In München wird es auch in Zukunft keine „Stolpersteine“ geben. Dabei handelt es sich um kleine Messingplatten, die in die Gehwege eingelassen werden. Hier in Offenbach gibt es eine ganze Menge davon, in Frankfurt ebenfalls vor deren ehemaligen Häusern sie angebracht werden. Sie erinnern daran, dass in den Häusern, vor denen sie angebracht sind, Nazi-Opfer gelebt haben. Jeder Stolperstein steht für ein Schicksal. Die Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig. München möchte sie nicht, weil sie „von manchen Angehörigen als unwürdige Form des Gedenkens empfunden“ werden, heißt es in einer dpa-Meldung. , da die Opfer „erneut mit Füßen getreten und erniedrigt“ würden.
FR-Autor Arno Widmann bedauert diese Entscheidung des Münchner Stadtrats. Er schreibt in seinem Artikel „München verbietet Stolpersteine„:
„Das stärkste Argument für die Stolpersteine ist aber das, was Frau Knobloch als Gegenargument anführt. Der Passant tritt zwar nicht die Toten mit Füßen, aber er wird daran erinnert, dass genau das hier geschah. Er wird daran erinnert nicht nur durch die Aufschrift der Messingplatte, sondern durch seinen eigenen Körper. Er tritt jetzt die Gedenkplatte mit Füßen. Dieses Gefühl hat auch, wer sich darüber nicht im Klaren ist.“
Für mich persönlich ist die Begegnung mit Stolpersteinen, vor allem die unerwartete, eher mit gedanklichem Stolpern verbunden. Das Auge erwartet diese Begegnung nicht, doch plötzlich mit dem Gedenkstein konfrontiert, ist es, als würde die Vergangenheit plötzlich in meine Gegenwart mit ihren relativ banalen Problemen hereinbrechen: Hier ist es passiert. Hier wurden damals Menschen aus ihren Häusern geholt, die bis dahin friedlich zwischen anderen Menschen gelebt haben. Genau hier, wo jetzt wieder Menschen leben, die vom damaligen Geschehen vermutlich keine Ahnung hätten, wenn es den Stolperstein vor diesem Haus nicht gäbe. Insofern leuchtet auf den ersten Blick ein, dass die Stolpersteine ein sinnvolles, förderungswürdiges Projekt sind.
Das meint auch Klaus Philipp Mertens aus Frankfurt:
„Stolpersteine machen deutlich, dass die Opfer des Nazi-Regimes mitten unter der damaligen Bevölkerung lebten. Solange, bis sie in die Vernichtungslager deportiert wurden. Heute stolpert man über diese besonderen Erinnerungsmale. Wobei man eher mit den Blicken an ihnen hängen bleibt, als bewusst auf die kleinen Messingplatten zu treten. Und man fragt sich, warum die Mehrheit der damaligen Bevölkerung angeblich von diesen Vorgängen nichts davon bemerkt haben will. War es Angst, war es Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung?
Der Münchener Stadtrat hat erneut das Anbringen von Stolpersteinen im öffentlichen Raum verboten. Und damit eine Chance nicht genutzt, um ein deutliches Zeichen zu setzen. Beispielsweise gegen fremdenfeindliche Vereinigungen wie Pegida und AfD. Mutmaßlich geschah das Festhalten an dem Verbot aus Rücksicht auf Charlotte Knobloch, der Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde und der CSU nahestehend. Aber deren Argumente sind schwach. Das Stolpern über Steine, die der Erinnerung dienen, hat nichts mit dem Treten auf einen am Boden liegenden Juden, Sinti, Roma, Homosexuellen, Kommunisten oder Sozialdemokraten zu tun.
Zudem kennt auch das traditionelle Judentum Erinnerungssteine. Beim Besuch eines Grabes wird vielfach ein Zettel auf dem Grabstein hinterlassen, der mit einem kleinen Stein beschwert wird (und kein Mensch kommt auf den Gedanken, dass damit die Grabstätte traktiert wird). Die Zettel sind irgendwann fort, aber die Steine bleiben als Zeichen der Verbundenheit der Lebenden mit den Toten.“
Edgar Weick aus Frankfurt hingegen hat Kritik an der Praxis der Stolpersteine:
„Die Erinnerung bedarf der Bewegung. Das ist der einzige Gedanke in dem Artikel von Arno Widmann, dem ich uneingeschänkt zustimmen möchte. Die Erinnerungskultur ist in der Tat vielfach in Ritualen erstarrt. Darüber gibt es allerdings seit langem auch eine kritische Diskussion und vor allem in der Jugendarbeit, in der politischen Bildung und in der verdienstvollen Arbeit der Gedenkstätten. Gerade dort werden neue Wege eingeschlagen, aus Erfahrungen der Geschichte zu Erkenntnissen über die Geschichte zu kommen. Ein ausgezeichnetes Beispiel ist dafür auch das jetzt eröffnete NS-Dokumentationszentrum München, das bewusst als „Lern- und Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus“ konzipiert und realisiert wurde. Wer aus aktuellen Gründen das Bedürfnis hat, über die Stadt München ein Urteil zu fällen, der tut gut daran, dieses NS-Dokumentationszentrum mit einzubeziehen.
