Hartz IV muss nicht weg, es braucht jedoch Reformen

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz besorgt seiner Partei einen lange nicht erlebten Höhenflug in allen Umfragen. Tausende überwiegend junger Leute sind in die SPD eingetreten, seit er der Partei nach Gabriels Coup Gesicht gab. Ein Regierungswechsel bei der Bundestagswahl am 24. September scheint derzeit nicht ausgeschlossen. Derweil arbeitet der Kandidat an seinem Programm. Nach und nach erfährt man Bröckchen von dem, was er sich für den Fall vornimmt, dass er der nächste Kanzler wird: Zum Beispiel will er der Agenda 2010 etwas von ihren Härten nehmen, was ihm prompt die Kritik neoliberaler Leuchttürme einträgt; so falsch kann er also wohl nicht liegen. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hingegen begrüßte die Pläne. Die SPD zeigt also erste Anzeichen für eine Korrektur ihrer Agenda-Politik, die von vielen Zeitgenossen für ihre langjährig schlechten Ergebnisse bei Bundestagswahlen verantwortlich gemacht war. Warum die Agenda 2010 damals, zu Beginn des Jahrtausends, grundsätzlich trotzdem der richtige Schritt gewesen sein könnte, das analysiert FR-Autor Stefan Sauer im Artikel „Schulz stößt Reform-Streit an“ . Eine Bestandsaufnahme versucht der Artikel „Agenda 2010 – Was hat sie gebracht?“ .

Natürlich kriegt Schulz Druck. Weniger von der politischen Konkurrenz, also CDU/CSU, die intern zerstritten ist und auf den Schulz-Coup zunächst wie gelähmt reagierte. Es sind eher die möglichen Koalitionspartner von der Linken, die ihm einheizen. Parteichef Bernd Riexinger mahnt ihn im FR-Gastbeitrag, dass die SPD ihre Versprechen nicht vergessen dürfe. Und der Armutsforscher Christoph Butterwegge, erst kürzlich mit einem achtbaren Ergebnis bei der Wahl zum Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier unterlegen, schrieb einen offenen Brief, den auch die FR prominent veröffentlicht hat: „Lieber Martin Schulz!“ Er wendet sich darin unter anderem gegen die „harten Zumutbarkeitsregeln und die drakonischen Sanktionen der Jobcenter“. Er mache sich keine Illusionen bezüglich der Wandlkungsfähigkeit der SPD, zeigt sich aber gespannt auf Schulz‘ Änderungspläne und wünscht dem Kandidaten mehr Mut.

An der Agenda-Politik also wird sich entscheiden, ob SPD und Linke erstmals in einer Bundesregierung zusammenfinden. Das wird auch Martin Schulz wissen, und obwohl er einen Wahlkampf ohne Koalitionsaussage führen will, dürfen wir Signale der Hinwendung zur Linken erwarten, die natürlich auch von CDU/CSU registriert werden. Doch das Thema Altersarmut beschäftigt große Teile der Bevölkerung, und viele Menschen sind besorgt wegen der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland. Daher werden wir von Merkel und Co. wohl vor allem Statements zu hören bekommen, die auf ein „Weiter so“ hinauslaufen. Es wird spannend sein zu beobachten, wie die Kanzlerin sich interessant zu machen versuchen wird.

Ein großer Dank gebührt dem Kandidaten Schulz schon jetzt, völlig egal, ob man für ihn ist oder gegen ihn: Er hat dafür gesorgt, dass Politik wieder spannend geworden ist. Das schadet ganz offenkundig der AfD, die in den Umfragen abrutscht. Die Parteien schienen lange Zeit kaum unterscheidbar — dies soll einer der Gründe für den Zulauf der AfD gewesen sein. Wer weiß, vielleicht scheitert die AfD sogar an der Fünf-Prozent-Hürde. Das dürfte davon abhängen, wie der Wahlkampf verläuft und ob es gelingt, den Wählerinnen und Wählern klarzumachen, dass jede Stimme für die AfD eine verschenkte Stimme ist. Ein Scheitern der AfD dürfte die Regierungsbildung nach dem 24. September erheblich vereinfachen.

fr-balkenLeserbriefe

Auch Matthias Schulze-Böing aus Offenbach erinnert an die Situation aus der heraus die Agenda-Politik entstand, und greift Professor Butterwegge scharf an:

„Was war vor „Hartz 4“? Es gab das Arbeitslosengeld als Versicherungsleistung und nur zugänglich für diejenigen, die vor der Arbeitslosigkeit genügend Ansprüche erworben hatten. Es war bezogen auf das vorher erzielte Einkommen und deshalb vor allem bei Geringverdienern, Teilzeitbeschäftigten und Arbeitslosen mit größeren Familien sehr oft nicht bedarfsdeckend. Diese mussten dann den ergänzenden Bedarf beim Sozialamt decken.
Die Arbeitslosenhilfe war im Grunde eine abgesenkte Verlängerung des Arbeitslosengeldes. Ebenso wie dieses war es in der Höhe auf das vorher erzielte Erwerbseinkommen bezogen. Selbstverständlich musste auch hier sehr oft durch Sozialhilfe aufgestockt werden. Im Ergebnis mussten die Betroffenen zu zwei Behörden gehen, zwei Anträge stellen (wenn man Wohngeld berücksichtigt, noch mehr) und das Gesamteinkommen war auf Sozialhilfeniveau gedeckelt. 2004 gab es laut Statistischem Bundesamt 325 000 Aufstocker.
Immer mehr Menschen fanden sich bis 2004 aber vollständig in der Sozialhilfe, weil sie keine oder zu geringe Ansprüche erworben hatten, aus dem Ausland kamen, durch Erziehungszeiten oder aus anderen Gründen gebrochene Berufsbiographien hatten. 2004 gab es knapp 1,9 Millionen Sozialhilfebezieher im erwerbsfähigen Alter, die meisten aufgrund von Arbeitslosigkeit. Die Sozialämter waren aber in aller Regel überhaupt nicht auf Hilfen für Arbeitslose eingestellt. Es gab keine Leistungen für Qualifizierung, Arbeitsvermittlung und Lohnkostenzuschüsse. Ausnahmen einiger aktiver Städte bestätigen hier die Regel. Im Jargon der kritischen Sozialwissenschaftler würde man das als „Exklusion“ bezeichnen, Menschen, die im falschen System gelandet und deshalb abgeschrieben waren.
Diesen Menschen wurde mit dem SGB II erstmals Zugang zu Leistungen der aktiven Arbeitsförderung, die vorher nur den bei den Arbeitsämtern registrierten Arbeitslosen zustanden verschafft. Aus „Exklusion“ wurde mit „Hartz 4“ „Inklusion“. Die Leistungen von „Hartz 4“ sind besser als die der vormaligen Sozialhilfe. Es gab höhere Regelsätze, vorhandenes Vermögen wurde nun teilweise geschont. Die Leistungen, die die Betroffenen zuvor von verschiedenen Behörden organisieren mussten, kamen nun aus einer Hand, nämlich den Jobcentern.
Dazu kommt: Mit der Einführung des SGB II fanden viele Menschen aus der verdeckten Armut, die sich aus Scham nicht bei den Sozialämtern gemeldet hatten, in die Jobcenter und bekamen nun Unterstützung und passgenaue Hilfe bei der Integration in Arbeit. Das war einer der Gründe, warum die Zahl der registrierten Arbeitslosen nach der Einführung des SGB II erst einmal sprunghaft angestiegen ist, bevor sie dann Jahr für Jahr deutlich gesunken ist.
Im internationalen Vergleich ist das deutsche System des SGB II eines der generösesten und „inklusivsten“ Sozialsysteme, um das sozialpolitisch engagierte Menschen in vielen Ländern Deutschland beneiden.
Wenn Butterwege ein wenig wissenschaftlichen Ethos hätte, käme er zu anderen Schlüssen. Aber er ist seit Jahren leider nicht mehr als ein üppig professoral dotierter Agitator, der mit Fehlinformationen Unfrieden stiftet.“

Norbert Fabian aus Duisburg:

„Im Unterschied zu Christoph Butterwegge zeigt Martin Schulz und mit ihm die SPD konkret auf, in welche Richtung eine Reform der Reform der Arbeitsmarktpolitik erfolgen sollte. Die Forderung „Harz IV muss weg“, wie sie von der Linkspartei fast ‚gebetsmühlenartig‘ wiederholt wird, führt kaum weiter. Das ALG II ist eine Grundsicherung, die zwar auch reformbedürftig ist – aber sollte die wirklich wegfallen? Eine Verlängerung der Zahlungen von ALG I verstärkt die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung, die ohnehin durch zusätzliche, gezieltere Qualifizierungsangebote zu einer präventiven Arbeitsversicherung ausgebaut werden soll. Mit zu berücksichtigen wäre die Lebensarbeitszeit von Versicherten. Für jüngere, häufig befristet-prekär Beschäftigte wäre allerdings sicherzustellen, dass sie im Falle von Arbeitslosigkeit nicht sofort in das ALG II ‚absacken‘. Weiterführend ist zudem der Vorschlag von Malu Dreyer, auch beim ALG II und Vermögensanrechungen die Lebensarbeitszeit mit einzubeziehen. Für Regionen mit weiterhin hoher Langzeitarbeitslosigkeit soll auf Vorschlag der NRW SPD darüber hinaus ein sozialer Arbeitsmarkt geschaffen und die regionale und kommunale Wirtschaftsförderung verstärkt werden. Ich habe übrigens gegenüber dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dann als Delegierter auf SPD-Bundesparteitagen bereits vor Martin Schulz mehrfach Reformen an der Reform der Arbeitsmarktgesetzgebung und eine stärker regionalisierte Wirtschaftspolitik einzufordern versucht.“

Und Dieter Domabil aus Erlangen berichtet von den lebhaften Diskussionen, die SPD-intern derzeit über die Gerechtigkeitsfrage geführt werden:

„Diese Woche gab es Veranstaltungen der SPD und der IG Metall in Bielefeld und Berlin. Themen waren eine neue sozialere Politik, eingestehen von Fehler, sowie die Ankündigung von Korrekturen dieser. Eine gute Woche für Menschen die der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften verbunden sind wie ich es bin. Daraus lassen sich wohl die neuen Umfragewerte ableiten.
In Bielefeld erklärte der Kanzlerkandidat der SPD, Martin sein Programm, welches wohl auch das der SPD sein wird, nach dem Bundesparteitag auf dem der Kollege Martin zum Vorsitzenden sowie Kanzlerkandidaten gewählt werden wird. Das hoffe ich zumindest, nachdem was ich diese Woche Life, und das Beste mit Beteiligung an der fairen Diskussion erleben durfte. Teilnehmer waren an beiden Veranstaltungen meist Interessenvertreter, Betriebs- und Personalräte sowie haupt- und ehrenamtliche Gewerkschafter. Eine Gruppe, die Probleme in Deutschland und unserer Gesellschaft durchaus aus ihrer eigen tägliche Arbeit vor Ort kennen.
In Berlin ging es um ein neues, ehrlicheres, faireres Rentenkonzept, wozu die IG Metall einen Vorschlag vorlegte. Diskussionspartner waren Vertreten aus den Parteien des Bundestags. Alle waren vertreten. Auffällig Klaus Ernst MdB der Linken und Vertreter aus Bayern zeigte die einmalige Chance zur Zusammenarbeit auf. Bei allem trennenden Dingen könnten Kompromisse gefunden werden. Eine Regierung gebildet aus SPD, Linken und Grünen erschien ihm wohl machbar.
Eine Chance, die aus meiner Sicht genutzt werden sollte. Zum Wohle aller abhängig Beschäftigten, Alter, Kranker, Erwerbsloser, besonders aber junger Menschen. Für eine Zukunft die keine Angst macht!
Diese Einschätzung ist meine persönliche, aus den Erleben in über 40 Jahren Berufs- und Erwerbsleben in der freien Wirtschaft sowie als langjähriger Betriebsrat und Metaller aus Leidenschaft.“

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83 Kommentare zu “Hartz IV muss nicht weg, es braucht jedoch Reformen

  1. Da wird mit Zahlen und Erfolgen um sich geworfen. Studien allenthalben. Da werden internationale Vergleiche angestellt. Da wird seit Jahren von „handwerklichen Fehlern“ gefaselt. Von Reformen der Reform. Jetzt wird auch noch Butterwegge untergebuttert (Matthias Schulte-Böing).
    Da spricht letztgenannter von der Schieflage der vielen Sozialhilfeempfänger vor Hartz IV. Wieviele tausende Hartz-IV-Empfänger haben wir denn heute im Lande, dank auch der glorreichen Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe (was eine reine Mogelpackung war)?
    Von dem neuen ‚Geist der Agenda‘, der über das Land kam, da kommt selten was. Dieser neue Geist der Nicht-Verantwortung („Jeder macht nur noch sein Ding“). Der allmähliche Verlust jeglicher Solidarität. Der Verlust der Menschenwürde (Sanktionsapparatur der Arbeitsagenturen), bei denen, die auf der Strecke geblieben sind. Ja, die Fleißigen im Lande“, die müssen immer wieder beschworen werden. Aber die Arbeitslosen und die Verarmten, die Ausgrenzten, die Heere der Müll- und Flaschensammler, die riesigen Massen an Tafelbesuchern, die Verelendung auf den Straßen – das alles verschwindet im diesem allseitigen verlogenen Gestammel von: „Uns ging noch nie so gut wie heute!“ Aber dann plötzlich entdeckt man die Abgehängten, die „hart arbeitenden Menschen, die Fahne der Gerechtigkeit und was weiß ich nicht alles, wenn es einem politisch in den Kram passt.
    Wir können noch lange über die Agenda 2010 und Hartz IV hin und her dabattieren. Es will nicht wirklich was verändert werden. Dazu muss man sich auf die Lebenswelt der Menschen einlassen, denen es richtig dreckig geht. Dazu müsste man von dem eigenen hohen Roß runter. Die Überschrift im Leserforum vom 1. März: „Hartz muss nicht weg, braucht aber Reform“, ist eine dieser Glaubenssätze, die nichts verändern werden. Die Rechnung dafür zahlen wir schon jetzt: Oberflächlichkeit, Konsumwahn, Angst, Verrohung, Hass, Verachtung, Fake-News, Shitstorms, Unverantwortung, Geist der Unmenschlichkeit, Autoritarismus, Rechtsruck und und und …
    Was der lupenreine Sozialdemokrat Schröder & Konsorten mit der Agenda damals in Deutschland angerichtet hat, war ein endgültiger Bruch mit dem Sozialstaat und freie Bahn für die totale Ökonomisierung der Gesellschaft. Wenn ich das schon höre und lese: Aus „Exklusion“ wurde mit „Hartz 4“ Inklusion! (Schulze-Böing). „Generösität des SGB II-Systems“! Aufhören! Würde der Kabarettist Wilfried Schmickler uns zurufen.

  2. In seiner Argumentation kann ich Herrn Schulze-Böing gut folgen. Warum Herr Butterwegge für ihn deshalb zum Unruhestifter wird, erschließt sich mir jedoch nicht. Ausserdem geht es doch nicht im wesentlichen um Ex- oder Inklusion, sondern darum, ob Menschen in Würde leben können. Dies muss bei der gegenwärtigen Ausgestaltung von Harz 4 bezweifelt werden. Was also speist den Affekt von Herrn Schulze-Böing gegen Herrn Butterwegge? Womöglich handelt es sich um andere ‚professoral dotierende Agitatoren‘, denen er das, weil von einer anderen Partei, durchgehen läßt.

  3. @ Jürgen Malyssek: Danke für die fundierte Kommentierung. Da kann ich nur zu 100% zustimmen. Leider wird inzwischen auch von der SPD und ihrem neuen St.-Martin neoliberale Politik und einige kosmetische Korrekturen an derselben als alte sozialdemokratische Politik verkauft. Da denke ich an den alten Spruch: „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten“. Das pseudo-wütende Gebelle der Arbeitgeber-Verbände sollte niemanden irritieren, das ist Show für das Volk. In Wirklichkeit machen sich doch all die, welche aufgrund der, sogenannten, Hartz-
    Reformen sich noch ein paar Millionen mehr aufs Konto hieven konnten, andauernd noch eine Flasche Schampus mehr auf. Wer hat denn profitiert und womit? Wovon und wie leben die angeblichen „Gewinner“, also Zeitarbeiter, Aufstocker, Armutsrentner, befristet Beschäftigte etc. pp. denn, und wie kommen sie über die Runden? Und was fließt in ihre Altersrente ein?

    Lt. DIW ist seit 1999 das reale verfügbare Einkommen von 40% der Bevölkerung zurückgegangen, und das der oberen 10% massiv gestiegen! Sollen wir uns dafür bei der SPD und der Agenda 21 bedanken? Ein österreichischer Durchschnittsrentner hat heute 800 € im Monat mehr zur Verfügung als in D. Steht Ö. jetzt kurz vor der Pleite? Was hat mir, meiner Frau, und meinem sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangelndem Stiefsohn die Agenda 2010 gebracht?

    In welcher abgesicherten und beneideten Situation stecken denn all die Lobhudeler dieser vergifteten Reform? Was machen die Zwangsgesetze und Billiglöhne mit unserem Land, und unserem Platz in Europa? Ja, wir konkurrieren die anderen gnadenlos nieder, und wundern uns dann über rechtsnationale Tendenzen.

    Und St. Martin hat ja während seiner EU-Tätigkeit gezeigt, wie er es mit der Solidarität hält. Speziell bei allem, was sein Kumpel Juncker so veranstaltet hat. Und jetzt soll aus dem Saulus ein Paulus geworden sein, bloß wegen ein paar kosmetischen Forderungen bzw. Korrekturen an der Agenda? Nee, ich habe früher öfters SPD gewählt, so wie die RODGAU MONOTONES, aber wenn ich verarscht werden will, kann ich das selbst besser.

    Leider gibt es in der LINKEN immer noch Hoffende, die glauben, sie könnten und hätten bei rot-rot-grün etwas zu sagen. Träumt weiter!

