktator, ist doch ziemlicher Unfug (Bronskis Einführung erinnert stellenweise an eine Art „Ägypten… nacherzählt von Hedwig Courts-Mahler“).

    Wie W.Fladung richtig beschreibt, liegt die Ursache der Unruhe in der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit für die Angehörigen des „youth bulge“, der zahlenmäßig explodierenden Anzahl der jungen Menschen in vielen arabischen Ländern. Wenn Ägypten eine perfekte Demokratie wäre, aber mit der gleichen wirtschaftlichen Hoffnungslosigkeit für die heranwachsenden Generationen, dann gäbe es doch ähnliche Unruhen, nur eben dann gegen „das System Demokratie“. Sich einzubilden, das das nicht so wäre, bzw. uns das weiszumachen, ist ein Fehler, der aber leider nun mal grassiert. Und so werden unsere Medien dann, wenn Unruhen in anderen Ländern aus den gleichen eigentlich wirtschaftlichen Gründen hochkochen, uns ähnliche Märchen aus 1001er Nacht erzählen: Marokko: „Das Volk hat die Nase voll von der Monarchie“. Saudi-Arabien: „Das Volk hat die Nase voll vom konservativen Islam“ usw.

    Ein Vergleich mit der ehemaligen DDR ist unpassend… weder ist in Ägypten die Reisefreiheit eingeschränkt gewesen noch ist die ägyptische Presse in dem Ausmaß gesteuert und zensiert wie es die der DDR war. Eine Vielfalt der Berichterstattung ist durchaus möglich, wenn proislamistische oder gegen die Regierung gerichtete Töne vermieden werden. Insofern braucht auch der „Aufbau einer freien Presse“ nicht viel mehr Zeit, als für die Einstellung der Tätigkeit der Zensurbehörden benötigt wird… sie ist nämlich schon da, wenn existierende Journalisten ihre existierenden Gedanken publizieren, statt sie für sich zu behalten oder zu verklausulieren. Jedenfalls: So kritikwürdig die Zustände in Ägypten auch sind, hier Vergleiche zu ziehen hieße die DDR zu verharmlosen.

    Der Aufbau eines modernen demokratischen Staats hingegen wird allerdings die Zeit wahrscheinlich mehrerer Generationen benötigen… die Frage ist nur, ob genügend Menschen dies überhaupt wollen (daß Bronskis Nilfischer aus Oberägypten nach Kairo gefahren sind, um dort zu demonstrieren, glaube ich z.B. nicht). Ich will einmal ein Detail herausgreifen, die Exekutive. Hat sich einmal jemand gefragt, wieso im Irak junge Männer in Scharen vor die Polizeiwachen strömen, wenn dort rekrutiert wird, obwohl die Chance dabei relativ hoch ist, in die Luft zu fliegen (oder auch während der täglichen Arbeit ein ähnliches Schicksal zu nehmen)? Warum bewerben sich junge Afghaner bei der Polizei, was gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit extrem erhöht, von Taliban oder den zahlreichen pro-taliban gesinnten Mitmenschen angefeindet oder gar um die Ecke gebracht zu werden? Der gutmeinende Deutsche wird sich einbilden: Nun, diese Menschen wollen eben dem Gemeinwesen nützen. In Wirklichkeit ist „Polizist“ ein finanziell einträglicher Beruf… allerdings nicht wegen des mageren (bis tw. nichtexistenten) Staatsgehalts. Kassiert werden hingegen Wegschaugebühr, Hinschaugebühr, Wegezoll usw. und das nicht zu knapp. Das ist nicht nur in Afghanistan und Irak so, sondern von Marokko bis in die Emirate, in unterschiedlichem Ausmaß. D.h. der Aufbau einer den Gesetzen und nicht dem Wohlstand der eigenen Person verpflichteten Exekutive hätte zunächst einmal die Aufgabe, hier Millionen Menschen UMZUERZIEHEN. Ähnliches gilt natürlich für Legislative und Judikative. Deswegen sprach ich weiter oben von „mehreren Generationen“.