Widmanns Artikel ist ein Plädoyer für die „Stolpersteine“. Dieses große Erinnerungsprojekt der „Stolpersteine“ wird getragen von ungezählten Menschen, für die die Verlegung eines solchen Gedenksteines Anstoß und Anlass ist, die Lebensgeschichte der Opfer zu erforschen und zu dokumentieren. Durch diese Recherchen hat die Leidensgeschichte dieser Menschen vor allem in der Umgebung ihrer früheren Wohnorte eine große Aufmerksamkeit gefunden. Konkret wird durch diese Arbeit: Der NS-Terror hat sich im Alltag zugetragen, in aller Öffentlichkeit und in der erlebbaren Nähe geschah das, worüber all zu oft so geredet wird, als hätte das alles in einer anderen Welt stattgefunden.
Für den Initiator dieses Projekts, Günter Demnig, stehen die „Stolpersteine“ im Vordergrund, nicht diese Recherchen. Die „Stolpersteine“ sind sein „Kunstwerk“. Zu seinem „Geschäftsmodell“ gehört, dass er entscheidet, was auf diesen „Stolpersteinen“ stehen darf. Daran haben sich inzwischen immer mehr und immer wieder neue Konflikte entzündet. Diejenigen, die die Lebensgeschichten kennen, suchen nach angemessenen Worten, die einen Aussage- und Informationsgehalt haben und stoßen dabei auf eine schwer zu ertragende Ignoranz des Künstlers.
An einem konkreten Beispiel will ich das erklären. Wir, die AG Geschichte und Erinnerung, wollten in Frankfurt-Höchst „Stolpersteine“ für Menschen verlegen, die 1938 durch eine Zwangsausweisung nach Polen Deutschland verlassen mußten. Heuten wissen wir, daß diese Zwangsaussweisung der Anfang des Genozids war. Diese Abschiebung wird im nationalsozialistischen Sprachgebrauch mit dem Begriff „Polenaktion“ verschleiert. Wir wollten daher diesen Begriff – und auch weil er inhaltlich gänzlich unverständlich ist – auf gar keinen Fall auf den „Stolpersteinen“ verwenden. Mit Herrn Demnig war darüber keine Verständigung zu erzielen. Er bestand darauf, dass „Polenaktion“ auf den Stolpersteinen stehen muss. Auch an einer Formulierung, die im Gedenkbuch des Bundesarchivs zu finden ist, wie „1938 Zwangsausweisung nach Polen“, war Herrn Demnig überhaupt nicht interessiert. Er rechtfertigte sich damit, dass die Menschen nicht so dumm seien und sehr wohl verstünden, was damit gemeint sei.
Herr Demnig rühmt sich der großen Zahl der „Stolpersteine“, die er inzwischen verlegt hat – und auch der Auszeichnungen, mit denen er geehrt wurde. Der Mythos, der die „Stolpersteine“ umgibt, macht es ihm leicht, jegliche Diskussion über eine aufklärende Erinnerungskultur und ein Nachdenken über angemessene Beschriftung abzuwehren. Ich war jahrelang aktiv an der Verlegung von „Stolpersteinen“ beteiligt und beobachte wo immer ich auch hinkomme das Verhalten der Menschen, die über solche „Stolpersteine“ gehen, sie dann eventuell auch wahrnehmen und lesen, was auf ihnen steht. Ich kann den Wunsch verstehen, den auch Arno Widmann in seinem Artikel ausspricht, dass über die Füße, über ein Körpergefühl, durch ein Bücken und ein sich Verneigen müssen bei den Menschen etwas ankommt. Widmann versteigt sich sogar zu der Erwartung „Sein Körper, könnte man sagen denkt mit.“ Das aber ist in hohem Maße eine Konstruktion, die gänzlich die Realität der Wahrnehmung dieses Kunstwerks durch die meisten Menschen, die angesprochen werden sollen, ignoriert.