  4. Eine Ergänzung noch: Wenn Schulz es Ernst meinen würde, mit seinen Verbesserungen, könnte er die heute schon durch die rot-rot-grüne Bundestagsmehrheit erzielen. Warum wartet er noch bis nach den Wahlen? Um dann als Kanzler und Erster in eine GroKo mit der CDU als Juniorpartner zu marschieren? Und dann bei Fragen nach Einlösung von Wahlversprechen zu antworten: Ging nicht anders, war beim Koalitionspartner nicht durchsetzbar? Die Sozen heutzutage erinnern eben an Homöopathen: Globuli fürs Volk, und wenn diese nicht wirken, war der Patient bzw. der Einnehmende dran Schuld.

    Es sind jedoch ganz andere und primär wichtigere Problme, derer sich die Politik anzunehmen hätte, also da sind: Klimawandel, Migration, Reich-Arm-Gefälle, Umgang mit Oligarchen und den neuen Demokratur-Neurechts-faschistoiden Herrschern, und noch vielem mehr. Gegen wen und für wen führen wir demnächst unsere neuen Kriege, und mit welchem Ziel? Oder sind wir schon zu verblendet, um nicht zu begreifen, das wir mit Sieben-Meilen-Stiefeln auf den Abgrund zu marschieren?

  5. An Wolfgang Fladung:
    Danke auch Ihnen für die inhaltliche Unterstützung. Man ist da ziemlich einsam, wenn man nicht konform ist mit den Zufriedenen. Das ist der Preis. Ich melde mich später wieder zurück.

  6. Moin,

    folgenden Leserbrief zum Thema habe ich gestern an die FR gemailt und an den SPD-Parteivorstand. Die Hoffnung stirbt zuletzt…

    „wenn Fehler erkannt werden, dann müssen sie korrigiert werden“, urteilt
    messerscharf der SPD-Kanzlerkandidat zum Agenda 2010-Debakel. Lange habe
    ich herbeigesehnt, daß ein mächtiger Sozialdemokrat diese Wahrheit
    endlich ausspricht, anderthalb Jahrzehte. Und jetzt formuliert sie der
    mächtigste deutsche Sozialdemokrat. So wie mir geht es noch vielen
    anderen, deren Herz links schlägt. Für diese noch recht dürren Anflüge
    ehrlichen sozialdemokratischen Denkens fliegen Martin Schulz die Herzen
    zu. Die SPD im Umfragehoch! Was für ein enormes Potential, wenn die SPD
    endlich tut, was ihr Name verspricht: Originäre sozialdemokratische Politik!

    Jetzt, lieber Martin Schulz, nutzen Sie die einmalige Chance! Befreien
    Sie die SPD vom asozialen Neoliberalismus! Räumen Sie auf mit den
    Fehlern ihrer Vorgänger Schröder, Steinmeier und Steinbrück! Nicht freie
    Marktwirtschaft ist sozialdemokratisch, sondern sozialökologische
    Marktwirtschaft.

    Sorgen Sie dafür, daß die Menschen wieder würdig leben können, indem Sie
    die jahrzehntelang falsche Umverteilung wieder umverteilen, jetzt von
    den Reichen zu den Armen und zum Mittelstand. Sorgen Sie dafür, daß das
    nicht nur in Deutschland geschieht, sondern auch weltweit. Sie kennen
    sich in der EU aus. Treten Sie für fairen Handel ein. (Es war falsch,
    dies zu Ihren EU-Zeiten nicht zu tun.) Sorgen Sie dafür, daß auch
    zukünftige Generationen auf diesem Planeten leben können. Schalten Sie
    die Atomkraftwerke ab! Beenden Sie die fossilen Subventionen! Schaffen
    Sie Arbeitsplätze und Wohlstand (und SPD-Wählerstimmen) durch
    regenerative Energien! Schaffen Sie die elende Drittstaatenregelung ab,
    die Flüchtlinge entwürdigt und unnötigen Haß auf sie lädt! Korrigieren
    Sie Fehler! Tun Sie, was Sie gesagt haben!

    Wenn Sie das machen, haben Sie eine Stimme und ein Mitglied mehr.
    Mindestens!

  7. Folgenden Text habe ich soeben an den SPD-Parteivorstand geschickt (das geht über http://www.spd.de)…

    Moin,

    mit Erstaunen las ich heute in der Frankfurter Rundschau, daß der Kanzlerkandidat der SPD (und die SPD) nicht auf den sehr guten offenen Brief von Professor Butterwegge antwortet. Das kann man für konsequent halten. Ich halte es für dünnhäutig.

    Ich richte meinen gestern an die FR gemailten Leserbrief (siehe unten) jetzt direkt an Herrn Schulz. Falls er nicht gedruckt wird, werde ich Sie informieren. In diesem Fall könnte mir Herr Schulz ja freundlicherweise antworten.

    Besten Dank im voraus

    Michael Lübbers

    Moin Herr Schulz,

    gestern mailte ich folgenden Leserbrief an die Frankfurter Rundschau (siehe unten). Falls der Leserbrief nicht veröffentlicht wird, es sich also nicht um einen offenen Brief handelt, möchte ich Sie bitten, mir Ihren Standpunkt zu meinen Ansichten zu erläutern!

    Mit bestem Dank im voraus

    Michael Lübbers

    Hier beginnt der Leserbrief:

    Moin lieber Herr Büge/“Bronski“,

    „wenn Fehler erkannt werden, dann müssen sie korrigiert werden“, urteilt
    messerscharf der SPD-Kanzlerkandidat zum Agenda 2010-Debakel. Lange habe

  8. Ich muß und möchte noch eine Ergänzung machen. Heute abend beim Ansehen der Münchner Runde auf BR3 fiel mir beim Anhören der Argumente von Frau Weidenfeld ein, daß alles eine Sache des sozialen Standpunktes und vor allem der persönlichen Situation ist. Wer gerade geerbt hat, oder wessen Feld-, Wald- und Wiesen-Grundstücke durch einen (vielleicht von den richtigen Parteifreunden herbei geführten) Magistrats-Beschluß zu Bauland wurden, sieht die Situation natürlich anders. Er befürwortet eher Senkung von Steuern und Sozialabgaben, und nicht deren Erhöhung, weil er (oder sie) null Bock hat, als „Leistungsträger“ noch irgendwelche Faulenzer zu finanzieren, die sich jahrelang in der sozialen Hängematte suhlen. Natürlich kommt er nie und nimmer auf die Idee, das er selbst vielleicht in einer „unzozialen“ Hängematte liegt.

    Und davon lebt ja auch die demagogisch-populistische Politik, weil sie immer genau weiß, wo die schwarzen Schafe zu finden sind, nämlich am unteren Ende der Fahnenstange.

  9. Die Äußerungen des (neoliberalen?) Soziologen Stefan Liebig auf Seite 4 der heutigen FR passen meines Erachtens zum Thema…

    Moin lieber Herr Büge/“Bronski“,
    mein gestriger Leserbrief ist mir wichtiger, trotzdem möchte ich mich auch zu dem Soziologen Professor Stefan Liebig äußern. Er erklärt in der heutigen FR auf Seite 4 am Beispiel eines Top-Spielers in der Bundesliga (da begebe ich mich auf fremdes Gebiet: Mich interessiert Fußball überhaupt nicht): „Niemand hat etwas dagegen, daß er viel Geld verdient, solange er Tore schießt. Wenn er nur noch auf der Bank sitzt, setzt es Kritik und Häme.“

    Dazu zwei Anmerkungen von mir als Nicht-Soziologe:

    Es macht weder für den Top-Spieler noch für die Gesellschaft Sinn, wenn das viele Geld zu viel Geld ist. Um gut zu leben, braucht es nur begrenzt materielle Dinge. Wenn man mehr hat als man braucht, schadet es eher, als daß es nutzt (wohin mit den vielen Rolls Royce?). Und in einer begrenzten Welt wie der unseren kann jemand nur reich werden, wenn dafür andere verarmen.

    Zweitens gibt es Leute, die von Anfang an nur auf der Bank sitzen und nichts machen und dafür Unsummen kassieren: Die reichen und vor allem superreichen Erben. Ein Manager und ein Fußballspieler kassieren Millionen. Das ist viel, aber es ist buchstäblich nichts im Vergleich zu Milliardären. In der Frankfurter Rundschau wurde es mal anschaulich dargestellt: Jemand, der 10 Millionen Euro im Jahr bekommt (oder verdient), muß 100 Jahre arbeiten, um eine Milliarde Euro zusammen zu bekommen. (Hoffentlich habe ich mich nicht verrechnet, ich und Mathe…). Viele Milliardäre haben mehrere Milliarden. Und oft verdienen sie ihr Geld mit Produkten, die es besser gar nicht gäbe. Ich denke an Tabak, Waffen und Süßzeug.

    Mit freundlichen Grüßen

    Michael Lübbers

  10. Bravo, Herr Schulz-Böing! Endlich ordnet mal jemand Schröders Sozialreformen zutreffend ein. Sie sind damit ein Ausnahmefall in diesem Forum, in dem weltfremde Altlinke Wunschkonzert spielen und Maximalforderungen aufstellen. Zum Beispiel wenn mein lieber alter Freund Wolfgang Schäuble die Herausforderungen formuliert

    „Klimawandel, Migration, Reich-Arm-Gefälle, Umgang mit Oligarchen und den neuen Demokratur-Neurechts-faschistoiden Herrschern, und noch vielem mehr. Gegen wen und für wen führen wir demnächst unsere neuen Kriege, und mit welchem Ziel? Oder sind wir schon zu verblendet, um nicht zu begreifen, das wir mit Sieben-Meilen-Stiefeln auf den Abgrund zu marschieren?“

    Bravo, Herr Schäuble! Wir wissen aus unzähligen früheren Statements aus Ihrer leiernden Feder, dass Sie ein Fan von Angela Merkel sind und am liebsten überhaupt nichts verändern würden — denn sonst würden Sie ja sicher zur Wahl von Martin Schulz raten, nicht wahr? Die Chance auf Veränderung gibt es nämlich nur mit ihm. Aber das muss ich Ihnen als Politik-Profi nicht erzählen. Mit Merkel bekommen Sie den alten lauen Stillstand. Genau das scheinen Sie zu wollen.

    Zum Glück gibt es, um bei Ihren Worten zu bleiben, „in der LINKEN immer noch Hoffende, die glauben, sie könnten und hätten bei rot-rot-grün etwas zu sagen“. Wenn sie nämlich keine Hoffnung mehr hätten, könnten sie sich aus der Politik verabschieden. Hoffnung kann hier ja nur heißen: Hoffnung, endlich etwas zu gestalten. Zum Beispiel könnten die Linken in einer rot-rot-grünen Koalition darauf aufpassen, dass die SPD zu ihren sozialen Versprechen steht. Zunehmend mehr der Linken scheinen an dieser Idee Gefallen zu finden, so dass eine rot-rot-grüne Koalition erreichbar scheint. Ich finde das gut, und das macht mir diese Leute fast sympathisch. Sogar Frau Wagenknecht hat sich in dieser Hinsicht geäußert. Aber von unserem Wolfgang Schäuble aus dem FR-Blog werden wir vermutlich auch in zehn Jahren immer noch die gleiche Leier hören. Ich hab jetzt schon manchmal dieses unheimliche Dé-ja-vu-Gefühl, wenn ich seine Kommentare lese.

  11. An Herrn Lübbers

    Sie scheinen mir im Vergleich dazu ganz vernünftig. Ihre Forderungen kann ich mittragen, abgesehen davon, dass man bei der Reform der Agenda-Politik nicht zu weit gehen sollte. Aber die Zukunft ist ökosozial, das ist zweifellos richtig.

    Was ich aber nicht verstehe ist: Warum sind Sie so empört darüber, dass Schulz auf den offenen Brief nicht antworten wird? Meinen Sie denn, der lässt sich von anderen das Tempo diktieren, mit dem er seinen Wahlkampf aufbaut? Er hat das Bild vom Wahlkampf als Marathonlauf verwendet. Das zeigt doch recht gut, dass er die Kontrolle über sein Tempo und seine Kräfte zu behalten versucht. Das muss er auch, und zwar gerade dann, wenn er eine Hartz-Reform machen will, denn darauf ist die SPD programmatisch nicht vorbereitet gewesen. Also immer mit der Ruhe. Der Wahlkampf hat gerade erst angefangen. Wir werden noch rechtzeitig genug erfahren, was Schulz vorhat. Ich finde, es zeichnet ihn aus, dass er mit Bedacht und absolut kontrolliert vorgeht, statt sich von Leuten wie Butterwegge durchs Dorf treiben zu lassen.

  12. An Stefan Briem:
    Ich denke wir lassen an dieser Stelle die weitere Debatte. Sie führt zu nichts. Ich muss es mal so hart sagen: Von der Agenda 2010 haben Sie wenig Ahnung. Sie können ja Herrn Schulz-Böing weiter Beifall spenden. Aber wenn Sie von „weltfremden Altlinken“ sprechen und darüber hinaus Christoph Butterwegge für sein jahrelanges Engagement für Soziale Gerechtigkeit so despektierlich titulieren (Butterwegge treibt niemanden durchs Dorf), dann weiß ich auch nicht mehr weiter und Sie können das Weitere mit ihrem alten Freund Schäuble regeln. Ruhe bewahren ist ja seine Stärke.

    An Ralf-Michael Lübbers:
    Ihr offener Brief ist nett gemeint, aber der ist mir von den Themen einfach zu weit gefasst.
    Es ehrt sie, dass Sie Martin Schulz schon so einen Vertrauensvorschuss geben. Aber diese Begeisterung kann ich in diesem Maße nicht teilen.
    Mir ist es im Moment ein Rätsel, wo diese Debatte noch hinführen soll.
    Mit dem wirklichen Leben der Menschen, bei dem Hartz-IV Einzug gehalten hat, hat das nur noch wenig zu tun.

  13. An Jürgen Malyssek, Wolfgang Fladung und alle Schulz-Skeptiker:
    Was wollen Sie denn sonst machen, als jemandem, der antritt, unsere Republik ein bisschen gerechter und menschlicher zu gestalten, den Rücken zu stärken? Rot-rot-grün ist doch die einzige Hoffnung, die wir haben. Die Alternativen heißen „Weiter so“ mit der CDU/CSU oder ab in den braunen Sumpf mit der AfD. Wenn Herr Butterwegge eine bessere Strategie hat, soll er sich doch als Gegenkandidat zu Schulz aufstellen lassen.
    Wenn es Stefan Briem auch erstaunen mag, hier muss ich ihm beipflichten. Das ewige Gestänkere gegen Schulz bringt uns nicht weiter. Da halte ich Michael Lübbers‘ Vorgehen für zukunftsorientierter.

  14. An Brigitte Ernst:
    Erstens stänkere ich nicht gegen Schulz. Ich bin in der Tat skeptisch, aber das habe ich auch mehrfach gesagt, warum. Zweitens ist Rot-Rot-Grün doch nicht die einzige Hoffnung. Und mit der Hoffnung habe ich gelernt sparsam umzugehen. Natürlich hat Christoph Butterwegge einen besseren Plan. Aber er ist kein Politiker, sondern Sozialwissenschaftler. Was soll das, sich als Gegenkandidat zu Schulz aufstellen zu lassen? Ansonsten kann ich Sie nicht daran hindern Herrn Briem zuzustimmen und Herrn Lübbers Vorgehen für zukunftsorientierter zu halten. Warum klammert man sich immer wieder an plötzliche Hoffnungsträger, ja, man möchte sagen, Heilsbringer, ohne diesen und den eigenen Standort und -punkt zu überprüfen? Warum? Ich muss da passen.

  15. @ Wolfgang Fladung, 1. März 2017 um 18:31

    „Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten.“

    Lieber Wolfgang Fladung,
    da hatte ich nach einigen Ihrer letzten Beiträge gehofft, Sie würden doch noch den Weg aus Ihren Gebetsmühlen finden. Schließlich hatten wir ja schon gelegentlich die Klingen gekreuzt. Und das verbindet, trotz (und vielleicht auch wegen) unterschiedlicher Ansichten.
    Aber offenbar habe ich mich getäuscht. –
    Ich kann mich auch gut erinnern, dass Sie sich des Öfteren beklagt haben, dass niemand auf Sie eingehen will.
    Glauben Sie im Ernst, dass irgend jemand, der sich nicht sowieso in Ihrem Echoraum befindet, Lust hätte, Ihrem Wunsch nach Dialog zu entsprechen, wenn er/sie sich erst mit größter Mühe durch den ganzen Schaum hindurcharbeiten muss, um wenigstens zu Ansätzen eines ernsthaften Dialogs zu gelangen?
    Ich jedenfalls nicht mehr.

  16. An Wolfgang Fladung:
    Man muss mir ja nicht in allem recht geben. Aber wenn es um Armut und Elend und soziale (Un)gerechtigkeit in unserem Staat geht, da möchte ich nicht mehr hochfliegende, beschwichtigende und im permanenten internationalen Vergleichen versinkenden Argumente mehr hören, die mit der Lebenswelt der von Hartz IV und Armut betroffenen Menschen nichts zu tun haben. Wenn es denn in unserem Lande scheinbar hochzufriedene Senioren gibt (Schon wieder eine Studie! Generation glücklich und zufrieden – vor allem, wenn sie genügend Geld haben), dann sage ich: nochmals Glück gehabt. Die so Zufriedenen werden einen Teufel tun, sich ihr Leben anders vorstellen zu müssen. Von da erwarte ich auch keine kritische Stimmen. Alles gut.
    Ich will auch nicht nur auf die Sozialdemokraten herumhacken, obgleich sie für mich eine große politische Enttäuschung sind. Und das, was sie, im Verbund mit den Grünen und den deutschen Wirtschaftsbossen zwischen 2000 und 2005 anerichtet haben, das verzeihe ich ihnen auch nicht mehr. Lieber Herr Fladung, Sie sprechen ja auch noch die Einkommensentwicklungen seit Ende der 1990er Jahren, die Entwicklung der Renten, die Billiglöhne (ja oft sind das Hungerlöhne), die Zeitverträge (bis in den akademischen Bereich) unseren eisern verteidigten Exportüberschuss zu Lasten anderer Länder, usw. an. Alles richtig! Ich bin kein Wirtschaftsexperte. Aber in den meisten Gesprächsrunden, haben die sog. Wirtschaftsexperten das Wort, die Wissenschaftlichkeit treibt so ihre Blüten.
    Es ist wirklich erstaunlich, wie weit die Wohlsituierten, aber auch ein Teil der Masse, in der Lage sind, die Augen vor der offensichtlichen Zunahme von Armut und Verelendung in Deutschland zu verschließen. Nicht alle natürlich.
    Ich gehöre auch nicht zu den ‚Linken‘, die immer wieder die Hoffnung zu Hilfe zu nehmen, wenn einem nichts mehr einfällt. Gleichzeitig wird man auch hier imm Blog als weltfremder Altlinker (ganz pauschal), wohl zur Ablenkung der eigenen Ideenlosigkeit kritisiert. Das halte ich aus. Aber ich habe mich schon über Ihre Zustimmung gefreut. Es ist ja auch nicht so, dass es nur um bloße Zustimmung geht. Doch wenn man sich nicht einig sein kann, dann möchte man aber auch nicht als Zielscheibe von Unterstellungen und Titulierungen dienen.
    Ich habe keine Probleme damit, mit Menschen zu reden, die sich abgesichert und von mir aus sehr begütert sehen. Aber bitte sollen sie ihre Lebensweise nicht als die einzig mögliche und richtige anderen als Maßstab und Vorstellung (Leistungsträger!“ vorhalten. Auch die Menschen ganz unten haben ihre Würde. Das ist das Letzte, was man ihnen streitig machen sollte! Danke nochmals für Ihre Interventionen!