  8. #7 J.Voeller

    Wenn ich Sie recht verstehe, geht es bei unseren Meinungsverschiedenheiten um keine prinzipiellen Unterschiede, sondern ausschließlich um mögliche weitere Entwicklungen, über die man im Grunde – vor allem aus der Ferne – nur spekulieren kann.
    Beispiel: Ihr Hinweis auf die Souveränität des ägyptischen Volkes. Selbstverständlich hat diese hohe Priorität. Das gehört aber Teil notwendigerweise zu den demokratischen Prinzipien, auf die ich in Punkt 2 hingewiesen habe (die ja aus der Sicht möglicher Reaktionen westlicher Staaten formuliert sind). Ich sehe hier auch keinen Widerspruch, im Gegenteil: Es soll keine westliche Position (mit verschleierten Interessen) aufgedrängt werden, sondern im Gegenteil die freie, souveräne Entscheidung von Menschen unterstützt werden, deren Rechte von einem totalitären Regime mit Füßen getreten wurde.
    Der entscheidende Punkt ist also: Wer ist in einer solchen revolutionären Situation der Souverän: das aufbegehrende Volk oder eine in Auflösung begriffene korrupte Regierung?
    Eine deutliche Erklärung, welche die Legitimität der Bewegung anerkennt und einem Regime, das sein eigenes Volk niederknüppeln lässt, unmissverständlich das Vertrauen und die Unterstützung entzieht, ist gerade Ausdruck des Respekts vor dem Souverän.
    Die Krux für gewählte Repräsentanten dagegen ist, dass sie sich im internationalen Verkehr eben auch an Repräsentanten anderer Staaten halten, ob demokratisch legitimiert oder nicht. Und dass dieser „diplomatische“ Umgang auch den eigenen Blickwinkel bestimmt. Da passen Umwälzungen, die immer mit Unsicherheit verbunden sind, nicht ins Konzept, und mögen sie auch den eigenen Prinzipien noch so sehr entsprechen.
    Demnach entsprechen die von Ihnen angesprochenen Erklärungen von Clinton und Merkel dem, was zu erwarten war. Sie (und noch weniger das Nicht-Verhalten der offensichtlich überforderten Frau Ashdon) überzeugen mich aber keineswegs.
    Was nach außen hin wie eine Nichteinmischung aussehen soll, ist doch in Wirklichkeit eine Misstrauenserklärung gegenüber dem ägyptischen Volk, dem die Organisierung dieses „gewaltfreien Wandels“ nicht zugetraut wird, wohl aber einem korrupten Regime. Solche Appelle mögen schön klingen, sie eröffnen aber dem Regime, wenn sie nicht mit dem Entzug der Unterstützung verbunden sind, die Möglichkeit, die Schuld für die von ihm selbst provozierte Gewalt dem Volk in die Schuhe zu schieben und seine Macht wieder zu stabilisieren. Denn wer wird wohl die Untersuchungen über die Gewaltaktionen leiten und mit welchem vorhersehbaren Ergebnis? Und wie soll der „Aufbau einer unabhängigen Justiz, eines demokratischen Parteiensystems und einer freien Presse“ denn von statten gehen, wenn nicht zuvor das korrupte Regime abgelöst ist (mit allen wichtigen Machtbastionen – da haben Sie sicher Recht), das eben dies drei Jahrzehnte lang verhindert hat?
    Was den Vergleich mit der Wende 89 angeht, möchte ich keine bestimmte Position eingehen. Um dies zu untermauern, müsste man schon sehr ins Detail gehen, in dem bekanntlich der Teufel steckt. Nur so viel: Damals stand ein „großer Bruder“ Pate, der alles andere als „neutral“ war – nicht in Form offener Einmischung, sondern durch seine bloße Präsenz und als reale Alternative.
    Mit freundlichen Grüßen
    Werner Engelmann

  9. Ob all die uns Regierenden, egal ob jetzt Frau Merkel oder Andere, die plötzlich die Liebe zur Demokratie in sich entdecken, auch die gleichen Worte finden würden, wenn es sich um einen Aufstand in China (die kaufen deutsche Edelkarossen) oder Saudi-Arabien/Emirates (die liefern unser Öl) handeln würde, möchte ich anzweifeln. Das gleiche gilt für die lupenreine Demokratie Rußland, weil wir dann unsere demokratischen Symphatien vielleicht in kalten Räumen, weil das Erdgas abgedreht wurde, ausleben müßten.