Ob die Stadt München sich mit ihrer Haltung gegenüber dem Projekt „Stolpersteine“ nicht dennoch offener zeigen sollte, das ist für mich keine so entscheidende Frage. Vielmehr wäre darüber nachzudenken, wie mit nachvollziehbaren Einwänden umgegangen wird. Hätte Ignaz Bubis in Frankfurt eine ähnliche Haltung eingenommen wie die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Charlotte Knobloch in München, dann gäbe es auch in Frankfurt für jüdische Opfer keine „Stolpersteine“. Wem Erinnern und erinnert werden eine ernste Sache ist, darf die Sensibilität gegenüber den Menschen nicht verlieren, die mit ihrem Leben Teil der Geschichte sind, um deren „Vergegenwärtigung“ es geht.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn auch nur etwas Bewegung in dieses Erinnerungsprojekt „Stolpersteine“ käme und der Künstler respektieren könnte, wer zur Popularität seines Kunstwerks durch jahrelange Recherchen und umfangreiche Dokumentationen beitragen hat und er zulassen könnte, dass gerade bei den minimalistischen Informationen auf diesen kleinen Messingtafeln über jedes Wort nachgedacht werden müsste. Kompetent sind bei diesem Nachdenken diejenigen, die recherchiert haben und die Lebensgeschichte in ihrem geschichtlichen Kontext kennen.
Doch gerade mit diesen Leuten will Herr Demnig nichts zu tun haben, wie wir von der AG Geschichte und Erinnerung in Frankfurt-Höchst neulich in der Frankfurter Rundschau lesen mussten. Es gibt viel Bewegung in der Erinnerungskultur, an der Herr Demnig nicht teilhaben will. Daher muss, wenn jetzt der „Fall München“ wieder so große Wellen schlägt, auch das „Geschäftsmodell“ des Künstlers Demnig mit seinem Anspruch auf eine alleinige Entscheidung über die Inschriften der „Stolpersteine“ zur Diskussion gestellt werden.“
Hier noch ein Nachtrag zu meinem Leserbrief, der in der FR am 6. August abgedruckt wurde und den Bronski in seine Einleitung mit einbezogen hat.
Edgar Weick verweist in seinem Leserbrief zutreffend darauf, dass sich der NS-Terror vor den Augen der Öffentlichkeit zugetragen hat. Günter Demnig, der Initiator der „Stolpersteine“, verlegt darum seine Steine des Anstoßes und Nachdenkens exakt dort, wo die Opfer gelebt und wo sie (zumeist) keine Unterstützung von ihren Nachbarn erfahren haben. Und er bedient sich dabei mitunter sogar der Sprache der Täter. Sicherlich nicht, um diese nachträglich salonfähig machen zu wollen. Sondern um an einem falschen politischen und moralischen Bewusstsein anzuknüpfen, dass noch lange nach dem Ende der Nazi-Herrschaft in der Bevölkerung anzutreffen war. Und dass durch fremdenfeindliche und rassistische Parolen zurzeit erneut aufflammt.
Ob man Demnigs Aktion als „Geschäftsmodell“ bezeichnen soll, weil er seine Idee vermarktet, sei dahingestellt. Es gibt bekanntlich auch sinnvolle und faire Geschäfte, beispielsweise Verfassen, Produzieren und Vertreiben von Büchern und Zeitungen, von denen nicht wenige eine nachhaltige positive Wirkung haben. Für mich ist der Anstoß zum Weiterdenken, den Stolpersteine geben können, das entscheidende Kriterium. Die Möglichkeit, unvermittelt in historische Vorgänge quasi einbrechen zu können, sollte nicht unterschätzt werden. Das macht tiefergehende Recherchen nicht überflüssig, sie ermöglicht sie in vielen Fällen erst. Und dass man hier und da bei seinen eigenen erlernten bzw. angenommenen Vorurteilen abgeholt wird, also bei der je verinnerlichten Tätersprache, muss kein Nachteil sein.
So habe ich als Angehöriger der Nachkriegsgeneration bis zum Ende meiner Schulzeit (1967) im eher dürftigen Geschichtsunterricht über das „Dritte Reich“ noch Begriffe wie „Reichskristallnacht“, „Polenaktion“ oder „Arbeitslager“ gelernt. Und wenn wir in der Klasse lärmten, rief uns mancher Lehrer mit Redensarten wie „Hier geht es zu wie in der Judenschule, alle quatschen durcheinander“ zur Ordnung. Und gelegentlich drohte einer: „Wir werden das üben bis zur Vergasung!“.