  17. Um einen Absatz aus dem Schreiben von Butterwegge an Martin Schulz, in welchem auch wichtige Fragen gestellt wurden, zu zitieren:

    „Was nützt den Erwerbslosen die von Ihnen ins Gespräch gebrachte Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere, wenn ein Viertel aller Neuzugänge überhaupt nicht in seinen Genuss kommt und die große Mehrheit der Erwerbslosen bloß noch das Arbeitslosengeld II bezieht? Im Rahmen des „Hartz IV“ genannten Gesetzespaketes wurde mit der Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard der Langzeiterwerbslosen noch halbwegs sichernde Lohnersatzleistung, die 53 bzw. (bei Vorhandensein unterhaltsberechtigter Kinder) 57 Prozent des letzten Nettoentgelts betrug, durch eine Lohnergänzungsleistung auf Fürsorgeniveau, das Arbeitslosengeld II, ersetzt. Dies war der mit Abstand schwerste Eingriff in das Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik. Dazu kann heute kaum schweigen, wer glaubwürdig für mehr Gerechtigkeit eintritt.“

    Von meiner Mutter habe ich einige klare Aussagen ins Leben mitbekommen, wie:

    „Nicht an ihren Worten sollt ihr sie messen, sondern an ihren Taten.“

    Und da habe ich mit Schulz und vor allem seinem Vorgänger Schröder so meine Probleme. Wie und womit hat St. Martin denn im EU-Parlament sich auf soziale und demokratische Weise hervor getan und gekämpft? Wer war denn für CETA und TTIP, und somit für die Profitmaximierung der multinationalen Konzerne und für weiteren Arbeitsplatzabbau und Verschlechterung der Bedingungen für die lohnabhängig Beschäftigten? Wer hat vermieden, Steuerparadiese in Europa, wie Irland oder Louxemburg zu schließen,letzteres wohl wg. seinem Kumpel Juncker? Und wer war immer vorne, wenn es darum ging, die Griechen zu drangsalieren, pardon, „Reformen“ einzufordern?

    Welche Hoffnungen habe auch ich damals 1998 mit rot-grün verbunden, wie viele andere auch, und zu was hat das geführt? Und warum sollte ich jetzt einem Sozen Schulz mehr glauben als damals Schröder & Co.? Wegen des bißchen Kosmetik, eben Opium fürs Volk? Ich bin Agnostiker, als solcher also im Zweifeln geübt, und nicht im Glauben. Ich habe es zu oft erlebt, daß die Hoffnung bereits ziemlich am Anfang stirbt und nicht zuletzt. Würde ich jetzt auf Schulz setzen, würde das meine Mitgründung der WASG und dann der Linkspartei konterkarrieren! Warum pendelte sich die SPD dann, bis Schulz kam, bei 20 – 22% in Wahlen und Umfragen ein, wegen der ach so erfolgreichen Agenda 2010 samt Hartz I – IV? Und Schulz soll jetzt die Phoenix sein aus der Asche der SPD? Sein „Erfolg“ ähnelt für mich eher dem Überdruß an Merkel, so wie 1998 dem an Kohl. Würde Schulz seine verhaltene Kritik an der Agenda 2010 mal mit seinen „Taten“ innerhalb der EU vergleichen bzw. messen, würden ihm als vielleicht einsichtigem Menschen möglicherweise einige Ungereimtheiten auffallen.

    Und würde er einfach mal zur Kenntnis nehmen, das die Agenda 2010 die Kluft zwischen oben und unten noch mehr vergrößert hat; mit allem, was sich in und mit den Betroffenen an (Zukunfts-)Ängsten, Niedergeschlagenheitg und Verzweiflung abspielt, würde er vielleicht auch sagen (müssen),sorry, da ist etwas falsch gelaufen. Ich bezweifle allerdings, das er über seine jetzige Schaumschlägerei hinaus zu echter Erkenntnis und Kampf für mehr Gerechtigkeit fähig ist.

    Bergab lassen sich halt leichter Steine aus dem Weg räumen als bergauf.

    Wie Sie lesen, verehrte Mitblogger, ist der Fladung unbelehrbar. Aber wenn es Ihnen Freude macht …

  18. @Schulze-Bőing:
    Woher beziehen Sie eigentlich Ihr angebliches Wissen? Aus einer Hand? Von wegen! Alle műssen sich selber um alles kűmmern. Daher der Begriff „Aufstocker“. Das Sozialhilfesystem war natürlich auch kein Paradies. Aber es wurden individuelle Bedarfe berűcksichtigt und nicht psuschal alle über einen Kamm geschoren. Und diese apauschalen sind zu niedrig und werden mit listigen Berechnungsgrundlagen ermittelt. Außerdem wurde die Fortbildung seitdem immer wieder systematisch zusammen gestrichen. Dazu kommt das Sanktionsunwesen, mit dessen Hilfe aus Menschen mit Rechtansprűchen ängstliche Untertanen werden. Főrdern und fordern? Oftmals hauptsächlich Druck ausűben.
    Inklusion? Da kann ich nur hőhnisch lachen!

  19. Herr Malyssek schreibt:

    „Es ehrt sie, dass Sie Martin Schulz schon so einen Vertrauensvorschuss geben. Aber diese Begeisterung kann ich in diesem Maße nicht teilen.
    Mir ist es im Moment ein Rätsel, wo diese Debatte noch hinführen soll.“

    Ich habe geschrieben, daß ich die SPD wählen würde und wieder bei der SPD einträte, wenn sie umfassend ökosozial handelte incl. Abschaffung der Drittstaatenregelung (die mich 1993 bewegte, aus der SPD auszutreten).

    Um Steinbrück zu zitieren: Hättehättefahrradkette.

    Ich nehme den Kanzlerkandidaten Schulz beim Wort. Er will für soziale Gerechtigkeit eintreten. Er will Fehler benennen und korrigieren. Mit meinem Leserbrief will ich ihn nur darauf aufmerksam machen, was für mich als Ralf-Michael Lübbers wichtig ist und soziale Gerechtigkeit bedeutet: Kein sinnlos überbordender Reichtum. Keine tödliche und menschenverachtende Armut. Nicht für Deutsche. Nicht für sonst jemanden. Nicht für die nach uns Kommenden. Also Klimaschutz, der so funktioniert, daß das Leben auf der Erde erhalten bleibt.

    Klar, mir wäre lieber, Butterwegge (habe viele Bücher von dem gelesen) wäre SPD-Kanzlerkandidat. Dem vertraue ich voll. Schulz muß erst durch Taten (und zuvor Gedanken) zeigen, daß er richtig sozialdemokratisch handelt.

    Es gibt momentan eine Hype für die SPD. Weil sie zaghaft andeutet, gerecht handeln zu wollen. Diese Hype setzt die SPD unter Druck, die Neoliberalen unter ihnen (wie den jetzigen Außenminister) zu schassen und wirklich sozial zu handeln. Am besten schon jetzt. Die sind ja an der Regierung im Bund und in einigen Ländern.

    Sozialdemokraten in der SPD: Vereinigt euch! 😉

  20. @ Herr Schulze-Böing

    Herrn Schulze-Böing möchte man zurufen, eine beeindruckende, wenn auch nicht immer an Fakten orientierte Vorteilsübersetzung für eine Gesetzgebung, deren Regelsätze vom Bundesverfassungsgericht bereits 2010 für verfassungswidrig erklärt wurden. Er verschweigt, dass sich bei der von ihm gepriesenen „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ die neuen Sätze mehr an der Sozialhilfe als an der Arbeitslosenhilfe anlehnten und die Empfänger der früheren Arbeitslosenhilfe deutliche Nachteile in Kauf nehmen mussten. So fiel das Prinzip der Lebensstandardsicherung weg. Gleichzeitig wurden die Freibeträge für angesparte Vermögen ebenso reduziert wie die für Nebeneinkommen und Einkommen von Lebens- bzw. Ehepartnern.

    Wäre es tatsächlich um Inklusion gegangen, könnte man von einer Reform sprechen. Indes zeigen die massiven Verschlechterungen und ganz besonders die Sanktionspraxis von Hartz IV, dass für die Agenda andere Zielsetzungen ausschlaggebend waren. Es ging um die Absenkung der sogenannten Lohnnebenkosten für Unternehmen, um ein steuerfinanziertes Fürsorgesystem, das transnationale Unternehmen von der Co-Finanzierung entlastet sollte und um verschärfte Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose ohne Qualifikationsschutz.

    Schaut man auf die gesamte Agenda wird augenfällig, dass die Kosten des Sozialstaates im Fokus standen, alles andere kann man getrost als Sprachveredelung interpretieren.

    Dass auch die Förderung von Arbeitslosen mit Hartz IV nur noch zur Zierleiste an der früheren Karosse Arbeitsförderung mutierte, zeigen die mit Einführung des Gesetzes drastisch sinkenden Ausgaben für Eingliederung. Über die von Herrn Schulze-Böing erwähnte, „passgenaue“ Hilfe der Jobcenter muss man nicht lange diskutieren, wenn man bedenkt, dass im Zuge von Hartz IV vor allem prekäre Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet wurden und viele Betriebe seitdem Niedriglöhne zahlen, die vom Steuerzahler subventioniert werden.

    Würde Herr Schulze-Böing die Lebenslagen seiner „Kunden“ im Jobcenter gründlich studieren, würde er mit hoher Wahrscheinlichkeit sehen, dass ein erheblicher Teil zwischen prekärem Job, Arbeitslosigkeit und gefördertem Job pendelt. Man spricht daher in der Sozialforschung von „zirkuläre Mobilität“, ohne Perspektive, während die Vorteile andere abgreifen (Gewinnmitnahme von Unternehmen). Der Arbeitsmarkt sieht dynamisch aus, nur die Menschen treten auf der Stelle. Vor allem die Älteren, deren Arbeitslosigkeit sich verfestigt hat. Und die Lohnquote liegt heute immer noch niedriger als vor Hartz IV.

    Hartz IV hat – so das Fazit – entgegen der Behauptung von Herrn Schulze-Böing für die überwiegende Zahl der von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffenen die materielle Situation deutlich verschlechtert. Mit der Ausweitung von Leiharbeit, Werkverträgen, Befristung und Minijobs wurde ein Übriges getan, um den Niedriglohnsektor aufblühen zu lassen, alles im Rahmen der Agenda 2010. Damit wurden die Verhandlungsspielräume für die Arbeitnehmerseite bei Lohnverhandlungen geschwächt. Das zeigt sich bis heute. Die schwerwiegenden ökonomischen Folgen für viele Beschäftige und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa sind ebenfalls bekannt. Es wird hohe Zeit, über Schröders Agenda gründlich nachzudenken und die Jubelfanfaren aus der Hand zu legen, lieber Herr Schulze-Böing. Und über Demontage der Renten und des Gesundheitswesens habe ich noch gar nicht geredet. Können wir aber noch tun.

  21. Hallo freunde von schulz oder anderen,
    1. es ist durch keine Untersuchung bewiesen, ob hartz 4 geholfen hat, arbeitsplätze zu liefern, Arbeitsplätze werden generiert durch mehr Produktion und nicht durch Bestrafung.
    2. durch hartz 4 wurde allen ARBEITSsuchenden der weg zur ARBEIRSVERMITTLUNG versperrt,
    alle werden durch das „Job“ Center „betreut“.
    3. Warum sprechen die Journalisten,Politiker und andere immer „NUR“ von JOBS und nicht von Arbeit? Ist da nicht ein Unterschied??, genau wie an dem Unterschied zwischen: Verdienst und Bekommst??
    4. Die Job-Center sind LEIDER darauf ausgerichtet Geld zu sparen, Betroffene zu dranglasieren, Mittel zu Streichen oder zu Kürzen, mit fadenscheinigen Begründungen,
    haben aber wenig Ahnung vom auswärtigen Arbeitsleben.
    5. Früher haben die Sozialämter, vor allem in kleineren Gemeinde, die örtliche Situation im Blick gehabt und konnten oft gezielt helfen.
    6. Der SPD und den Grünen ging es doch damals nur darum bei großkopferten Eindruck zu schinden, hochgradig PEINLICH, vor allem von SCHROEDER!
    Das was erstmals GzG

  22. Ich habe vor einiger Zeit geschrieben das man Schulz die Chance geben sollte zu beweisen das er das kleinere Übel ist. Wenn ich seinen Vorschlag das Arbeitslosen Geld 1 zu verlängern als ersten Beweis sehen soll dann muss ich sagen das der Vorschlag mich enttäuscht hat. Das Problem der Agenta 2010 ist nicht wie lange das Arbeitslosengeld 1 gezahlt wird. Der Einwand von den Kritikern dieses Vorschlages das die Betroffenen sich nicht gerechter behandelt fühlen wenn sie z.B. 3 Monate länger das Arbeitslosengeld 1 bekommen ist berechtigt. Ich hätte erwartet das er als erstes sich das Arbeitslosengeld 2 vorgenommen hätte. Da meine ich die Höhe an der was geändert werden müsste aber auch das Schonvermögen. Es ist nicht ok das ein selbstbewohntes Einfamilienhaus nicht zur Altervorsorge gehört. Genauso sollten Gelder die für die Alterversorgung genutzt werden dürfen verdoppelt werden. Ich denke das sind die Haupttehemen die als ungerecht angesehen werden und ich bin inzwischen der Meinung das Herr Schulz offensichtlich selbst keine Ahnung hat und offensichtlich auch noch schlechte Berater, aber deshalb könnte er trotzdem das kleinste Übel sein.

  23. Stefan Briem fragt mich: „Warum sind Sie so empört darüber, dass Schulz auf den offenen Brief nicht antworten wird?“

    Martin Schulz muß schnell zeigen, für welche Politik er steht. Die SPD ist jetzt in einem Umfragehoch, weil er Gerechtigkeit verspricht in Zeiten grassierender Ungleichheit. Das muß er nutzen. Viele wissen inzwischen, daß die asoziale freie Marktwirtschaft die weit überwiegende Mehrheit der Menschen (und Wähler) massiv benachteiligt und verarmen läßt. Neoliberale Ideologen schafften es, ursprünglich sozial eingestellte Politiker und Parteien wie SPD und Grüne für ihre Zwecke zu manipulieren. Wer dies erkannt hat und eine Rückkehr zu sozialer Politk forderte, sah sich einer schier unüberwindlichen Wand von mächtigen Neoliberalen gegenüber. Dies bewirkte Parteienverdruss, Wahlenthaltung, das Aufsteigen populistischer Parteien und Politiker. Eine bleierne Lähmung setzte ein. So stelle ich mir DDR vor. Alle wissen, daß etwas falsch läuft (Verarmungspolitik), und fast alle machen mit.

    Ich erwarte jetzt von Martin Schulz: Leidenschaft und Feuer für die gerechte Sache! Sofort!

    Eine Politk, die Reiche reicher und Arme ärmer werden läßt, die sogar Menschenleben aufs Spiel setzt (Armut tötet, arme Menschen sterben früher), kann nicht sozial und damit nicht sozialdemokratisch sein. Martin Schulz muß kommunizieren, daß er so eine Politik nicht will!

  24. Sorry, noch etwas:

    Wenn Flüchtlinge zurück in Kriegs- und Krisengebiete geschickt werden (Afghanen), ist das eine moralische Bankrotterklärung. Es ist prinzipiell ähnlich der Denke der Schweizer im zweiten Weltkrieg, die ins Land geflüchtete Juden zurüch nach Nazi-Deutschland in den sicheren Holocaust-Tod schickten. Menschen werden in den Tod geschickt. Nur das es heute kein systematisches Töten ist (Genozid), sondern ein zufälliges.

    Wenn Sozialdemokraten und Grüne an diesem Desaster führend beteiligt sind…kotz! Das gilt natürlich für andere Parteien ebenso, die für sich in Anspruch nehmen, humanistisch zu sein. Dies gilt also auch für CDU und CSU. Die sind mir aber so fremd, daß ich ihnen keine Tipps geben möchte.

  25. @Jürgen Malyssek

    Volle Zustimmung zu Ihrem (ersten) Beitrag!
    Leyendecker,Süddeutsche, hat mal geschrieben, der Sozialstaat habe auch die Aufgabe, den ungleichen Lebenschancen entgegen zu wirken, nicht im Sinne eines totalen Ausgleichs, aber im Sinne einer Abfederung.

    Eine Grundsicherung ist nicht an sich verkehrt, das stimmt, aber so wie Hartz 4 aufgestellt ist, soll es genau das Gegenteil bewirken, und das mit voller Absicht (was den Gesetzgeber angeht, die Mitarbeiter vor Ort muß man da z.T. ausnehmen).
    Wer schon Nachteile hat, wird mit noch mehr Nachteilen belegt, wer schon bevorzugt ist, bekommt noch mehr Vorteile hinterhergeschmissen. Das Grundprinzip frisst sich dann nach oben in die Gesellschaft, auch das ist gewollt.

    Aber sollen sie ruhig weiter so machen, mal sehen, zu welchen Verhältnissen das führt und wer mit diesen dann besser klarkommt – diejenigen, die seit Jahrzehnten wie die Made im Speck leben und das dann gerne mit ihrer eigenen Genialität verwechseln- oder diejenigen, die Knappheit und Krise gewohnt sind.