    Und wer es wirklich ernst meint, sollte sich vielleicht in der Kneipe ein vegetarisches Essen bestellen, anstelle beim Rindersteak über Demokratie und Solidarität zu faseln. Denn das Kraftfutter, was die Wiederkäuer in Argentinien und anderswo verdrücken, ist womöglich genau das potentielle Brot, welches den armen Schluckern in Nordafrika und anderswo, weil zu teuer, fehlt. Falls jetzt jemand fragen sollte: Wie hältst es Du eigentlich, sage ich: Meine Frau und ich sind uns einig geworden, sodaß wir unseren Fleischkonsum um mindestens 50% heruntergefahren haben. Ganz vegetarisch geht es noch nicht, aber wir haben uns auf die Suche nach guten
    Alternativen gemacht.

    Zumindest gibt die Situation wieder „Futter“ für unsere Kabarettisten, und das ist auch schon mal was. Ich verspreche, wir werden die nächste Zeit noch viel zum Lachen haben.

    Und danke, Max Wedell, für die Zustimmung in #8.

  10. #9, Werner Engelmann:
    Ich habe doch gerade betont, dass ich nicht einen generellen Vergleich zu ’89 ziehen will, sondern nur hinsichtlich der Psychologie und eines Verhaltensmusters einer die Macht langsam aber unweigerlich verlierenden Führungsclique. Wenn ich daran erinnern darf: eine Parallele zu ’89 habe zuerst Sie gezogen mit Ihrem Verweis auf Gorbatschow, im Hinblick auf die historische Dimension des Moments. Da hat Ihnen auch niemand – auch ich nicht – einen allgemeineren Vergleich unterstellt, den man im Detail unersuchen müsste, um dann auf die Unterschiede hinzuweisen.

    Natürlich ist der Souverän das ägyptische Volk. Es muss sich von selbst der Diktatur entledigen. Eine eindeutige Parteinahme westlicher Regierungen würde die Oppositionsbewegung nicht stärken, sondern schwächen. Die Regierung könnte dann den Vorwurf einer Bedrohung von außen erheben, der in Ägypten auf besonders fruchtbaren Boden fällt (verständlicherweise, wenn man sich die Geschichte ansieht, in der es öfter Fremdherrschaft gegeben hat). Wer dann weiter protestiert, kann leicht als Verräter verleumdet werden. So könnte zum Einen der Versuch einer gewaltsame Auflösung der Proteste (der in ein Blutbad münden könnte) propagandistisch vorbereitet werden, zum anderen wäre die gesamte Bewegung und auch eine etwaige Übergangs- oder Nachfolgeregierung mit einem ernsten Makel behaftet.

    Sie sagen in Bezug auf Clinton und Merkel, dass das, „was wie eine Nichteinmischung aussehen soll, … in Wirklichkeit eine Misstrauenserklärung gegenüber dem ägyptischen Volk“ ist. Was hier als Tatsachenbehauptung geäußert wird, ist in Wirklichkeit eine Interpretation. Eine andere mögliche Deutung ist weit optimistischer: die schaffen das auch alleine, nur eben nicht von heute auf morgen – also ein Vertrauensbeweis.

  11. Die „Arabische Welt im Überblick“ ist in ihrem Desaster nicht zu verstehen, wenn nicht die Bevölkerungsentwicklung (Bevölkerungszahlen absolut, Anteil der jugendlichen Bevölkerung, Geburtenraten) kritisch miterörtert werden.