Ebenso sind mir und meinen Mitschülern Schlagworte wie „Durchführung“, „Doppelverdiener“, „Einsatz“, „Frauenarbeit“, „Kulturschaffende“, „Querschießen“, „Sektor“ oder „tragbar – untragbar“ so nachdrücklich vermittelt worden, dass es erst der Lektüre des Buches „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W. E. Süskind bedurfte, um mich aus Joseph Goebbels‘ Giftküche zu befreien. Das war Mitte der 70er Jahre. Meine Lehrer hingegen hätten es wissen können, sogar wissen müssen. Denn die Kapitel dieses „Wörterbuchs“ waren bereits 1945/1946 als Zeitschriftenbeiträge erschienen, 1957 dann zum ersten Mal als Buch (1958 kam ich in die Sexta).
Wer heute im Sinne einer umfassenden politischen und historischen Aufklärung Bewusstsein schaffen und nicht zuletzt an die Verbrechen des Nationalsozialismus konkret, also auf die Millionen Einzelfälle bezogen, erinnern will, kommt nicht daran vorbei, die Menschen dort abzuholen, wo sie sich (zum Teil noch immer oder bereits erneut) gedanklich befinden – was ja keine Bestätigung ist. Damit sie sich anschließend über ihre Leichtgläubigkeit und ihre Verführbarkeit entsetzen können. Dazu vermag ein Stolperstein nur erste Anstöße geben. Würde er sich aber von vornherein einer politisch korrekten Sprache bedienen, verfehlte er möglicherweise seine Absicht, geriete zu einem Alibi.
Wer sich die vor allem von Boulevardpresse und populistisch agierenden Politikern benutzten Phrasen genauer anschaut, wird feststellen, dass die Sprache der Unmenschen längst wieder in Gebrauch ist. Selbst große überregionale Tageszeitungen haben sich bis in die 80er Jahre(und einige darüber hinaus) von Fall zu Fall einer undemokratischen Sprache bedient. Hier sei verwiesen auf das 1980 erschienene Buch von Horst Pöttker: „Zum demokratischen Niveau des Inhalts überregionaler westdeutscher Tageszeitungen: Wissenschaftstheorie und Methodologie, normative Demokratietheorie, quantitative Inhaltsanalyse“.
Aber um undemokratische Sprache und populistische Phrasen zu demaskieren, ist es notwendig, sie zu zitieren, um sie anschließend zu analysieren und zu verwerfen. Dazu reicht ein Stolperstein allein nicht aus. Aber ohne ihn versänke die Kritik möglicherweise im Pluralismus einer Gesellschaft, die nicht (mehr) in der Lage ist, zu trauern und zu beklagen.
Man kann für oder wider die Stolpersteine mehr oder weniger subtil argumentieren. Ich versuch’s mal banal. Wenn ich als kleiner Bub in Offenbach neben meinem Vater herging und mein kriegsversehrter Vater stolperte mit seinem lahmen Fuß, dann schimpfte er: „Hier liegt en Jud begrabe!“ Und dieser Spruch, den ich noch öfter, nicht nur von meinem Vater, hörte, kam mir sofort in den Sinn, als ich von dem Projekt der Stolpersteine erfuhr. Ich bin mir nicht sicher, ob die Wahl des Begriffs „Stolperstein“ auf ironische Weise verhindern soll, daß unsere Erinnerung an die Opfer eines Ungeistes, von dem wir uns befreit wähnen, verlorengeht. Es würde mir aber einleuchten.
Sehr schwierig, dazu etwas zu sagen.
Zunächst einmal stört mich, daß jemand glaubt, er müsse sich meines Gedenkens bemächtigen und mir vorschreiben, wo und wann ich mich zu erinnern habe.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich angesichts eines Hauses oder einer Haustür zu vergegenwärtigen, daß darin Menschen gewohnt haben, denen Leid angetan wurde.
Zum zweiten stört mich, daß das angeblich dezentrale Denkmal in Wahrheit ein zentristisches ist, weil es ein und dasselbe Schema der Erinnerung lediglich vervielfältigt und von nur einem Künstler beansprucht wird. Die Aktion ist wenig kreativ und wenig original.