  26. Leider muss ich noch mal auf meine Frage nach einer Alternative zurückkommen. Darüber, dass die Agenda 2010 ein Irrweg war und dass diesbezüglch umgesteuert werden muss, sind sich die meisten hier doch einig, das brauchen wir doch nicht immer und immer wiederzukäuen. Die Frage ist doch, mit welcher Partei oder Koalition bzw. welchem/r Kanzler/in das am ehesten und in welcher Weise zu bewerkstelligen ist.

    An Jürgen Malyssek
    „Zweitens ist Rot-Rot-Grün nicht die einzige Hoffnung.“
    Führen Sie das doch bitte konkret aus. Wo sonst sehen Sie noch eine Hoffnung?

  27. Natürlich schafft die Verlängerung der Bezugszeit von ALG I keine Arbeitsplätze. Aber sie gibt gerade älteren Arbeitnehmer, die ihren Job verloren haben, etwas mehr Zeit, eine neue adäquate Aufgabe zu finden, bevor sie in ALG II abstürzen. Ich habe bei der Diskussion über dieses Thema immer das Gefühl, Arbeitslosen wird eine gewisse Bequemlichkeit bei der Jobsuche unterstellt. Und genau davon gehe ich nicht aus.

    Schulz hat nun zum ersten Mal etwas Konkretes zu seinen Plänen gesagt. Das ist gut so. Aber es gibt´- gerade zum Thema Gerechtigkeit – wesentlich mehr Baustellen (paritätische Gesundheitsfinanzierung, Beseitigung der kalten Progression, einen Spitzensteuersatz, der diesen Namen auch verdient, Erbschaftsteuer, um nur einige zu nennen). Dazu erwarte ich klare Worte von Schulz. Ich kann zwar verstehen, dass er aus wahltaktischen Gründen damit erst im Sommer „aus dem Quark“ kommen will. Ich bin aber nicht sicher, ob er sich damit einen Gefallen tut. Er segelt im Moment auf einer Welle des Zuspruchs. Er sollte sie nutzen, so lange sie ihn trägt.

  28. Wenn für mich Martin Schulz eine echte Alternative darstellen würde, überlegte ich mir, mein Kreuz bei ihm zu machen. Aber so wie ich sein Wirken in der Vergangenheit beurteile, ist es letztendlich egal, ob Martin Merkel Kanzlerin bleibt oder durch Angela Schulz abgelöst wird. Motto: eine Schwalbe macht noch keinen Sommer bzw. ein bißchen Rouge auf die Backe der alten Dame SPD noch keine Verjüngung um 40 Jahre. Dazu bedarf es mehr, vor allem auch eine andere Mann- bzw. Frauschaft, gell, Frau Nahles. Es gab in den letzten Jahren sehr wohl die Möglichkeit, echte Reformen mit einer rot-rot-grünen Mehrheit auf den Weg zu bringen, z.B. contra die unsägliche Finanzierung der Ostrenten-Anpassung aus dem Rententopf, oder eine gute Infrastruktur, die den Namen verdient und auch die Belastungen durch die Migration abfedert. Oder auch eine echte Steuerreform. Daher glaube ich nicht an einen Wandel nach der Wahl, sondern eher wieder nur an faule Begründungen, warum dies und das jetzt und bis zum St. Nimmerleinstag hin nicht möglich ist.

  29. An Ralf-Michael Lübbers:
    Habe Ihre Absichten schon verstanden und Sie haben es heute ja im Leserforum zum Ausdruck gebracht. Das ist schon so in Ordnung, aber ich würde meine Stimme an eine Partei so nicht gerne verkaufen wollen. Sie meinen das bestimmt nicht so, aber bei mir kommt es wie eine Bittstellerei und Anbiederei an. Das kann ich nicht gut ab. Also nichts für ungut!

    An Wolfgang Geuer:
    Sie haben einen guten differenzierten Überblick zu den Absichten und Auswirkungen des SGB II/Hartz IV gebracht. Sehr gut! Auf wessen Kosten dieses „große“ Arbeitsmarktreformprogramm von Schröder/Hartz gegangen ist. Diese Mogelpackung der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. In allen Punkten, die sie benennen, haben Sie meine absolute Zustimmung. Ich habe oben mein Gewicht auf den Verlust der Menschenwürde der Betroffenen und die sich in Deutschland entwickelnde geistige Stimmung gelegt. Der haben wir auch den Rechtsruck zu verdanken.
    In Deutschland ist es alte Tradition unter
    Integration Arbeit! Arbeit! Arbeit! zu verstehen. Tief verankerte kulturelle Werte, die es schwer machen übergreifend und integrativ zu denken. Sie heißen: Ausgrenzen statt Integrieren!
    Und da kommt gerade jetzt ein Franz Müntefering im laufenden Wahlkampf daher und beschwört die alten Werte! Und eine bessere Welt. Das ist nur schwer auszuhalten.

    An Timm Pausmer:
    Ja, ja das hohe Lied der Job-Center und das neue Schattendasein der örtlichen Sozialämter. Dort war es auch nicht immer leicht zu seinem Recht zu kommen. Aber im Vergleich zur heutigen Praxis der Arbeitsagenturen, fast eine Oase des Friedens (auch wenn ich gerade leicht übertreibe).

    An hans:
    Ich bin auch Ihrer Meinung, dass Martin Schulz offensichtlich selbst keine Ahnung hat, was ALG 1 und ALG 2 für einen Stellenwert für das Gerechtigkeitsempfinden der Betroffenen haben.
    „Die hart arbeitenden Menschen im Lande“ – das wird auch mal so eine Sprachlegende. Wenig fassbar, aber kernig.

    An DH:
    Auch Ihnen vielen Dank für die unterstützenden Worte. „Wer schon Nachteile hat, wird mit noch mehr Nachteilen belegt, wer schon bevorzugt ist, bekommt noch mehr Vorteile hinterhergeschmissen.“
    Das ist kein Geschwätz. Das ist so.

  30. Also mir hat Herr Schulz nicht geantwortet. Jetzt habe ich ihn darüber informiert, daß mein Leserbrief heute veröffentlicht wurde. Damit ist er jetzt nicht mehr pivat, zwischen Herrn Schulz und mir, sondern ein offener Brief. Und auf die antwortet er ja nicht gerne. Wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht nimmt er sich aber ein Herz, überwindet seine Angst vor offenen Briefen, macht-wie von mir empfohlen-eine Konfrontationstherapie (für eine systematische Desensibilisierung ist es schn zu spät, die Wahl steht ja im September vor der Tür) und antwortet Herrn Professor Butterwegge (und meiner Wenigkeit) doch…

    Moin Herr Schulz,

    puh, Sie haben mir noch nicht geantwortet. Das ist gut! Ich wollte Sie ja darüber informieren, wenn mein Leserbrief bezüglich sozialdemokratische Politik veröffentlicht wird, weil Sie ja nicht so gerne auf offene Briefe antworten (vergleiche Professor Butterwegge in der Frankfurter Rundschau). Jetzt ist er drin, mein Leserbrief, in der heutigen Frankfurter Rundschau. Einerseits freue ich mich dann immer. Andererseits bekomme ich nun keine Antwort von Ihnen. Ist ja jetzt ein offener Brief. Man kann nicht alles haben…

    Ähm, ich bin zwar Allgemeinmediziner, kenne mich aber auch ein bißchen mit Angststörungen aus. Es ist so: Wenn man Angst hat, sich in der Öffentlichkeit zu äußern, kann Verhaltenstherapie helfen, und zwar am besten Konfrontationstherapie. Also: Ein bißchen autogenes Training oder progressive Muskelentspannung (wenn Sie das können; kann man lernen, 6 Wochen Kreisvolkshochschule), dann einfach die Argumente angucken, überlegen, was Sie daran gut finden und was vielleicht nicht ganz so klasse, und antworten. Übung macht den Meister! Wird schon klappen!

    Dies war der Leserbrief (zur Erinnerung :-)…

  31. An Brigitte Ernst:
    Sie können es fatalistisch oder auch pessimistisch nennen. Aber Sie können mir glauben, dass ich die HOFFNUNG nicht als letzten Strohhalm brauche, um das, was ich betrachte und erkenne, ins persönliche und politische Leben einzubauen.
    Wenn ich die fatalen politischen Entwicklungen sehe, dann ist es mir nicht nach einem großen Hoffnungsträger und auch nicht nach einer passenden politischen Konstellation, sondern ich will einfach nur, dass man aufhört sich in die eigene Tasche zu lügen und dem Wahlvolk irgendwas vormacht, was meistens ein frommer Wunsch bleibt. Ich betrachte mich als mündigen Bürger und ich wäre wahrscheinlich ein schlechter Politiker, weil ich an bestimmte Grenzen der Kompromissbereitschaft stossen würde. Deshalb wehre ich mich auch nicht gegen ein Rot-Rot-Grün, aber ich sehe es eher pragmatisch. Hoffnung? Weiß ich nicht? Vielleicht würde sich das soziale Klima etwas verbessern? Habe zu lange das neoliberale Klima zu spüren bekommen. Ich finde Skepsis wichtig. Viele andere mögen das nicht so. Macht angeblich schlechte Laune.

  32. Ich verstehe den ganzen Hype um Schulz und die angeblich neue SPD überhaupt nicht. Wenn es diesen Leuten ernst wäre, bräuchten sie nicht auf das Ergebnis der nächsten Bundestagswahl zu warten, sondern könnten einen Großteil der Maßnahmen zur von ihnen als Hauptthema beschworenen Gerechtigkeit bereits heute mit ihren und den Stimmen der Linken und der Grünen realisieren. Sie müssten nur die entsprechenden Gesetzesvorlagen einbringen oder solchen der Linken oder der Grünen zustimmen. Wer oder was hindert sie daran?

  33. Jürgen Malyssek hat meine Äußerungen aufgegriffen und mich mit seinem letzten Beitrag daran erinnert, was zur Agenda-Politik noch alles zu sagen ist. Über die Menschenwürde, die er anspricht, habe ich nicht geredet, auch nicht über die Begleitakkorde, die bei der Einführung von Hartz IV orchestriert wurden. Das Wort „Menschenwürde“ von Jürgen Malyssek hat mich dankenswerterweise noch einmal daran erinnert.

    Nicht nur Bild legte gegen „Hartz IV-Abzocker“ und „Sozialschmarotzer“ los, nicht nur Westerwelle tobte sich aus an Hartz IV-Empfängern mit Worten von der „spätrömischen Dekadenz“, auch der Philosoph Sloterdijk favorisierte eine „Kultur des Schenkens“ – Almosen statt Rechtsanspruchs – im deutschen Sozialsystem, während der Spiegel „ein Heer von Abzockern und Sozialbetrügern ausmachte. Ein solches Menschenbild als Verachtungskultur richtig beschrieben, war bei Spitzenpersonal der SPD weithin verankert. Kurt Beck, der damalige SPD-Vorsitzende beschimpfte 2006 einmal den Arbeitslosen F. auf einem Weihnachtsmarkt, „sich erst einmal zu rasieren und zu waschen, dann fände er auch Arbeit.“

    Ich rechne auch die Arbeitsmarktexperten und Ökonomen zu den Verächtern, die damals die Verkürzung des Arbeitslosengeldes auf 12 Monate als „starken Anreiz“ für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit deuteten, obwohl es für alle Arbeitslosen schlichtweg zu wenig Arbeit gab und gibt. Dahinter verbarg sich eine gezielte Ursachen- oder Schuldverlagerung auf Arbeitslose nach dem Leitgedanken, wer wolle, fände auch Arbeit. Der Umkehrschluss lag auf der Hand: Wer arbeitslos ist, wolle eigentlich nicht.
    Unvergessen, als der damalige „Superminister“ Clement, ein Hartz IV-Vorkämpfer mit besonders großer Leidenschaft, Arbeitslose schon einmal als „Parasiten“ bezeichnete und Druck empfahl, mit dem man die Potenziale der Erwerbslosen erschließen müsse.

    Medial wurde auch mit Hilfe des Privatfernsehens eine Kunstfigur geschaffen und auf Millionen Menschen übertragen: Der Arbeitslose, der sich mit Stütze ein schönes Leben auf Kosten der arbeitenden Menschen macht. Die Politik zu Zeiten Schröders war für jede Steilvorlage dankbar und brachte sie im Deutschen Bundestag und in Wahlkampfveranstaltungen unter die Bürger, die irgendwann anfingen, daran zu glauben. Schröder selbst, der Bildzeitung ohnehin zugewandt, sprach davon, es „gäbe kein Recht auf Faulheit“ und griff damit die Kampagnen des Boulevardblattes sogar in seiner Regierungserklärung auf.

    Die Demütigungen und psychischen Verletzungen von Betroffenen hatten System, sie bildeten das Einfallstor für gruppenbezogene Stigmatisierungen, um den Sozialstaat zu Lasten der Schwachen zu verändern. Die Arbeitslosen wurden zu den neuen Ausländern, denen man „Selbstbedienungsmentalität“ und „Verantwortungslosigkeit“ unterstelle. Der Stern, besser gesagt, der damalige stellvertretende Chefredakteur Jörges, verstieg sich in einer Schlagzeile 2006 zu der Äußerung, „der Kommunismus hat gesiegt, Arbeit wird verhöhnt“. Mehr Blödsinn geht eigentlich nicht. Es zeigt aber, welche Absichten verfolgt wurden, und wie weit der Resonanzboden bestellt wurde, um diese Reform politisch durchzusetzen.

    Wenn man über Hartz IV diskutiert, sollte man die damaligen Äußerungen nicht aus dem Auge verlieren, weil sie das Klima lieferten, um die schwerwiegenden Eingriffe in den Sozialstaat zu rechtfertigen.

  34. An Wolfgang Geuer:
    So kriegt das Thema Agenda-Politik und deren Folgen Substanz und wir kommen auf des Pudels Kern. Und nicht mit irgendwelchen internationalen Vergleichen und Rechtfertigungen, die nichts mit den tiefen sozialen Einschnitten in der Gesellschaft der Verlierer zu tun haben. Wobei in dieser Zeit die Wohlfahrtsverbände alles andere als eine widerständige gute Figur abgegeben haben. Wer gestern Abend ARD-PANORAMA zu Armut und Lebenserwartung gesehen hat, der kann an dem erbärmlichen Zustand unserer Leistungsgesellschaft, mit der immer weiter auseinandergehenden Schere zwischen arm und reich, nicht mehr vorbeireden.
    Was Politiker (einschließlich der ganzen SPD-Elite)und ein Philosoph wie Sloterdijk in dieser Agenda-Zeit von sich gelassen haben, kann man nur noch als arrogant, würdelos und skandalös nennen! Von der BILD und diesen auf unterstem Niveau ausgestrahlten TV-Sendungenganz ganz zu schweigen. Daran haben Sie, Wolfgang Geuer, mich wieder erinnert. Danke!

  35. wir dürfen nicht vergessen, wie das alles gründete auf der Mär von den angeblich verkrusteten Steukturen des Sozialstaates, den ausufernden Verwaltungen und nicht zuletzt dem „kranken Staat “ in Europa. 30 Jahre erfolgreich he Neoliberale Propaganda und die Folgen der Wiedervereinigung, die ja angeblich nichts kostete. Die Abwicklung der DDR. Hat mal einer von Ihnen das faszinierende Buch Der deutsche Goldrausch gelesen? Wie das DDR-Staatsvermögen verschleudert wurde? Klassischerweise nach 16 Jahren Kohl kam das böse Erwachen ausgerechnet und pünktlich während der Regierungszeit einer rotgrünen Regierung. MIt dem Bastakanzler, der glaubte, es gebe keine rechte oder linke Wirtschaftspolitik sondern nur gute oder schlechte. Alle Folgen dieser Politik für die Beteoffenen waren eiskalt vorausberechnet: Senkung des Lohnniveaus war das Ziel. Ist es nicht beeindruckend und schockierend zu sehen, was für eine konzertierte Aktion aus Wirtschaft, Medien und Politik diesen Prozess voran getrieben haben?

  36. Das alles bleibt mir zu rückwärtsgewandt. Es bleibt beim Wiederkäuen des längst Bekannten. Ich bin alles andere als euphorisch oder voller Hoffnung. In der Politik geht es leider oft um das kleinste Übel. Ich will herausfinden, wen ich im Herbst wählen kann/soll und was ich sonst noch tun kann, um das, worüber hier so wortreich gejammert wird, abzustellen. Ganz pragmatisch.
    Dieser Thread scheint dafür kein Forum zu sein.

  37. Verzeihung, ich habe nicht den kompletten Thread gelesen,aber
    Matthias Schulze-Böing hat mit seinem Leserbrief recht
    „Die Arbeitslosenhilfe war (vor der Agenda) im Grunde eine abgesenkte Verlängerung des Arbeitslosengeldes.“
    „Selbstverständlich musste auch hier sehr oft durch Sozialhilfe aufgestockt werden“

    denn tatsächlich gibt es auch gutes über die Agenda 2010 zu sagen, wobei ich einerseits ein Betroffener der Reform bin und den Eindruck dabei habe, das Behörden Willkür sich nicht damit abstellen lässt – denn diese fand auch schon vorher statt. Behördenwillkür durch Zusammenlegung von Gerichten und Ämtern beispielsweise. Sowas gibt es in der hessischen Kommunalpolitik seit 2000 mit Behördenzentren, dort können die Gerichte und verschiedenen Behörden sich die Hand geben. Sie können sich durch die räumliche Nähe auch über die Klientel austauschen.
    Dieser Schritt in der Kommunalpolitik zur Massierung von Behörden an einer Stelle in der Städten geschah schon vor der Agenda 2010.
    Wenn es dumm läuft sind alle gegen dich, Gerichte und Ämter.Wenn es gut läuft, lassen sie dich in Ruhe.Bei mir persönlich ist mit der Agenda 2010 etwas mehr Ruhe eingekehrt. Ich war deswegen vor dem Verwaltungsgericht, seitdem beziehe ich das Hartz IV Geld.

  38. zu @ Brigitte Ernst
    Ich teile ihre Meinung. Hier wird mir viel zu abgehoben diskutiert.Die Frage ist wie sollte die Agenda 2010 reformiert werden um bestimmte Fehlentwicklungen zu korrigieren. Das ist eigentlich eine sehr konkrete Frage. Dazu gehört auch die Aufarbeitung der Vergangenheit, aber nicht nur. Ich habe weiter oben zwei Vorschläge gemacht. Es könnte aber auch sein das die Leute die hier große Reden schwingen genausoviel Ahnung von der Praxis haben wie ofensichtlich Herr Schulz. Man könnte ja mal beginnen auf die größten Ungerechtigkeiten einzugehen.