    Die DDR ist letztlich daran gescheitert, dass SED-Führung und Bevölkerung die Warnung Erich Honeckers nicht umgesetzt haben, „dass nur das verbraucht werden kann, was vorher erarbeitet wurde“ (IX. Parteitag der SED, Mai 1976). Nicht nur in den muslimisch beherrschten Ländern der arabischen Welt wird diese Erkenntnis mehrfach missachtet. Zudem werden mit unglaublichen Vermehrungsraten (Bevölkerungsexplosion) zusätzlich immer mehr Konsumenten und Arbeitsplatzsuchende in die ohnmächtigen Volkswirtschaften hineingeboren, was soziales Elend zusätzlich beschleunigt. Wenn die arabischen Muslime ihr Fertilitätsverhalten nicht den westlichen Demokratien anpassen, wird jedwede politische Veränderung am Elend dieser Völker nichts ändern.

    Scheinbar hat das boomende muslimische Schwellenland Türkei diese Fehlentwicklung bewältigt. Das aber schaffte sie nur, weil sie u.a. mehr als 2,5 Millionen unterqualifizierte anatolische Bauern und Hirten allein in das deutsche Sozial-/Wirtschaftssystem auslagern konnte. Diesen Negativtransfer aus dem arabischen Raum werden die EU-Staaten nicht dulden können.

  12. Zwei Nachrichten, die zur Kenntnis zu nehmen sich vielleicht lohnt:
    1. Eine Journalistin aus Gaza, nach Ägypten gereist und danach unverzüglich von der Hamas ins Gefängnis gesteckt. Sie hätte, bevor sie sich zu Ägypten äußert, gefälligst abwarten sollen, bis klar ist, wer schließlich die Oberhand behält.
    2. François Fillon, französischer Premierminister, wurde von den revolutionären Ereignissen in Kairo auf dem linken Fuß erwischt: War er doch eben erst mit seiner Familie im Privatjet Mubaraks vom Weihnachtsurlaub in Abu-Simbel zurückgekehrt.
    So ein Pech!
    Quelle: Le Canard enchaîné
    Und Frau Merkel und Frau Clinton üben sich in weiser Zurückhaltung und ermahnen die Ägypter, doch bitte, bitte nichts zu überstürzen.
    Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!

  13. Nun ist Mubarak tatsächlich weg. Was passiert wohl jetzt? In welcher Form wird der Westen Ägypten unterstützen? Ich hoffe das Beste …

  14. „Diesen Negativtransfer aus dem arabischen Raum werden die EU-Staaten nicht dulden können“

    „nicht dulden können“ bedeutet aber in diesem Fall leider nicht „nicht dulden“. Schon über das „Können“, d.h. die Kapazitäten unseres Sozial-/Wirtschaftssystems herrschen ja hierzulande die aberwitzigsten Vorstellungen… besteuerte man die Reichen nur angemessen, sind sie ja praktisch unendlich.

    Vorhuten deuten sich schon an (siehe momentane Schlagzeilen „Tunesischer Exodus nach Italien dauert an“ o.ä.), das wird erst der Anfang sein. Und die vergangene verbreitete Berichterstattung europäischer, deutscher und sonstiger westlicher Schuld an den Verhältnissen in der arabischen Welt (durch „Unterstützung“ dortiger Diktaturen) hat den Boden weiter gedüngt dafür, daß ein Heer von Gutmeinenden jede Abwehrpolitik ablehnen wird, nach dem altbekannten Motto: Erst haben wir sie in der Kolonialzeit ausgebeutet, anschließend die Diktatoren etabliert oder gestützt, die sie drangsalierten… da ist es unsere verdammte Pflicht, sie jetzt auch reinzulassen, wenn sie aus der wirtschaftlichen Not flüchten, die ja praktisch schon wir selber dort angerichtet haben.

    Jedenfalls ist jetzt die Frage, wie lange es dauern wird, bis auch die Ägypter realisieren, daß die Absetzung Mubaraks nichts am eigentlichen Problem ändern wird, und ein Flüchtlingsstrom nach Europa in Bewegung kommt. Das „ob“ steht für mich fest, das „wann“ hängt davon ab, wie lange die jetzige Phase der Euphorie die Sinne noch benebeln kann.

Kommentarfunktion geschlossen