Drittens gehören Stolpersteine doch wohl eher vor die Tätertüren. Mindestens wäre doch zu klären, warum man immer nur an die Opfer erinnert, nicht aber an die Täter. Wenn man Unrecht verhindern will, sollte man sich doch eher daran erinnern, wer es tat, warum und wie er es getan hat.
Viertens ist diese Aktion psychologisch kontraproduktiv bis diskriminierend, da nicht Tat oder Täter, sondern das Opfer als störend dargestellt wird. Auch soll man die Toten ruhen lassen.
Fünftens ist die Mitleidsfähigkeit der Menschen begrenzt. Wenn man sie überfordert, stumpft sie ab. Wenn man in angemessener und analoger Weise aller Opfern der Unmenschlichkeit gedenken wollte, wäre die Welt zugepflastert mit Steinen, über die niemand mehr stolperte.
Sechstens ist mehr als beschämend, daß vor den Türen der Opfer den Tätern und den Taten ein indirektes Denkmal gesetzt wird. Mein Vater ist von den Nationalsozialisten als Soldat mißbraucht worden und sie haben sein Leben zerstört. Soll ich vor seine Haustür auch noch ein Steinchen legen, das ihn zeitlebens daran erinnert?
Es geht nicht bloss um das Erinnern, es geht auch um das Vergessen.
Hier in Hamburg wurden bisher mehr als 5000 Stolpersteine verlegt, ein Ende ist noch nicht absehbar. Parallel dazu wurden bisher 16 Bücher (weitere folgen) mit Biographien der von den Nazis ermordeten Menschen veröffentlicht. Wenn sie nur eines der Bücher lesen, werden sie auch auf die Täter aufmerksam, die mitten unter uns lebten oder noch leben. Für die ermordeten Menschen gibt es keinen Friedhof,keine Grabstelle, wo überlebende und nachgeborene Angehörige trauern können. Die Angehörigen vergessen nicht.
So weit ich weiß, werden die Angehörigen bzw. Nachkommen der Opfer, derer mithilfe von Stolpersteinen gedacht werden soll, gefragt, ob sie mit dieser Art des Erinnerns einverstanden sind; zum Teil veranlassen sie selbst die Verlegung dieser Steine. Deshalb empfinde ich sie grundsätzlich als angemessene Form des Gedenkens, als einen Anlass, sich mit begangenem Unrecht zu konfrontieren. Frau Knobloch sollte bedenken, dass es schon lange eine Form gibt, Menschen zu ehren, indem man ihre Namen auf den Gehweg schreibt: die Sterne für die Künstler in Hollywood und mittlerweile auch in anderen Städten. Ich habe noch nie gehört, dass sich einer der dort Verewigten von den Passanten mit Füßen getreten gefühlt hätte.
Klaus Philipp Mertens‘ Argument, man müsse das alte nationalsozialistische Vokabular verwenden, um Menschen dort abzuholen, wo sie sich befinden, überzeugt mich nicht. Spätestens seit den 70er Jahren werden in den Schulen eben nicht mehr diese verfälschenden Begriffe verwendet, wie er sie selbst als Jugendlicher kennengelernt hat. Warum sollten sie also auf den Stolpersteinen verewigt werden? Das öffentliche Bewusstsein ist – von ein paar Unbelehrbaren abgesehen – längst weiter, und auch der Durchschnittsdeutsche hat das Stadium der Verschleierung der Naziverbrechen mittlerweile verlassen.
Liebe Brigitte Ernst,
Ihren Vergleich mit dem Walk of Fame in Hollywood mit seinen fünfzackigen Sternen finde ich überaus treffend und beispielgebend. Allerdings sollten in die Stolpersteine doch sechszackige Sterne eingelassen werden. Ich könnte mir vorstellen, daß dies eine besondere Qualität des Gedenkens in den Passanten wachrufen würde.
Warum sollte man nicht das überkommene nationalsozialistische Vokabular verwenden? Ich finde beispielsweise den modernen Begriff „Reichspogromnacht“ wenig aussagekräftig; zudem steckt auch hier noch der von den Nazis mißbrauchte Terminus „Reich“ drin. Wieviel illustrativer ist da doch die „Reichskristallnacht“, ein Wort voller ironischer Häme. Man hört förmlich die Scheiben der Synagogenfenster und der Schaufenster jüdischer Geschäfte klirren, man hört den Mob grölen, das Wehklagen der betroffenen Juden hört man hingegen nicht.