  39. An Frau Ernst

    „Rückwärtsgewandt“ trifft es ganz ausgezeichnet. Werner Engelmann hat von einem „Echoraum“ gesprochen, in dem immer dieselben Klagen ausgestoßen werden und dieselben Echos zurückschallen, weil immer dieselben Claquere applaudieren. So ist das hier. Lösungen oder auch nur Vorschläge hat keiner der Klageführenden zu präsentieren, sondern sie beschränken sich aufs Jammern und Anklagen. Es ist wirklich sehr ermüdend, sich immer und immer wieder dieselbe Leier anhören zu müssen.

  40. Bevor man mich fragt was an der Agenda denn als erstes geändert werden sollte möchte ich die aus meiner Sicht größten Fehlentwicklungen aufzeigen.
    Das erste was geändert werden soll ist das Thema Fördern. Wer einmal in einer EGF Förderung war weiß das mit mehr Geld auch in diesem Bereich mehr geht. Das gilt nicht nur bei den Arbeitslosengeld 2 Empfängern sondern auch bei den Menschen die Arbeitslosengeld 1 beziehen. Als zweites gehören die Schonvermögen verdoppelt und selbstgenutzter Wohnraum dem Schonvermögen zugerechnet. Ich sage mal bis 200 Quadratmeter. Als drittes müssten die Bezüge aus Arbeitslosengeld 2 erhöht werden. Wenn das alles passiert ist haben wir schon der Ungerechtigkeit die Spitze genommen. Dann ist es sicher auch wünschenswert das Arbeitslosengeld 1 zu verlängern.

  41. Ich habe leider nicht den Eindruck, dass die Schreiber hier, die von Rückwartsgewandtheit der Agenda-Kritiker sprechen, verstanden haben, welchen tiefen Schnitt in den Sozialstaat dieses Arbeitsmarktreformgesetz gebracht hat. Zumal einige hier ziemlich klar und qualifiziert die Fehler dieses Gesetzes aufgeschlüsselt haben – und vor allem die Folgen für das soziale Klima im Lande. Sicher geht es nicht nur um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber wenn wir nicht verstanden haben, was damals passiert ist, dann brauchen wir auch nicht die nächsten Rezepte auf den Tisch legen. Mit Fehlerkorrekturen und Rezepturen ist es nämlich nicht getan. Das mag ja für die politisch jetzt Ungeduldigen, die wissen wollen, wen sie im Herbst wählen sollen, etwas mühsam sein. Aber mit bloßem Pragmatismus ist es hier jedenfalls nicht getan, wenn es keine politische Überzeugungen gibt, wenn es keine politische Haltung gibt. Und da darf man ja wohl zumindest Skepsis anmelden.
    Frage: Wer schwingt hier große Reden (hans)? Und haben keine Ahnung von der Agenda und ihrer Praxis?
    Was sind jetzt die kleinsten und die größten Ungerechtigkeiten, soll vorsortiert werden? Ich verstehe das nicht.
    Der Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit taucht immer dann wieder auf, wenn man sich eigentlich nicht damit beschäftigt hat und das Zurückliegende einfach nur lästig ist. Das immer wieder postulierte Nach-vorne-schauen, das haben z.B. die Weltverbesserer in Silicon Valley perfekt drauf.
    Am besten Lösung sofort.
    Ich bin in keinster Weise der Meinung, dass es mit der „Reform“ des ALG I (wie es SPD-Schulz jetzt durch die Lande transportiert) getan ist. Hartz IV muss weg! So palakativ dies auch klingt. Die Verwerfungen, die es mit sich gebracht hat, sind alle in der hiesigen Debatte benannt worden. Es kann auch nicht um Nachbesserungen und Reparaturen am Gesetz gehen. Die Linke (für die noch Wahluntschlossenen!) ist da übrigens ziemlich klar drin.
    Was soll das mit den „diesselben Claqueure“ und den „Klageführenden, die sich aufs Jammern und Anklagen beschränken“ (St. Briem)? Wenn es hier zu ermüdend wird, und mir geht es dann aber auch so, die Leier von der Rückwärtsgewandtheit und der Jammerei zu hören, dann sind wir wohl alle im falschen Film.
    Oder folgen einfach dem pragmatischsten aller Poltiker im Land.

    Wissen die hier Beteiligten eigentlich mit welch einer Macht die Bundesagentur für Arbeit (für Bundesanstalt)in diesem ganzen Prozess ausgestattet ist und auch mit welch einer Steuerungsmacht?
    Die linke und die rechte Hand bzw. der verlängerte Arm der ganzen Hartz IV-Bürokratie, denen selbst die Agenturen vor Ort in ihrer Bewilligungspraxis ausgeliefert sind. Das nur mal so am Rande.
    Ich bin jetzt auch müde und glaube, es ist alles gesagt.

  42. Der Vorwurf des rückwärtsgewandten Gejammeres erstaunt mich auch sehr! Und wenn es um die Zukunft geht: es gibt einiges an guten vorschlägen sowohl von den Wohlfahrtsverbänden und den Kirchen als auch von den Verbänden der Betroffenen. Das fängt an mit einer realistischen Bewertung dessen, welche Regelsätze für eine würdige Teilhabe nötig sind über die Abschaffung der demütigenden Sanktionen – insbesondere für die jungen Leute unter 25 – bis hin zu sinnvollen Weiterbildungsmöglichkeiten in ausreichendem Maße und ganz besonders für Langzeitarbeitslose. vor allem aber: RESPEKT statt Verachtung und Demütigung! Damit habe ich jetzt nur besonders wichtige Veränderungen genannt. Die Aufzählung ist nicht abschließend.

  43. @ Hannah Erben

    Das sind Ansätze, die meiner Ansicht nach mehr bringen als der ständige Blick zurück.

  44. zu @ Jürgen Malyssek
    Wenn sie sagen Hartz 4 muss weg dann müssen sie auch sagen was anstatt dessen kommen soll. Irgendwelche Regel werden wir schon brauchen. Der Schritt Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammen zu legen war richtig. Falsch ist das was man daraus gemacht hat und das muss man ändern das aber vernüftig und pragmatisch.Man sollte die betroffenen Leute nicht unterschätzen. Wenn Herr Schulz diese Menschen gewinnen will braucht es klare nachvollziehbare Ansagen. Mit dem Verbinden von längerem Arbeitslosengeld 1 und Qualifikation ist er ja, laut den heutigen Nachrichten, in die richtige Richtung gegangen. Dem kann ich zustimmen.

  45. Warum reden Sie (Brigitte Ernst) immer von dem Blick zurück? Eine Kritik an Hartz IV/Agenda hat doch damit gar nichts zu tun. Im Übrigen bin ich kein Politiker, der irgendetwas auf den Gesetzesweg bringen kann. Etwas Anderes wäre, wenn ich im Parlament sitzen würde.
    Ansonsten bin ich in der Tat der Meinung, dass das jetzige SGB II so nicht mehr bestehen bleiben dürfte und die Sozialhilfe auf den alten Stand des Bundessozialhilfegesetzes (inhaltlich)zu bringen wäre, mit den entsprechenden Berücksichtigungen des individuellen Hilfebedarfs und den Ermessenspielräumen sowie für die Wiederbelebung der alten §§ 18, 19, 20 Bundessozialhilfegesetz (BSHG), mit den Möglichkeiten der Schaffung von Arbeitsgelegenheiten im kommunalen Rahmen mit der Möglichkeit z. B. von öffentlich geförderten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen für Menschen, die auf dem Ersten Arbeitsmarkt nur noch geringe Chancen haben.
    Die sog. Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, ist eine Mogelpackung. Sie hat nur dazu beigetragen, den Druck auf die Arbeitslosen durch die bekannten Maßnahmen der Sanktionierung in den Agenturen und Jobcentern zu verstärken und den Zugriff auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Hilfeempfänger zu verstärken (sich ‚praktisch nackt auszuziehen‘) Dazu kamen die Entwicklungen der weiteren Diffamierungen der Menschen als Faulenzer und Schmarotzer, die Wolfgang Geuer und ich weiter oben beschrieben.
    haben.
    Ich will, dass der Sozialstaat wieder zu dem wird, wie er sich in der Zeit vor 1998 noch weitestgehend befunden hat. Ich will das es Schluss damit ist zwischen guten und schlechten Arbeitslosen zu unterscheiden. Gleichzeitig bin ich es dann auch leid, mir dauern anzuhören, rückwärtsgewandt zu sein.
    Ich kann Ihnen, wenn es unbedingt sein muss, eine Menge weiterer Einzelheiten auflisten. Aber dann beschwert sich wieder jemand hier, dass es eine hochtrabende abgehobene Debatte ist, die nur ermüdet. Ermüdend ist dauernd zu erklären, dass es darum geht die Agenda an der Wurzel des Übels zu packen. Also diese ganze Reform, die ausschließlich der Arbeitsmarktentwicklung diente, wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es geht um etwas ganz Grundsätzliches, um ein Menschenbild, das Hartz IV, dass die Betroffenen nur noch als selbstverschuldete Leistungsempfänger abgestempelt und sie reinen ökonomischen Prioritäten unterworfen hat. Es geht um die Menschenwürde (s.o.).
    Ich habe diese Menschen kennengelernt und ich kenne heute weiterhin Betroffene, deren sozialer Abstieg durch die Agenda und die Behandlung als Leistungsbezieher teils fatale private und menschliche Folgen hatte.
    Was wollen Sie noch alles von mir hören?
    Ich kenne übrigens ganz genau, was „vordergründig“ hinter der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe steckte. Die rein auszahlungspraktischen Überlegungen (Ungleichzeitigkeit von Auszahlungen der SH und Alhi)zur Veränderung des Systems waren nur Vorwand für das, was es galt politisch durchzusetzen und was so auch passiert ist.
    Insofern ist ein Teil der Erklärung von *hans vorstehend durchaus korrekt. Aber nochmal: Es geht nicht um Korrekturen eines unsozialen Systems oder um Nachbesserungen. Es geht um eine wirkliche Rücknahme der Agenda. Solange das nicht politisch so gesehen und gemacht wird, wird es meinen Protest geben. Mehr kann ich nicht machen.
    Und jetzt glauben Sie mir, wer auch immer auf pragmatische Lösungen pocht und die letzten Beweise für falsch und richtig sucht, dass ich hier nicht um der reinen Freude an der Debatte in die Thematik eingestiegen bin. Das macht inzwischenwenig Spaß.
    Soweit ich das jetzt überblicke lagen Wolfgang Fladung, Wolfgang Geuer, DH und zuletzt Hannah Erben nicht so weit in der Sichtweise der Dinge auseinander. Das empfand ich jedenfalls als konstruktiv und hilfreich.

  46. Von wegen „rückwärtsgewandt“

    Eine Analyse der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation Deutschlands bei der Einführung der Agenda 2010 kommt nicht ohne historische Betrachtungen aus. Diese Fakten können Antworten geben auf die Frage, wen oder welchen Kandidaten und welche Partei ich im Herbst 2017 wählen kann? Wem kann ich vertrauen? Oder, was ist eigentlich in den letzten Jahren nicht gut gelaufen? Zwischenfrage: Sagt man Historikern, sie seien „rückwärtsgewandt“? Oder Medizinern, die eine Therapie evaluieren, sie seien es? Controllern, die Maßnahmen einer Organisation überprüfen? Wirtschaftsexperten, die über Entscheidungen der Vergangenheit sprechen, um zukünftig Fehler zu vermeiden? Bestimmt nicht.

    Ich meine auch, dass die geführte Diskussion keineswegs abgehoben ist – ganz im Gegenteil, wir haben über fast alle Hintergründe der Agenda-Politik, ihre Absichten, Wirkungen und Nebenwirkungen gesprochen. Wir haben über Sein und Schein diskutiert. Über die Ankündigungen von großen Zielen und den tatsächlichen Effekten. Und über die verteilungspolitischen Schäden. Dass bei Hartz IV-Empfängern im Gegensatz zur früheren Arbeitslosenhilfe keine Rentenbeiträge mehr entrichtet werden, wurde bisher jedoch nicht erwähnt. Daher tue ich es jetzt. Jeder kann sich ausmalen, was dies für die Betroffenen bedeutet.

    Und dass die Diskussion noch lange nicht abschließend ist, denn über die von Rürup und Riester eingeleiteten Rentenkürzungen mit der unweigerlich eintretenden Altersarmut in den nächsten beiden Jahrzehnten für mehr als 40% aller Bürger und von den Kürzungen von Leistungen im Gesundheitswesen und der Beitragsdeckelung für die Arbeitgeberseite wurde bisher nicht gesprochen. Aber auch dies sind Teile der Agenda 2010 mit negativen Folgen für viele Menschen. Zugleich begünstigen sie Vermögende und Unternehmen. Wir könnten auch noch über Steuersenkungen von Spitzenverdienern und Unternehmen im Zuge der Agenda sprechen. Und über die Verteilungswirkung in unserem Gemeinwesen.

    Mit Blick auf Frau Ernst möchte ich sagen, dass ich keine Antwort gebe, wen sie wählen könnte, sondern mit vielen anderen lieber daran erinnere, welche Aspekte und Fakten der Agenda 2010 bei der Wahlentscheidung zu berücksichtigen sind. Denn mit diesem Hintergrundwissen kann man die Kandidaten und Parteien recht gut einordnen, besonders die, die bereits Verantwortung trugen. Die Entscheidung selbst überlasse ich gerne jedem persönlich.

    Hans erwidere ich, dass die Beschreibung einer positiven Agenda für die Zukunft den Rahmen dieses Blogs in Schwierigkeiten bringt; bestenfalls geht es um eine Skizze, deren Eckpunkte bereits umrissen wurden. Deutlich höhere Leistungen für Langzeitarbeitslose gehören genauso dazu wie eine Statussicherung der Betroffenen angesichts des immer wieder genannten Fachkräftemangels. Die Haushaltsmittel für echte Qualifizierung müssen deutlich erhöht werden, eine Fortzahlung der Rentenbeiträge gehört dazu, ein Ende der unsäglichen Sanktionspraxis, wie auch von Gerichten thematisiert, um die soziale Sicherung nicht zu unterlaufen. Dazu muss ein Mindestlohn eingeführt werden, von dem arbeitende Menschen auch leben können. Die Ausweitung der Leiharbeit bzw. aller prekären Beschäftigungen muss angegangen werden. So wäre es schon hilfreich, wenn das Prinzip „gleicher Lohn“ eingeführt würde, damit wäre die Leiharbeit rasch auf das notwendige Minimum begrenzt.

    Naja, dann wären da noch die beiden grundsätzlichen Themen Gesundheitswesen und Rente sowie die privaten Zusatzversicherungen, an denen sich nur Versicherer und Finanzdienstleister mästen.

    Und meine Bitte: Stellen sie ihrem Kandidaten genau diese Fragen, die hier diskutiert wurden. Oder ihren Abgeordneten. Gehen die Kandidaten vielleicht selbst darauf ein? In welcher Koalition erhoffen sie sich die richtigen Antworten auf diese Fragen? Schreiben sie ihren Abgeordneten, den Spitzenpolitikern der Parteien, verlagen sie Antworten.

  47. In den Leserbriefen zur Bewertung der Reformbedürftigkeit der Agenda 2010 und der Hartz IV Regelungen wird tendenziell von einem „Kompetenzverfall der SPD in Sachen Soziale Gerechtigkeit“ gesprochen. Liegt dieser Kompetenzverfall aber wirklich vor oder wird nur eine sozialutopische Rhetorik vermißt, mit der die inzwischen dahin geschiedenen Zeit der verarmten Arbeiterklasse gegen das übermächtige Kapital wetterte? – Auch der nun schon seit geraumer Zeit zu beobachtende , fast inflatorische , Gebrauch des Wortes Neo-Liberalismus, vermag nicht zu erhellen, worin im Prinzip denn eigentlich das Defizit an Kompetenz in Sachen „Sozialer Gerechtigkeit „ besteht? ^^ Verlassen wir das unfruchtbare Terrain des Begriffes Neo-Liberalismus und erinnern wir uns daran, daß das Wort „ICH -AG“ einmal zum Unwort des Jahres gekürt oder fast gekürt wurde. Der Widerstand stramm linker Kräfte in der SPD gegen eine Überprüfung der Agenda 201 vor dem Hintergrund der signifikant gesunkenen Arbeitslosigkeit in Deutschland rührt her von der Allergie gegenüber einem Standpunkt, die Fehlfunktionen der Sozialen Marktwirtschaft im Wesentlichen in dem Mangel an Eigenverantwortlichkeit von Arbeitslosen zu sehen. Das Leitmotiv °°Fördern & Fordern°° hat aber doch nicht einseitig nur die Selbstverantwortlichkeit betont, sondern nur darauf aufmerksam gemacht, daß Arbeitslosenunterstützung auch nicht zur „sozialen Hängematte“ ohne Eigenanstrengung werden darf.^^ Inzwischen sind in der gesamten Problematik neue Werfer von Nebelkerzen unterwegs, indem ein arbeitsloses Grundeinkommen für den Bürger gefordert wird. Entfällt aber der Anreiz zu arbeiten und würde dies von allen Volkswirtschaften der Welt zur Maxime erhoben, würden wir in einen Gesellschaftszustand allergrößter sozialer Unruhe einmünden.

  48. @ Wolfgang Geuer

    Ich bin der Ansicht, die nötige historische Analyse sei in den langen Diskussionen über Hartz IV, die in den verschiedensten Threads dieses Blogs bereits stattgefunden haben, hinlänglich geleistet worden und man könne sich nun den Folgerungen, die aus den Analyseergebnissen für die Zukunft zu ziehen sind, widmen. Offensichtlich sind viele andere Blogger noch nicht an diesem Punkt angekommen.

  49. Wolfgang Geuer hat dankenswerterweise zu „rückwärtsgewandt“ und „abgehoben“, das man gerne der Diskussion unterstellen wollte, entsprechend überzeugend geantwortet.
    Darüber hinaus ist diese Diskussion wirklich noch lange nicht beendet. Es sein denn, man blendet die langen Listen der sozialen Schieflagen und Verwerfungen über die Jahre der Praxis von Hartz IV aus.
    In der Tat waren die fehlenden Rentenbeiträge für die Betroffenen, die Rentenkürzungen, die auf den Markt geworfene Riesterrente oder die Kürzungen der Leistungen im Gesundheitswesen noch nicht angesprochen gewesen. Ja, und die Leiharbeit und die befristeten Arbeitsverhältnisse bis in den akademischen Sektor.
    Ich darf aus dem Bereich der Sozialen Arbeit berichten, dass vor und zum Zeitpunkt des Inkraftretens der Hartz-Gesetze, leider die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege – die einen Löwenanteil an Stellen der sozialen Dienste in den verschiedensten Fachdiensten stellen -, es damals nicht rechtzeitig schafften bzw. schaffen wollten, kritische Distanz zur neoliberalen Politik der Regierung zu halten. Stattdessen stellten sie sich leider selbst als Mitgestalter der neuen Programme (im Bereich Arbeit und Beschäftigung) nach Hartz IV auf (z.B. Einrichtung von Ein-Euro-Jobs) auf und kamen bei der notwendigen Entscheidung ihre Rolle als Anwälte von benachteiligten Menschen und/oder als Dienstleister zu klären, sehr stark ins Schwimmen. Denn in dem neuen Reformgesetz SGB II war und ist die Funktion der Anwaltschaft nicht mehr gefragt. Dadurch ist auch die Soziale Arbeit in die Bredouille gekommen. Zwar war dieses Spannungsverhältnis für sie im Grunde nichts Neues. Das Dilemma verstärkte sich allerdings mehr und mehr im Zuge des folgenden Um- und Abbau des Sozialstaates.
    Es begann die Zeit einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung der Sozialen Arbeit, die bis heute andauert. So war auch die Erwartung der Regierungspolitik. Beratung und Anwaltschaft versus Indienstnahme durch den Staat.
    Die Agenda 2010 (man erinnere sich an den Slogan der Bundesregierung: Deutschland bewegt sich!) begann mit der „feindlichen Übernahme“ von Konzepten und Begrifflichkeiten aus der Sozialarbeit und deren Entwicklungen der Jahrzehnte zuvor: Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Aktivierung, Fördern und Fordern, usw. und besetzte sie mit mit ihrem neoliberalen Politikverständnis: Keine Leistung ohne Gegenleistung, Arbeiten um jeden Preis, usw. Man erinnere sich an die reaktionären, menschenverachtenden Aussprüche von Schröder, Clement oder Müntefering („Wer nicht arbeitet, soll auch nichts essen“, usw.) Der größte Hohn war wohl die Einführung des Prinzips Fördern und Fordern, das günstigsten Falls zu einem Fordern und Fördern mutierte. Über die Sanktionspraxis in den Agenturen und Jobcentern ist schon gesprochen worden.
    Vieles Weitere könnte Seiten füllen.
    Qualitätsdebatte und Qualitätsbluff oder Best-practice-Gestöse mit neuen schillernden lebensfernen Begriffen.
    Seit dieser Zeit ist so etwas wie Kritische Sozialarbeit eine Nische für untere fünf Prozent der Studierenden geworden.
    Ich komme zum Schluss und muss Sigurd Schmidt in seiner standhaften Verteidigung der Agenda und der SPD (die übrigens nie was mit der verarmten Arbeiterklasse, dem Lumpenproletariat am Hut hatte) sowie seiner Sympathie für den Weiterbestand der real existierenden Marktwirtschaft, eindeutig widersprechen.
    Er spricht von dem „fast inflationären Gebrauch des Worte Neo-Liberalismus und seines unfruchtbaren Terrains“. Sicher kommt man in der Debatte mit diesem Begriff etwas verkürzt daher, was aber nichts an seiner Richtigkeit ändert: Denn der Neoliberalismus bezeichnet die Neubelebung wirtschaftsliberaler Ideologien seit Mitte des 20.Jahrhunderts und fordert eine freiheitliche, marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit entsprechenden Gestaltungsmerkmalen wie privates Eigentum an den Produktionsmitteln, freie Preisbildung, Wettbewerbs- und Gewerbefreiheit. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaft werden nicht völlig abgelehnt, sollten aber auf ein Minimum beschränkt sein.
    So haben wir’s jetzt und noch viel mehr. Denn es ist alles Markt geworden.
    Und im Geiste der Agenda 2010 ist auch das nahezu unauslöschbare Vorurteil gegenüber Arbeitslosen durch alle Politikerköpfe gegangen und hat alte Geister aus unsäglichen Zeiten wieder geweckt: Von dem Mangel an Eigenverantwortlichkeit, der Hang zum Faulenzer- und Schmarotzertum und natürlich hatte dann die „soziale Hängematte“ wieder Hochkonjunktur. Die ewige Unterstellung, dass der Anreiz zu arbeiten fehle, wenn man der Sozialleistungen zuviel und zulange erhalte, usw., usf.
    Ich habe in meiner Arbeit mit den Menschen, die an der untersten sozialen Skala ihr Leben zu bewältigen hatten, keinen kennen gelernt, der nicht gerne hätte arbeiten wollen. Der nicht das Gefühl mit sich trug, irgendwie gebraucht zu werden, für etwas nützlich zu sein in diesem Leben. Keinen habe ich in 30 Jahren kennengelernt!
    Nein, sie konnten nicht mehr, weil sie krank, abgeschoben, verletzt und körperlich am Ende waren. Frustriert und enttäuscht vom Leben. Das ist die Wahrheit und nicht diese Sozialzoten von den Sozialschmarotzern und Taugenichtsen.

  50. Lieber Sigurd Schmidt,

    niemand vermisst die „sozialutopische Rhetorik“ bei der SPD. Ganz im Gegenteil, zur Fähigkeit eines Spitzenkandidaten der SPD gehören wärmende Worte wie „…die hart arbeitenden Menschen, die sich auf uns verlassen können…“ oder “… die hart arbeitenden Menschen (…), die trotz zweier Einkommen nur so grade über die Runden kommen…“. Bei Schulz kann man ganze Kaskaden solcher Sätze in beliebiger Reihenfolge aneinanderfügen. Und schlimmer, wir werden bis zum Wahlausgang noch in ungezählten wortreichen Wendungen davon zu hören bekommen. Nein, daran besteht kein Mangel. Ich vermisse allerdings die Benennung der Verursacher, denen es viele zu verdanken haben, dass die Einführung des Niedriglohnsektors häufig zwei Jobs erfordert, „um über die Runden zu kommen“. Die Agenda 2010 hat ja gerade die Bedingungen geschaffen, die nun von Schulz beklagt werden. Ich würde hierzu auch gerne einmal eine persönliche Äußerung von Schulz hören, warum er als Präsidiumsmitglied der SPD und als Präsident des Europaparlaments nichts dagegen unternommen hat, wo er doch die hart arbeitenden Menschen so im Blick hat. Bis zu seiner Kanzlerkandidatur fand er die Agendapolitik offenbar goldrichtig.

    Nicht wegen fehlender Worte hat die SPD mehr 10 Mio. Wählerstimmen und etliche Regierungen in den Ländern verloren, sondern aufgrund fehlender Taten. Genau gesagt, wegen fortgesetzter Handlungen zugunsten der oberen 5 % der Einkommensskala, denn die konnten angesichts der Entscheidungen im Zusammenhang mit der Agenda 2010 die Vorteile für sich verbuchen: Senkung der Spitzensteuersätze, Aussetzen der Vermögenssteuer, Pauschalierung der Kapitalertragssteuer auf 25%, Privatisierungsprozesse mit neuen Anlageklassen, Reduzierung der Körperschaftssteuer, und die Einführung von Hedgefonds. Ach ja, auch diesbezüglich wurde „links geblinkt und rechts abgebogen“, hat doch Müntefering überall gegen die „Heuschrecken“ gewettert, verschwieg jedoch, dass es die SPD war, die sie in Deutschland zur Belebung des Finanzmarktes zugelassen hatte.
    Würden sie, Sigurd Schmidt, die Statistik zur Arbeitssituation und zum Arbeitsmarkt in Deutschland heranziehen, sprächen sie nicht leichtfertig von „signifikant gesunkener Arbeitslosigkeit“. Mit der Einführung von Hartz IV hat sich das Arbeitsvolumen in Deutschland kaum geändert – es lag immer irgendwie zwischen 56 Mrd. und 58 Mrd. Arbeitsstunden. Die höhere Beschäftigung lässt sich im Wesentlichen mit der Zunahme an Teilzeit-, Mini- bzw. Midijobs erklären. Man hat Vollzeitstellen in Teilzeitstellen gesplittet, und schon gab es mehr Beschäftigung. Und man hat zahlreiche Niedriglohnjobs aus früheren Arbeitsplätzen bei der Post gemacht. Dass viele Menschen davon nicht leben können und nur die Arbeitgeberseite Vorteile davon hat – geschenkt. Dass dazu die statistische Erfassung etwa 1 Mio. Arbeitslose gar nicht erst zählt, – ebenfalls geschenkt. Wer will schon negative Stimmungen erzeugen, dagegen sind die warmen Worte von Schulz wie Balsam auf der Seele und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I um drei Monate dazu ein sehr preiswertes homöopathisches Mittel, das den Absturz leider nicht verhindert.

    Aber vielleicht sollten wir Kritiker der Agenda und von Schulz die Hoffnung nicht ganz fahren lassen und ihn im Auge behalten. Wer weiß, wenn die Öffentlichkeit ihn zu treiben beginnt, bekommt ja auch die alte Tante SPD wieder Schwung und treibt mit. Dazu gehört aber weit mehr als „sozialutopische Rhetorik“.

  51. Danke, lieber Wolfgang Geuer, für die klaren Worte. Es kommt ein großes Bündel an Ungerechtigkeiten zusammen, und es ist klar, auf wessen Kosten die Agenda gegangen ist und, dass „Korrekturen“ (M. Schulz) oder „Verbesserungen“ (hört sich positiver an) grundsätzlich nicht viel ändern werden. Aber ab sofort will man nur noch die Frohe Botschaft hören, wie Sie es schön ausdrücken: „Wer will schon negative Stimmungen erzeugen, dagegen sind die warmen Worte von Schulz wie Balsam auf der Seeele und die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I […]dazu ein preiswertes homöopathisches Mittel, das den Absturz nicht verhindert.“
    Ich las übrigens gerade in der Sonntags-FAZ von Lydia Rosenfelder (Wirtschaftsteil)u.a. folgendes: (Trial an Error) „Mit der Agenda 2010 wurde der Arbeitsmarkt liberalisiert, ein niedrigschwelliger Zugang geschaffen, um denen eine Chance zu geben, die in den Arbeitsmarkt reinwollten: junge Leute, Arbeitslose. Dann musste nachhgebessert werden, weil die Zeitarbeit dazu genutzt wurde, Leiharbeiter dauerhaft zu schlechteren Bedingungen arbeiten zu lassen als die Stammbelegschaft (Anm. Malyssek: natürlich völlig unerwartet!).“
    Kann man sich schön auf der Zunge zergehen lassen.
    Dazwischen eine Erkenntnis aus dem Arbeitsministeriums: „Arbeit ist das Mittel zur Bekämpfung der Armut.“ Das ist doch mal was!
    Und ziemlich am Schluss des Beitrages: „Die Agenda 2010 ist ein lernendes System. Wenn man sie verbessern will, dann an der richtigen Stelle.“ Man liest hier schon, wo die Richtung wohl hingehen wird.
    Und: Obwohl die Umorganisation der alten Arbeits- und Sozialämter zu Jobcentern und lokalen Arbeitsagenturen sowie der Optionskommunen einer Organisationentwicklung (es dauerte gute 5 Jahre, bis es in den Aufgabenbereichen übersichtlicher wurde) Hohn sprach – jetzt hier diese Erklärung: … ein lernendes System! Da lässt sich natürlich leicht über Fehlentwicklungen reden.
    Soweit ein paar Gedanken zur Agenda 2010.

  52. Ich lese gerade die tollen Bücjer von Robert Menasse. Die Implikationen von dem, was hier diskutiert wurde, hat er bereits 2005 sehr eindrucksvoll in seinen Frankfurter Vorträgen, zusammengefasst im Buch: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung geäußert. Er spricht davon, dass mit dieser Entwiclung seit ca. 30 Jahren zurück gegangen wurde auf den Vorkriegsstand. Systemlogik, Sachzwänge, Marktlogik…… Alternativlosigkeit, marktkonforme Demokratie. Es ist seit 1989 kein anderes Modell des Lebens und Wirtschaftens mehr möglich – angeblich! Wir wagen es nicht, es zu denken. Wer es wagt, wird sofort als Ideologe diffamiert. Dabei sind doch die wahren Ideologen, die an einer Denkhaltung festhalten, die sich schon längst als unwirksam bzw. zerstörertisch heraus gestellt hat. Schauen wir uns doch um, wie unsere Welt aussieht! Selbst bei uns eben – einem im Grunde stinkreichen Land, wie Hartz IV zeigt, die Privatisierung der Daseinsfürsorge, die Verscherbelung des gesellschaftlichen Reichtums an irgendwelche Kapitalgesellschaften, der Abbau des Rentenniveaus, die Privatisierung des Gesundheitswesens und und und.
    Immerhin, Robert Menasse glaubt, auch ein solches System wird nicht ewig existieren können. Aber sieht jemand ernsthaften Protest?
    Ich lgaube, dass die unglaubliche Wut, die sich – leider ziellos bzw gegen die Falschen gerichtet – ein Ausdruck ist dieser Ratlosigkeit und untergründigen Empörung darüber, was in den letzten Jahrzehnten aus der Welt wird – auch bei uns! Dazu gehört auch beispielsweise der Gebrauch des Wortes „Reformen“. Ist es nicht schlau, ein Wort, das immer für den sozialen und gesellschaftlichen Fortschritt stand, jetzt dazu herhalten muss, Rückschritte, Unterdrückung, Abbau von (übrigens dereinst mühsam erkämpften) Rechten zu bezeichnen?

  53. Liebe Hannah Erben, ich weiß, dass es bei dem/der Einen oder Anderen etwas auf die Stimmung schlägt, wenn schon wieder die nächste Auflage der Kritik auf dieses eigentlich ganz erfolgreiche Arbeitsmarktreformgesetz (Stichwort „Reformen“) niederregnet. Sei’s drum. Sie haben heute klar und deutlich Ihr ganzes Unbehagen und Ihre Kritik, etwa an der unumstösslichen Marktlogik („marktkonforme Demokratie“) zum Ausdruck gebracht.
    Ich finde diese Empörung äußerst wichtig, zumal die Rechten im Lande drauf und dran sind, die Lufthohheit über den gesellschaften (Dis)Kurs zu erobern. Sicher darf uns die Empörung und auch diese Wut nicht gans hilflos machen und auf ein Niveau hinaussteuern, das auch wiederum Schaden anrichtet kann.
    In einem anderen Kontext habe ich gesagt, dass es unter anderem immer wieder darum gehen muss, das eigene Welt- und Menschenbild zu verstehen und zu überprüfen. Das ist leichter gesagt als getan. Aber es lohnt sich. Man ist demnach nie ganz dem Mainstream , dieser gern aufgetischen Ideologie der Alternativlosigkeit ausgeliefert. Es bleibt anstrengend. Junge Menschen merken, wenn jemand für seine Überzeugung auch gerade steht.
    Man möge mir widersprechen, aber wir leben jetzt in einer unglaublichen rastlosen Gesellschaft und es lastet ein ungeheurer Propagandaapparat auf uns. Das Ganze kriegt durch diese uferlose digitale Entwicklung mit der weltumspannenden Geschwätzigkeit und dem Hass nochmal eins drauf. Dem werden wir auf Dauer nicht gewachsen sein.

    Der bekannte amerikanische Biochemiker, Autor, wienerischer Abstammung, ein ziemlich altmodischer Mensch, Erwin Chargaff (vor einigen Jahren mit 96 Jahren gestorben), hat in einem seiner zahlreichen Aphorismen mal geschrieben: „Was ich mir nicht erklären kann, ist, daß das Elend zu wachsen schien mit der allmählichen Befreiung des einzelnen, ja sogar mit dem Fortschritt der Demokratie. Je freier der Mensch war, desto mehr war er allein, und die Verantwortung des Alleinseins ist schwer. Die meisten Menschen sind dieser Einsamkeit nicht gewachsen, und so schaffen sie sich neue Herren.“

    Da ich Bücher von Robert Menasse kaum kenne, nehme ich gerne Ihren Lesetipp wahr: Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. So heißt der Titel, ja?

  54. @ Jürgen Malyssek

    Man könnte ja fast von „Fake-News“ sprechen, wenn die FAZ das „niedrigschwellige Angebot“ als Quasigeschenk der Arbeitgeber an Arbeitslose darstellt. Tatsächlich geht es um Lohndumping, von dem die einstellenden Unternehmen in besonderer Weise profitieren. „Deutungshoheit“ ist wohl das bessere Wort, um die Unternehmen und ihre Lobbygruppen immer bemüht sind, um ihre Interessen und Ziele werbewirksam zu verschleiern.

    Forderungen nach einer grundlegen Revision der Agenda 2010, die angezeigt wäre, werden daher einen Tsunami an Kritik bei den üblichen Verdächtigen hervorrufen. Kommentatoren in Funk und Fernsehen, Kolumnisten und bezahlte Lautsprecher mit Professorentitel werden den Weltuntergang prophezeien, Arbeitsplätze werden sich (wieder mal) in Luft auflösen, die Wirtschaft wird kollabieren und das scheue Reh Barvermögen wird sich davon machen in Oasen der Steuerruhe. Investoren werden einen weiten Bogen um uns machen. Deutschland wird wieder auf der Siechenstation Europas landen. Und ich fürchte, keine Partei, kein Politiker wird dies Trommelfeuer überleben, wenn nicht eine große Bürgerbewegung diesen Weg unterstützt.

    @ Hanah Erben

    Um Deutungshoheit geht es auch beim Begriff „Reformen“, mit dem die meisten Menschen ja grundsätzlich etwas Positives verbinden. Der Begriff hat jedoch in den letzten Jahrzehnten eine grandiose Verballhornung erfahren. Paul Krugman, amerikanischer Wirtschaftsnobelpreisträger, hat zu der den Griechen aufgezwungenen Reformen die treffende Bemerkung gemacht: “Ihr nennt es Reformen und habt eine Wüste hinterlassen.“ Besser kann man kaum beschreiben, wie Begriffe im eigenen Interesse gezielt als Tarnung eingesetzt werden. Für Hartz IV und die gesamte Agenda gilt dies ebenfalls.