Rücksicht auf uns selbst ist nicht angebracht. Wir sollten mit Begriffen aus dem Wortschatz der Unmenschen ohne Scheu umgehen.
Zu # 5 Brigitte Ernst
Liebe Britte Ernst,
in meiner Berufspraxis erlebe ich häufig, dass die Sprache der Nazis auch noch nach dem Ende ihrer Gewaltherrschaft in das öffentliche Bewusstsein eindringen und sich bis heute darin festsetzen konnte. Ich führe das auf ein Versagen sowohl der Politik als auch der Schule zurück. Ein Gymnasiallehrer, der sich selbst als „links“ und „progressiv“ charakterisierte, gestand am Rande einer Literaturlesung ein, von Victor Klemperers „LTI – Lingua Tertii Imperii“ noch nie etwas gehört zu haben. Ich befürchte, er steht mit diesem Nichtwissen nicht allein.
So bewerben sich junge Menschen im Alter von Mitte 20, überwiegend mit abgeschlossenem Studium, bei den Verlagen, für die ich arbeite, und verweisen auf diverse erfolgreiche „Einsätze“ in vergleichbaren Berufsfeldern. Gemeint waren vorangegangene Praktika nicht etwa bei Bundeswehr, Polizei oder Feuerwehr, sondern in kaufmännischen Berufen. Ihr Berufsziel sei eine Tätigkeit mit engen Kontakten zu Autoren und anderen „Kulturschaffenden“. Die von den Nazis betriebene Militarisierung des Alltags (Arbeit als Einsatz deklariert) scheint zementiert zu sein. Ebenso wie die Vorstellung von Kultur als einem reinen Produkt.
Eine junge Frau, die wider Erwarten doch noch den gewünschten Studienplatz bekommen hatte, bekannte „einen inneren Reichsparteitag“ erlebt zu haben, als sie die gute Nachricht erhielt.
Deswegen halte ich es für notwendig, das Gedenken an die Opfer mit einer Entlarvung der Sprache ihrer Peiniger zu verbinden – und das nach Möglichkeit auch auf den „Stolpersteinen“. Andernfalls läuft diese Gesellschaft Gefahr, über alles Anstößige teilnahmslos hinweg zu sehen. Sogar eine neue Sprache zu erfinden, die positionslos und vermeintlich pluralistisch-neutral zu einer neuen Geschichtsklitterung und einem Sich-abfinden-Müssen/Wollen beiträgt.
Nicht abfinden wollte sich vor 2 ½ Jahren ein Lehrer in Limburg (Lahn), als er auf den Zugangswegen zu zwei Schulen Nazi-Symbole an Laternenmasten und Mülltonnen entdeckte. Er forderte das zuständige Ordnungsamt auf, die Schmierereien noch vor dem Ende der Osterferien zu beseitigen, da er diese seinen Schülern nicht zumuten wollte. Doch nichts geschah. Da griff der verantwortungsbewusste Pädagoge zur Selbsthilfe und schabte die Aufkleber ab bzw. übersprühte rassistische Graffitis mit schwarzer Farbe. Wenige Monate danach erhielt er eine Kostenrechnung der Stadt Limburg über die Beseitigung von Sprühfarbe. Als er gegen den Bescheid Einspruch einlegte und gegen den Verantwortlichen des Ordnungsamts eine Dienstaufsichtsbeschwerde wegen Untätigkeit einreichte, wies der Bürgermeister letztere zurück und stellte trotz eindeutig dokumentierter ursprünglicher Sachlage in Zweifel, ob es sich tatsächlich um verfassungsfeindliche Symbole gehandelt habe. Anscheinend haben Hakenkreuze in der von der CDU regierten katholischen Bischofsstadt auch noch eine andere Bedeutung.
Das Amtsgericht Limburg verurteilte den Lehrer im Dezember 2014 zur Zahlung der (allerdings vorher von 3.278 Euro auf 991 Euro verminderten) Kostenrechnung (die FR berichtete darüber). Gegen dieses Urteil legte der Lehrer Berufung beim Landgericht Limburg ein.
Obwohl das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, veröffentlichte die Stadtverwaltung einen Brief des Beklagten an das Ordnungsamt mit dessen Privatanschrift. Die Folge sind anonyme Drohanrufe und Sachbeschädigungen.
Dieses Beispiel zeigt, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir in der Art eines tüchtigen Buchhalters Willkür gleich welcher Art nur noch zur Kenntnis nehmen und sie als Vorgang ablegen.