    Fazit: Selbst eine breit geführte Diskussion über Gerechtigkeit, die ich grundsätzlich begrüße, wird die Kräfteverhältnisse nur bedingt beeinflussen, um eine andere Politik in diesem Land durchzusetzen. Weil seit Jahren Deutungsmuster vermittelt werden, die eine bestimmte Wirklichkeitsbetrachtung nah legen.

    Die Textbausteine sind im Übrigen bereits verfasst, die dann wie ein tropischer Platzregen auf jeden – sei er oder sie noch so vorsichtig mit Veränderungen – herunterprasseln. „Sozialromantiker“, „Träumer“, „Gutmenschen“ wird es heißen und „nicht finanzierbar“, „gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit“ und „wirtschaftsfeindlich“. Lassen wir es auf uns zukommen.

  55. An Hannah Erben und Wolfgang Geuer:
    Ich finde das Wort „Deutungshoheit“ ein sehr passendes, um sich klar zu machen, wer eigentlich die Richtung bestimmt, welche Meinung die Mehrheit der Menschen zu schlucken hat, damit die Macht der Konzerne und ihrer politischen Mitläufer erhalten bleibt. Und da ist gerade die Agenda 2010 ein „leuchtendes“ Beispiel dieser offenen und verborgenden Mechanismen der Macht (Bourdieu).

    Diese Phalanx zu brechen, dürfte eine schier aussichtslose Aufgabe sein. Wir brauchen heute keine offene Diktatur mehr, um die Manipulation der Massen zu bewerkstelligen. Die bestens gerüstete Zusammenarbeit zwischen der Industrie & Wirtschaft, der Lobbyisten und der Politik reichen aus. Den Rest erledigen jetzt Konsumterror, Spaßindustrie und natürlich die Angstmache. Und wenn wir diesen rechtlosen Gesetzen nicht folgen, dann werden uns Arbeitsmarktniedergang und Weltuntergang prophezeit W. Geuer). Dabei droht uns gerade durch die wirtschaftliche Rücksichtslosigkeit, die Profitgier und das kapitalistische System das Elend dieser Welt aufs eigene Dach zu fallen.
    Zu dem Gebrauch des Begriffs „Reformen“ kann ich mich nur noch angeekelt abwenden.

    Noch ist es so, dass man mit der anderen Sicht der Welt und der Dinge als „Weldfremder“ oder „Sozialromantiker“ abserviert wird. Ein Bewußtseinswandel entsteht entweder durch höhere Einsicht (ganz selten) oder indem es einfach nicht mehr so weitergeht. Letztes wird der Fall sein.

    Patrick Spät schreibt in seinem Büchlein „Die Freiheit nehm ich dir“ (11 Kehrseiten des Kapitalismus): „Die Frage des Kapitalismus ist überall und jederzeit sichtbar, man muss nur hinschauen. Deshalb braucht es keine übertrieben verschwurbelte Theorie, die Realität spricht für sich: Der Kapitalismus funktioniert nicht! Der Kapitalismus ist menschenfeindlich!“

  56. Es sollte nicht vergessen werden, das zusammen mit der Agenda 2010 bzw. Hartz I – IV unter rot-grün noch eine grandiose unsoziale „Leistung“ verabschiedet wurde: die Beinahe-Abschaffung der Solidarität bzw. Entsolidarisierung der GKV. Wer arm ist, muß halt früher sterben – und entlastet so die Sozialsysteme.

    Mich erstaunt immer wieder, das bezüglich KV die Schweiz eine funktionierendr Einheitslösung gefunden hat und bezüglich RV Nachbarland Österreich.

  57. @W. Fladung
    In der Schweiz gibt es in der Krankenversicherung die Kopfprämie, die unabhängig vom Gehalt ist. Ein Kollege zahlte für seine 6-köpfige Familie 1900 CHF. Die ersten 250 CHF pro Person muss man selbst bezahlen, danach bezahlt die Krankenkasse 90%. Einen Arbeitgeber- oder Rentenversicherungsanteil gibt es nicht. Zahnarztleistungen werden nicht bezahlt. Die Krankenkassenbeiträge werden auch nicht vom Arbeitgeber abgeführt. Neben Steuern sind Krankenkassenbeiträge der häufigste Grund für Pfändungen («Betreibung» heißt das in der Schweiz.). Wenn ich mich richtig erinnere, haben 40% der Schweizer Anspruch auf staatliche Hilfe für die Krankenkassenbeiträge.
    Möchten Sie das System übernehmen?
    Ich hätte in der Schweizer Krankenversicherung bleiben können. Ich hätte dann für mich und meine Frau 925 Euro bezahlt. Ich habe es vorgezogen in die deutsche KV zu wechseln.

  58. Alt-Bundeskanzler Schröder hat ja damals nicht von einer „Entlastung der Sozialsysteme“ gesprochen, sonder klar von einer „Kürzung der Sozialleistungen“. Wer das SGB II von Kapitel 1 (Fördern und Fordern) bis Kapitel 10 (Bekämpfung von Leistungsmissbrauch) gelesen hat – und schließlich folgt noch Kapitel 11 mit den Übergangsvorschriften -, der muss schon hart gesotten sein, um an dem Geist der Restriktivität und der Verachtung sozial Benachteiligter beschönigend vorbeizureden. Im Grunde hätte dieses Gesetz aufgrund unseres Grundgesetzes gar nicht „auf den Markt“ kommen dürfen. Artikel 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und was ist dabei herausgekommen?
    Und dann noch eine Fundstelle aus dem Lehrbuch für Aus- und Fortzubildende der (zukünftigen) Beschäftigten im Arbeitsmarktmanagement (Die Bundesagentur für Arbeit hat dafür eigene Hochschulen in Ost- und Westdeutschland), mit dem Titel „Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement“ von Rainer Göckler (Aufl. 2006):
    Unter dem Kapitel Beratung im Kontext des SGB II, die Abschnitte (1)“Beratungspflicht“, erster Satz: „Niemand wird bestreiten, dass es auch unter Androhung von Sanktionen/Ausübung von Druck zu einer vernünftigen Beratungsarbeit kommen kann.“

    (2) „Druckausübung als positiver Veränderungsanreiz“, die ersten beiden Sätze: „Druck ausüben, hierzu dienen ja die Sanktionen im SGB II, ist nicht per se unethisch oder ungerechtfertigt. Er kann dazu werden, wenn ethische Parameter nicht beachtet werden.“
    (3) „Gesellschaft akzeptiert keine Verweigerungshaltung“. Und da heißt es: „Letztlich bleiben die Veränderungen am Arbeitsmarkt, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft nicht ohne Auswirkungen auf den Einzelnen. Die Diskussion um den (aktivierenden) Sozialstaat ist voll entbrannt und wird Wahlen entscheiden. Egal wie man zu dieser Entwicklung steht, wie berechtigt um eine an sozialen Kriterien orientierte Verteilung der gesellschaftliche und ökonomischen Ressourcen gerungen werden muss, die Gesellschaft kann und will es in vielen Fällen nicht hinnehmen, dass solche mehrfach belasteten Klienten die ihnen angebotenen Hilfen nicht annehmen […]“
    Damit sind schon per Lehrbuch die Grundprinzipien der Sozialen Arbeit und Hilfe ausgehebelt.
    Tolles Lehrbuch für Weiterqualifizierung!
    Jeder kann sich aus dem oben Zitierten seinen Reim machen und überprüfen, auf welcher Seite er dabei stehen kann und möchte. Wer sich heute über Entsolidarisierung und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft noch wundert und über das bestehende Herrschaftsdenken, der braucht sich nicht mehr zu wundern.

  59. Frau Merkel, sieht sich inzwischen genötigt, die Agenda 2010 gegen Kritik des SPD-Kandidaten Schulz zu verteidigen. Die Agenda habe Gutes “für die Menschen“ bewirkt.
    Auf der Gegenseite wird vertreten, es sei nicht in erster Linie die Agenda gewesen, die deutsche Unternehmen zu Exportweltmeistern gemacht hätten, sondern die gute Konjunktur. Daher sei es nun an der Zeit im Namen des Strebens nach sozialer Gerechtigkeit Änderungen an den Maßnahmen der Agenda 2010 zu verlangen.
    Angesichts dessen zeigt sich mancher Wähler froh darüber, dass nun wieder deutliche Unterschiede zwischen den GroKo-Parteien auszumachen seien.
    Mir scheint jedoch, dass die Koalitionspartner nicht wirklich wesentliche politische Änderungen vornehmen wollen, sondern dass es ihnen darauf ankommt, den Kampf um die Regierungsmacht in Deutschland lediglich mit Symbolik und ohne konkrete Programme zu bestreiten.
    Frau Merkel bleibt bei ihrem Mantra des „Weiter so“. Lief doch alles prächtig!
    Das ihr nach und nach zum Ärgernis werdende Flüchtlingsproblem ist durch eine wahre Flut von „Schutzmaßnahmen“ (die eher vor Flüchtlingen schützen, statt diesen selbst Sicherheit zu verschaffen) an den Rand gedrängt worden.
    Mit ihr, so soll der Bürger glauben, bleibt Deutschland Spitzenreiter. Um überhaupt noch mit irgendeinem Thema zu punkten, wirft sie der SPD vor, rückwärtsgewandt zu sein. Stattdessen solle man sich lieber um eine „Agenda 25“ kümmern und die künftige digitalisierte Welt gestalten. Diese Konfrontation der vermeintlich alten Kamellen mit einer neuen zukunftsgewandten Politik ist jedoch nichts als Symbolik. Wo und wann hat man denn von Frau Merkel ( die vor nicht allzu langer Zeit das Internet noch als „Neuland“ bezeichnete) oder von den sie tragenden Parteien irgendetwas mit Substanz dazu gehört, wie sie die Zukunft gestalten wollen?
    Da hält man es eher schon für fortschrittlich, wenn sich möglichst wenig ändert.
    Auf der anderen Seite Schulz. Die Wiederentdeckung der sozialen Gerechtigkeit durch die nun von ihm geführte Partei scheint bisher auch nichts als Symbolik zu sein. Mit innerer Sicherheit oder äußerem „Grenzschutz“ könnte die SPD nicht punkten, da gibt es eine sehr große Koalition auf der rechten Seite. Dann also bringt er jetzt „Frische“ in die Gerechtigkeitsdebatte, will sich für die „hart arbeitenden Menschen..etc. “ einsetzen. Natürlich will er sich damit nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, indem er etwa seine Ziele umfassend konkretisiert. Wenn es bei der Wahl nicht ganz zur stärksten Partei reichen sollte, muss man ja immer noch wenigstens als Vizekanzler koalitionsfähig bleiben.
    Worauf gründet sich meine These? Zum Thema Agenda hat er bisher nur gesagt, dass man da Fehler gemacht habe, und er hatte auch gleich ein Beispiel parat. Dank der Agenda ginge es „ihr ganzes Leben lang hart arbeitenden“ älteren Menschen schlecht, wenn sie ihren Job verlieren. Die Zeit danach, in der sie als Arbeitslose vom Staat Geld erhalten, sei zu kurz, außerdem sei es ungerecht, wenn sie Leuten gleichgestellt würden, die vorher nie gearbeitet oder nur wenig in Sozialversicherungen eingezahlt hätten.Und sonst? Die FR spricht von „massiven Korrekturen“, die er angekündigt habe. Substanzielles dazu habe ich bisher nicht finden können. Dass weder Schulz noch die SPD ein klares Programm in dieser Frage haben, schließe ich aus der Reaktion auf den offenen Brief, den Butterwegge an ihn geschrieben hat. Darin zeigt er eine Reihe von Punkten auf, die von der SPD seit der Agenda 2010 mit zu verantworten und „sozial ungerecht“ sind. Vor allem weist er darauf hin, dass nach seinem Verständnis eine Partei wie die SPD nicht nur für die hart arbeitenden Leute einstehen, sondern sich um alle Bürger, die in Not geraten sind, kümmern sollte.
    Charakteristisch dafür, dass es Schulz und der SPD nur um Symbolik und nicht um programmatische Politik geht, ist für mich die haarsträubende Reaktion der SPD auf den offenen Brief. Die Partei wird ihn nicht beantworten. Obwohl hier eine gute Gelegenheit bestünde, Punkt für Punkt Stellung zu beziehen, erklärt sie schlicht, man beantworte grundsätzlich keine offenen, sondern nur persönliche Briefe…
    Für mich ist diese rein formale „Begründung“ eine politische Bankrotterklärung.
    In diesem Zusammenhang stellt sich mir außerdem die Frage: Wenn es denn wirklich um soziale Gerechtigkeit geht, warum dann bis zur nächsten Bundestagswahl warten? Ist es falsch zu meinen, dass man Gesetzesvorschläge dazu, wie man das Leben für viele Bürger sozial gerechter gestalten könnte, auch heute schon im Bundestag einbringen könnte?

  60. @ Henning Flessner: danke für die Aufklärung, da verfügte ich wohl über die falschen Infos bezüglich KV Schweiz. Wie ist denn Ihre Meinung zur RV im Vergleich Österreich-Deutschland?

  61. Einen Nachtrag noch zur bisherigen Debatte: Ein Land, in dem sich Millionen frustrierte Abgehängte tummeln, die sich von Sozialleistungen über mehr oder weniger legale Zusatzverdienste und Besuch von Tafeln und Mülleimern (Pfandflaschen) durch den Alltag hangeln, kann nicht gerecht sein. Aber in Bezug auf „Gerechtigkeit“ scheint es ja, siehe Schulzens Bemerkung zu den „hart Arbeitenden“ unterschiedliche Einstellungen zu geben. Was ist mit den Ausgegrenzten, Ausgemotteten, Invaliden, oder denen, welche irgendwo billig auf dem Land leben, aber einen Job in einer entfernten Stadt angeboten bekommen – wo ein Teil des Verdienstes bereits für die Anreise draufgeht? Und was ist mit Alleinerziehenden, Menschen, die ihre Eltern pflegen – einfach weg gehen? Aber solange die Meinung der Insassen der Villenviertel bei uns Majorität genießt, das man nur „wollen“ muß, und sonst nur die soziale Hängematte genießt, wird sich nichts ändern. Weil nämlich die meisten der Villenbewohner nur mal, was „Hängematte“ anbetrifft, in den Spiegel schauen müßten.

  62. @W. Fladung
    Das kenne ich nicht.
    Ein Umbau eines Sozialsystem dauert, wenn man allzu große Ungerechtigkeiten vermeiden will, 20-30 Jahre (siehe Umstellung auf nachgelagerte Rentenbesteuerung).

  63. @ Wolfgang Fladung

    Gestern Abend, 21.45 Uhr, gab es im Rahmen der ARD-Sendung Plusminus eine Information zur österreichischen Rentenversicherung. Sie scheint mir erheblich besser als unsere zu sein: Was bei uns in gesetzliche RV, Betriebsrente und Riesterrente aufgespalten ist, fließt dort in die gesetzliche Rente; die Arbeitgeber bezahlen einen höheren Anteil als die Arbeitnehmer, und es wird am Ende ein höherer Prozentsatz des Gehalts ausbezahlt. Schauen Sie es sich an!

  64. In jedem Land braucht man einen Umverteilungsmechanismus, der die durch den Markt geschaffenen Ungleichheiten (zum Teil) wieder ausgleicht. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten: Steuern, Krankenversicherung, Rentenversicherung.
    In der Regel sind die Umverteilungsmechanismen je Land unterschiedlich. In Deutschland findet durch die Krankenkassen eine Umverteilung statt, in der Schweiz (Kopfprämie) nicht. In der Schweiz findet stattdessen eine Umverteilung durch die erste Säule der Rentenversicherung AHV statt („Der Millionär braucht die AHV nicht, aber die AHV den Millionär.“).
    Wenn man Sozialsysteme vergleicht, muss man mMn das gesamte System betrachten, sonst vergleicht man Äpfel mit Birnen.
    Ich war 20 Jahre im Schweizer Sozialsystem und es dauerte fast ein Jahr bis ich wieder im deutschen System integriert war. Wenn man mich fragt, welches System besser ist, würde ich antworten, dass es darauf ankommt. Sind Sie jung, kinderlos und qualifiziert, gehen Sie in die Schweiz und kommen als Rentner zurück. Haben Sie Kinder, dann bleiben Sie oder gehen nach Frankreich.

  65. @ Brigitte Ernst: danke, aber diese Infos habe ich bereits intus, und den Beitrag habe ich natürlich gesehen. Meine Grundsatzfrage ist nur: Wenn es so gut in Österreich funktioniert, warum nicht auch bei uns, bzw. wer hindert uns, es den Österreichern gleich zu tun? Oder besser gesagt, welche Lobby-Gruppen und -Truppen v e r h i n d e r n diese Umstellung. Sicherlich ein Gutteil der Beamtenschaft, weil sie dann ihre Pensionen nicht mehr „umsonst“ einstreichen würden, aber es müssen noch andere Interessen dahinter stecken, wie die Arbeitgeber-Verbände z.B.

    Das alte Argument, das Beamte ja weniger verdienen würden, als Angestellte, zieht ja schon lange nicht mehr. Da sieht die Realität anders aus, mit Ausnahme vielleicht der „ganz oben“ angesiedelten.

  66. @ H. Flessner: Darf ich Sie auf Folgendes hinweisen:

    1. Österreichs Rentner erhalten deutlich mehr als die deutschen R. Zumal sie die Rente 14x im Jahr bekommen.
    2. Mini-Renten werden, im Gegensatz zu D., auf etwa 12.000 €/Jahr aufgestockt
    3. Natürlich ist der Rentenbeitrag höher. Aber die Arbeitgeber tragen mit 12,55% den größeren Teil der 22,8%.
    4. Würde man die privat zusätzlich empfohlenen 4% für die Riester-Rente dazuzählen, wären es auch für deutsche Arbeitnehmer 22,7%.
    5. In Österreich müssen auch Selbstständige einzahlen, und die Versorgung der Beamten wird an die ges. RV angepaßt. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, zahlen bei uns Beamte Null für ihre AV, erhalten aber weitaus höhere Pensionen als bei uns Rentner, die jedoch, genau wie bei uns auch Renten, versteuert werden müssen.

    Und Österreichs Wirtschaft steht nicht kurz vor dem Zusammenbruch, so wie es die gekauften „Weisen“ bei uns immer tönen, wenn ein Systemwechsel bei uns gefordert wird. Dabei vergessen sie, diese Damen und Herren, das auch bei uns im Vergleich zur ges. AV noch zu Blüms Zeiten ein „Systemwechsel“ vorgenommen wurde – zu Lasten der Renter und zu Gunsten aller, die von privater Vorsorge als Anbieter profitieren.

    Auch unsere Rentenversicherung wäre stabiler, wenn alles, was an zusätzlichem Aufwand von AN und Steuervorteilen seitens des Bundes aufgewendet wird, gleich in die umlagefinanzierte Rentenversicherung fließen würde.

    Und warum wird bei uns die Rentenanpassung der Ostrentner und die Mütter-Rente nicht komplett aus dem Staatssäckel bezahlt?
    6. Die Österreicher sind insofern schlauer, als das sie es für sinnvoller erachten, Steuergeld in die staatliche RV zu stecken statt in Abzocker-Produkte von Banken und Versicherungen, die nur Eigentümern, Inhabern von Aktien etc. waren Profit erbringen.
    7. Bei der Betriebsrente sind die Arbeitgeber dazu verpflichtet, die Hälfte des Beitrages zu übernehmen.

  67. @W. Fladung
    Der verlinkte Bericht bestätigt mich in meiner Meinung, dass das Ansehen von Talkshows und politischen Magazinen verschwendete Lebenszeit ist. Der Informationswert dieses Berichts ist doch nur marginal.
    Die Idee des deutschen Rentensystems war ursprünglich, dass man das eingezahlte Geld als Rentner bei durchschnittlicher Lebenserwartung wieder herausbekommt. Auf Grund der Geschichte funktioniert das nicht mehr, weil viele, die heute eine Rente bekommen, nie in dieses System eingezahlt haben.
    In Österreich hat man sich zu einem anderen System entschlossen. Die Rentenversicherung wird über Beiträge und über Steuern finanziert. Die 4.15 Millionen Erwerbstätige zahlen jedes Jahr 11 Mrd. Euro Steuern, die in die Rentenkasse fließen. Das sind im Durchschnitt 2651 Euro pro Jahr und ca. 120’000 Euro bei 45 Berufsjahren.
    Das Durchschnittseinkommen beträgt 26’678 Euro. Damit wird ein durchschnittlicher Steuerbetrag von 9.9% (2651 / 26678) des Einkommens zur Finanzierung der Renten aufgebracht. Der Rentenbeitrag beträgt bei dieser Rechnung für den Durchschnittsbürger also 22.7 + 9.9 = 32.6%. Die Österreicher zahlen einfach viel mehr ein und bekommen daher viel mehr raus. Aber mit einer so simplen Botschaft hätte der Bericht wohl nur 45 Sekunden gedauert.
    Ich bin kein Rentenexperte. Ich habe mir die Zahlen im Internet zusammengesucht. Sollte ich falsche Schlüsse gezogen haben, bitte ich um Nachsicht.
    Natürlich kann man in Deutschland dieses System übernehmen. Dummerweise hat man der jungen Generation über Jahrzehnte eingetrichtert, dass sie soundso keine Rente kriegen. Junge Leute zu überzeugen, dass sie mehr für die Rente zahlen sollen, wenn man ihnen gleichzeitig erzählt, dass sie wahrscheinlich keine bekommen, ist sicherlich nicht einfach.

  68. @ Henning Flessner

    Was spräche denn dagegen, dass die Renten für diejenigen, die nie in das System eingezahlt haben (z.B. Rentner aus den neuen Bundesländern), sowie die Aufstockung für zu niedrige Renten entsprechend dem österreichischen System aus dem Steuersäckel bezahlt würden? Die Österreicher denken ganz praktisch: höhere Renten bedeuten mehr Kaufkraft und folglich mehr Steuereinnahmen.

  69. Danke, Brigitte Ernst, für die Assistenz. Eine Frage meinerseits harrt immer noch der Beantwortung: Warum funktioniert es denn bei unseren Beamten, auch die haben nie eingezahlt, und erhalten trotzdem eine wesentlich höhere Pension als ein vergleichbar verdienender Angestellter? Werden nicht die Pensionen auch aus dem Steuersäckel finanziert?

  70. @W. Fladung
    Natürlich könnte man die Beiträge zur Rentenversicherung ganz abschaffen und alle Renten aus dem Steuersäckel finanzieren. Ob das besser ist, weiß ich nicht.
    Ich habe 47’000 Euro in die Rentenversicherung eingezahlt und bekomme, wenn ich die durchschnittliche Lebenserwartung schaffe, 127’000 ausgezahlt. Ich sehe keinen Grund zur Klage.

  71. @ H. Flessner: Verwechseln Sie vielleicht etwas? Nämlich Rentner und Pensionäre? Wo habe ich gefordert, die Beiträge zur RV abzuschaffen? Im Gegenteil, nur dieses System, das umlagenfinanzierte, funktioniert auf Dauer, im Gegensatz zu einem kapitalgedeckten. Aus dem Steuersäckel sollten nur diejenigen finanziert werden, die
    a) aus Systemwechsel-Gründen, wie DDR-Anschluß, nie einzahlen konnten
    b) wg. Arbeitslosigkeit über längere Zeiträume nichts einzahlen konnten
    c) aufgrund Erziehung, und das gilt nicht nur für Mütter, sondern auch für Väter, nicht oder nur teilzeitlich berufstägig waren und dadurch weniger Beiträge einzahlen konnten

    Also verstehe ich Ihren Einwand „Grund zur Klage“ nicht! Genau die Umlagefinanzierung ist für mich die allerbeste Lösung. Und ein Bundeszuschuß in die Rentenkasse ist allemal besser als ein Zuschuß zu irgendwelchen fragwürdigen privaten Anlagen – Lehman Brothers lassen grüßen.

  72. @W. Fladung
    Wie ich die deutsche Rentenversicherung verstehe, ist sie genauso wie Sie es wollen.
    Sie ist umlagenfinanziert.
    Die Renten für DDR-Bürger, Aussiedler, Vertriebene und einige andere Dinge («Mütterrente??») werden aus dem Steuersäckel finanziert. Der Steuerzuschuss beträgt knapp ein Viertel der Einnahmen der Rentenversicherung.
    Die Höhe der Rente bemisst sich im Prinzip nach den Einzahlungen des Versicherten. Die Rentenversicherung dient nicht der Umverteilung. Wenn der Kreis der Einzahler erweitert wird durch Erwerbstätige und Beamter, würde sich damit an der Höhe der Rente nichts ändern.
    Was kann man tun, um die Renten zu erhöhen?
    Man kann die direkten Beiträge erhöhen. Man kann die Beiträge indirekt erhöhen durch Erhöhung des Bundeszuschusses, wobei man dann durch die Steuerprogression auch einen Umverteilungsmechanismus eingeführt hätte.
    Man kann natürlich einfach Schulden machen, aber das halte ich für keine gute Lösung.
    Mir ist nicht klar, was Sie gerne ändern möchten bzw. wie sie es ändern möchten.

  73. Seitdem Martin Schulz im Vorwahlkampf die Themen Agenda 2010, Hartz IV und damit auch im weiteren Sinne soziale Gerechtigkeit anspricht, rückt das österreichische Rentenmodell ganz plötzlich in den Fokus. In vielen Zeitungen liest sich das dann so:
    „Gefährliches Rentenvorbild Österreich“ (FAZ) oder „Österreich keine Blaupause“ („Die Vorsorge“, ein von der Privatwirtschaft finanzierter Mini-Thinktank). Schonungslose Vergleiche finden allerdings auch statt wie bei Focus Money. Unter dem Strich sehen deutsche Rentenzahlungen im direkten Vergleich schlecht aus. Ein Durchschnittsverdiener (gleiche Gehaltsgrundlage) mit 45 Beitragsjahren bezieht in Österreich 1560,- Euro Rente, in Deutschland 1050,- Euro. Und das ist nicht alles. Da der österreichische Rentner seine Rentenbezüge 14 Mal bekommt, steigt die Differenz aufs Jahr betrachtet weiter an. Er erhält 21840,- Euro pro Jahr, der deutsche Rentner 12600,- Euro. Macht einen Unterschied von 9240,- Euro. Im Monat erhält der Rentner in Österreich so gesehen 1840,- Euro. Fast 800,- Euro mehr.

    In dürren Worten, der deutsche „Eckrentner“ liegt 2014 bei einem Nettorentenniveau von 48%, während der Durchschnittsrentner in Österreich etwa 80% des früheren Bruttoeinkommens erhält. Wie das möglich ist? Henning Flessner hat darauf hingewiesen, dass die Österreicher insgesamt mehr einzahlen und daher mehr bekommen. Salopp formuliert ist das zwar richtig aber ziemlich ungenau, wenn man nicht hinschaut, wer wie an den Beiträgen beteiligt wird.

    Tatsächlich beträgt der Beitragssatz in Österreich 22,8%, während er in Deutschland 18,7% beträgt. Um dies richtig zu interpretieren, muss man wissen, dass österreichische Arbeitgeber 12,55%, die Arbeitnehmer jedoch nur 10,25% entrichten. Und in Österreich zahlen alle ein, Beamte Selbstständige, usw.. Die öffentlichen Zuschüsse sind in beiden Ländern fast gleich: In Deutschland werden 2,8% vom BIP, in Österreich 3% als staatliche Zuschüsse zur Rente gewährt. Dass in Deutschland die Rentenkasse die Belastungen der Deutschen Einheit und Vieles mehr tragen muss, die man an sich aus dem allgemeinen Steueraufkommen hätte finanzieren sollen, wirkt sich natürlich nachteilig aus.

    Aber, die Gewerkschaften unserer Nachbarn haben bei der Rentenreform dafür gesorgt, dass die Arbeitgeberseite stärker am Rentenaufkommen beteiligt wurde, während die Deutsche Rentenreform als Kostensenkungsprogramm für Arbeitgeber gedacht war. Die Beiträge wurden langfristig gedeckelt, der Arbeitnehmer muss in Deutschland, wenn er seine Rente aufbessern will, in die private Zusatzversorgung einsteigen und den Beitrag von 4% aus eigener Tasche zahlen. Wie schäbig dieses Modell wirkt, zeigen die Berechnungen. Selbst mit diesem Zusatzbeitrag aus eigener Tasche und einer Beitragsgesamthöhe (22,7%), vergleichbar mit der in Österreich, kommt der deutsche Eckrentner dann 2029 auf etwa 50% des früheren Bruttolohnniveaus.
    Dazu geht der Arbeitnehmer in Deutschland langfristig erst mit 67 Jahren in Rente, in Österreich wird nur bis 65 gearbeitet.

    Die in Deutschland inzwischen als Betriebsrente ausgelobte Endgeldumwandlung ist klassischer Lohnverzicht des Arbeitnehmers (4%). Und sie reduziert das Rentenniveau. Sie setzt den Einzahler den Risiken des Finanzmarktes und den Renditezielen der Versicherungswirtschaft aus. Nebenbei zahlt dann der Arbeitnehmer 16,7% an Beiträgen aus der eigenen Tasche und erreicht trotzdem nicht annähernd die österreichischen Rentenleistungen.

    Ja, das österreichische Modell ist wirklich ein gefährliches Modell, wie die FAZ richtig feststellt. Aber für wen? Bestimmt nicht für zukünftige Rentner. Auch nicht für die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes, weisen doch alle wesentlichen Eckdaten der österreichischen Wirtschaft (Bruttoinlandprodukt, Produktivität, Binnennachfrage, Arbeitnehmerentgelte, Erwerbstätigenzahl) bessere Werte aus. Weitere Schlussfolgerungen überlasse ich dem Leser…

  74. @Wolfgang Geuer und andere
    Sie überlassen dem Leser, Klarheit in dem Nebel zu schaffen.
    Ihre Erklärungen, falls sie denn als solche gemeint sind, laufen ins Leere.
    Dadurch, dass Selbstständige und Beamte auch einzahlen, erhöht sich die Rente nicht, denn man muss dann ja auch an sie auszahlen.
    Der Zuschuss des Staates ist zwar in der Höhe vergleichbar, dient aber unterschiedlichen Zwecken. In Österreich dient er zur Rentenerhöhung für alle, in Deutschland zur Finanzierung der Renten für die, die nicht eingezahlt haben.
    Wie der Prozentsatz zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgeteilt wird, spielt erstmal gar keine Rolle. Wenn man in Deutschland z. B. ab nächsten Monat den Arbeitgeber 17,7% zahlen lässt und den Arbeitnehmer 1%, was ändert das? Die Rentenkasse erhält exakt den gleichen Beitrag, nämlich 18,7%.
    Wer höhere Renten haben will, muss sagen, wie er das finanzieren will. Hier im Blog verhält man sich genau wie die Politiker: man weicht der Antwort aus.

  75. Wer genau liest, steckt nicht im Nebel. Im Grunde liefern sie den Hinweis selbst, indem sie ein befremdliches Beispiel der Beitragsverteilung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern von 17,7% zu 1% geben. Ein mit Verlaub albernes Nullsummenspiel. Um in ihrem Beispiel zu bleiben, könnten die Arbeitnehmer ihren Beitrag bei 1% dann ohne Schmerzen erhöhen bis auf den aktuellen Beitrag von 9,35% und wären im Umlagesystem trotz der Lasten der Einheit und anderer Posten fein raus. Aber genau das wollte die Arbeitgeberlobby nicht, sie wollten ihre Beitragsanteile so gering wie irgend möglich halten und die Kosten an ihre Mitarbeiter durchwinken. Damit waren sie unter Mithilfe der Schröder-Regierung sehr erfolgreich. Jetzt zahlt der Arbeitnehmer mit Endgeldumwandlung und privater Zusatzversicherung in unfassbar teure und ineffiziente Systeme des Finanzmarktes vielleicht 8% zusätzlich und bekommt trotzdem nur Krümel, dank der „Reform“ der Rente im Rahmen der Agenda 2010. Deutsche Rentner gehören in absehbarer Zeit nach einer OECD-Studie zu den Armen in Europa.

    Wenn es um die Frage gegangen wäre, wollt ihr 70% Rente bei steigenden Beiträgen, bin ich mir sicher, was die Bürger gesagt hätten. Sie nicht? Wir reden davon, dass etwa 3% des BIP jährlich zusätzlich für die Alterssicherung auszugeben wären. Das sind gut 10 Mrd.; wenn man den aktuellen Bundeszuschuss von 86 Mrd. betrachtet, eigentlich kein Problem. Natürlich hätten die Arbeitgeber dann auch einen größeren Beitrag zu leisten als jetzt. Der Arbeitnehmer zahlt ihn ohnehin schon, wenn er „riestert“. Nur hat er so gut wie nicht davon, wie die Berechnungen zeigen.

    Die Nebel wabern aus ihrer Richtung, Herr Flessner…

  76. @Wolfgang Geuner
    In Österreich sind die Renten höher. Hier möchte man das gleiche. Also muss man sich doch anschauen, was die Österreicher anders machen.
    Wenn ich Sie richtig verstehe, begründet sich die höhere Rente durch den höheren Beitrag der Arbeitgeber.
    Die Rentenkassen nehmen etwa 180 Mrd. Euro an Beiträgen ein (ohne Bundeszuschuss). Das bedeutet, dass 1%-Punkt etwa 10 Mrd. Euro entspricht. Wenn der Beitrag der Arbeitgeber um 3%-Punkte erhöht wird, dann kämen also 30 Mrd. Euro mehr in die Rentenkassen (unter der Annahme, dass die Bruttolöhne um diese 3% erhöht würden). Sie könnte dann 210 Mrd. statt 180 Mrd. Euro auszahlen. Das wären 17% mehr. Aber die Renten sind in Österreich mehr als diese 17% höher. Also muss die Annahme, dass es an den Arbeitgeberbeiträgen liegt, falsch sein.
    Wenn die Österreicher aber, wie ich schon mal versuchte darzulegen, auch über die Steuer einzahlen und damit ihr Beitrag bei 33% liegt, dann lassen sich die höheren Renten leicht erklären 33 / 18.7 => 76% höhere Renten.
    Sie schreiben richtig, dass man dafür etwa 3% des BIP aufwenden müsste. Nur sind 3% nicht 10 Mrd. Euro, sondern 94 Mrd. Euro. Die Rentenkassen könnten dann (180 + 94) / 180 => 52% höhere Renten auszahlen.

  77. @ Henning Flessner

    In meiner Darstellung wurde immer auf die höheren Anteile der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge in Österreich verwiesen. Allein an den Arbeitgeberbeiträgen kann es also nicht liegen. Mit beiden höheren Anteilen ergeben sich alleerdings schon 4,1 Prozentpunkte Differenz zum deutschen Beitragsaufkommen. Damit wäre man – übertragen auf deutsche Verhältnisse – schon bei einem Beitragsvolumen von 220 Mrd. für die Rentenkasse – 40 Mrd. mehr. Oder 22% mehr Rentenauszahlung.

    Dazu kommt in Österreich der von mir erwähnte Bundeszuschuss von 22,6% zur Pensionskasse, der allerdings auch für Hinterbliebene, Berufsunfähigkeit, Schwerarbeit, Invalidität, Ausgleichszahlungen und für Rehabilitation verwendet wird.

    Österreich hat sich bei der Reform der Alterssicherung anders als Deutschland für die Stärkung der ersten Säule der Rentenversicherung entschieden. Das unterscheidet die Reform von Deutschland, wo statt der Festlegung von Leistungszielen für die Versicherten eine Limitierung der Beiträge im Fokus stand. De Rest sollte privat laufen.

    Mit den um 22% höheren Rentenauszahlungen (siehe oben), der Einzahlung der Förderung für private Zusatzversicherungen in das Umlagesystem und einem Bundeszuschuss unterhalb der österreichischen Bezuschussung wären auch in Deutschland Renten auf annähernd österreichischem Niveau möglich.

    Es waren falsche politische Entscheidungen, die unsere Alterssicherung im OECD-Schnitt zu einer der schwächsten werden ließen. Österreich zeigt, dass es anders geht.

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