Manchmal wundert man sich ja. Da zieht sich Matthias Platzeck aus dem politischen Leben zurück, ein Politiker der SPD, der wie kaum ein anderer der Politik ein menschliches Gesicht gegeben hat, und wie viele Leserbriefe bekommt man zu diesem Ereignis? Gerade mal einen. Obwohl da auch einiges kritisch zu würdigen wäre. Dieser eine Leserbrief wird aber natürlich veröffentlicht, zumal er mir insbesondere im letzten Absatz sozusagen aus der Seele spricht.
Eigenschaft, die in der Politik eher selten sind
von Manfred Kirsch, Neuwied
Mit dem Rücktritt von Matthias Platzeck verliert die gesamte Bundesrepublik zweifellos eine von Überzeugung und Leidenschaft geprägte und angetriebene sozialdemokratische Persönlichkeit, die über die bei Berufspolitikern ansonsten eher selten vorhandenen Eigenschaften wie Empathie und Sensibilität verfügt. Platzecks Rücktritt sollte vor allem den zur politischen Klasse zählenden Menschen vor Augen führen, dass es nicht unehrenhaft ist, sich als Politiker, die ja für die Menschen da sein sollen, menschlich zu verhalten und auch einmal einzuräumen, dass Funktionen und Ämter einen sozusagen auch erschlagen können.
Das Beispiel Platzeck sollte dazu anregen, ernsthaft darüber nachzudenken, ob unsere Erwartungen an Politiker nicht oftmals überzogen sind und schlicht und ergreifend Übermenschliches verlangen. Natürlich ist es richtig, dass Politiker, die von ihrer Sache überzeugt sind, einen Feierabend eigentlich nicht kennen dürfen, weil sie halt 24 Stunden Stunden für ihre Leidenschaft da sein müssen. Eine 80-Stunden-Woche, wie bei vielen Spitzenpolitikern üblich, kann jedoch oft nur schwer verkraftet werden.
Dennoch sind Spitzenpolitiker in vielen Fällen relativ frei in ihrer Entscheidung, wie viel sie täglich arbeiten wollen. Bei „normalen“ Beschäftigten ist diese Freiheit nicht vorhanden. Viele Arbeitnehmer leiden unter den zunehmenden Belastungen am Arbeitsplatz, wie die steigenden Zahlen von psychischen Erkrankungen und durch psychsische Leiden hervorgerufene Frühverrentungen belegen. Die zunehmende Enthumanisierung des Arbeitslebens muss also dringend gestoppt werden, und das gilt auch für Berufspolitiker, ehrenamtlich Engagierte und Arbeitnehmer. Hier liegt eine große Aufgabe für die Politik, die im Wahlkampf thematisiert werden sollte.“
Gehen wir doch einmal von dem aus, was wir hinsichtlich der Gesundheit von Herrn Platzeck wissen. Mit dieser steht es lt. den Medien seit Jahren schon nicht zum Besten. Auch das Gezerre rund um den BER-Großflughafen dürfte ihm das Weitermachen verleidet haben. Aber jetzt Platzeck als eine Art Leuchtturm in die politische Landschaft zu stellen, geht mir dann doch etwas zu weit. Hier wären andere eher als Vorbilder angebracht. Wie sieht es mit den SPD-Linken Schreiner (leider verstorben) oder Dressler aus, wie mit dem nur aufgrund des Direktmandats (da von seiner Partei nicht aufgestellten) Grünen Ströbele, wie mit dem EX-CDU-Politiker Jürgen Todenhöfer, der inzwischen eine glaubhaftere Haltung zum Pazifismus eingenommen hat als Joschka Fischer zu alten Straßenkämpfer-Zeiten?
Jetzt könnte mensch einwenden: Ja, immer dann wenn die aktive Zeit vorbei ist, kommen dann all die Ecken und Kanten wieder zum Vorschein, welche beim und im politischen Tagesgeschäft rundgeschliffen wurden oder verborgen werden mußten. Grundsätzlich hat ein Politiker zwei Möglichkeiten:
1. Er ist braver Parteisoldat, vertritt die Mehrheitsmeinung, gibt sich ein wenig locker, läßt es menscheln, schafft sich so Freunde und Anhänger, die ihn nach oben bzw. vorne tragen oder
2. behält seine Ideale, läßt sich nicht und nie von irgendwelchen Ämtern und Vorteilen locken oder korrumpieren und vertraut allein auf sein Charisma, mit dem er seine Überzeugungen vertritt.
Bei Letzterem allerdings wird er höchstwahrscheinlich irgendwann auf seinem Wege scheitern, weil ihn seine Helfer und Anhänger verlassen. Müssen diese genau wie er – oder sie – doch dann den Vorwurf des „Gutmenschentums“, des Idealisten und Negierers der Realitäten gefallen lassen. Wer aufsteigt, hat viele Freunde, wer absteigt, immer weniger bis gar keine am Schluß mehr. Wer wird auf Parteitagen gewählt, wer als Kandidat präsentiert, auf Plakaten und in den Medien präsentiert – die „Eckigen“ oder die „Runden“?
Und dann gibt es noch einen dritten Typus, das sind die Profis. Sie kennen das Geschäft. Sie wissen, wie man bei den Leuten ankommt und Stimmung macht und alle glauben läßt, sie wären Vertreter von Volkes Stimme und nicht nur Architekten der eigenen Karriere. Als 1998 rot-grün an die Macht kam, gab es etliche dieses Typus. In erster Linie wären Schröder und Fischer zu nennen. Clement, Riester und Steinbrück passen auch gut in die Riege. In dieser finden sich dann all die, die abends nach einem Treff mit gutem Roten und einer Cohiba gemeinsam mit Maschmeyer & Co. die Internationale singen. Da kann sich auch ruhig mal ein falscher Ton einschleichen, Hauptsache, die nach Dienst-Schluß ausgeteilten Scheine der Privatwirtschaft sind richtig. Im Hintergrund halten sich die Unauffälligen und Sidemen, aber nicht Unwichtigen, wie Steinmeyer und Müntefering.
Wer das Politgeschäft der letzten Jahrzehnte beobachtet hat, sollte nicht mehr überrascht sein, wenn all die, die noch in der Opposition (Water-)Kanten zeigten, auf der Regierungsbank plötzlich Wenden um 180 Grad vollzogen. Und dann nach einer erneuten Wende plötzlich sich wieder auf die alten Ecken besonnen, siehe Nobbi Blüm.
Jetzt vor der Wahl wird wieder das schöne Politiker-Mikado gespielt: wer sich bewegt, hat verloren. Platzeck mußte sich bewegen, weil er nichts mehr zu verlieren hatte, aber vielleicht noch etwas gewinnen kann – einen Teil seiner Gesundheit zurück.
Noch einen Nachtrag: Zur Grundeinstellung oder eher Grundhaltung gehört auch das Bekenntnis zum Irrtum, weil die Folgen und Nebenwirkungen einer sogenannten „Reform“ gezeigt haben, das hier nicht nur etwas aus dem Ruder, sondern in die andere, falsche Richtung gelaufen ist. (Für Profiteure war es natürlich die goldrichtige Richtung.) Beispiel: die Agenda 2010 incl. aller Hartz-Gesetze, der Zerschlagung der staatl. Rentenversicherung und dem rosa eingefärbten Staubzucker für alle „Leistungsträger“. Ein oder eine SPD-PolitikerIn, welche sich jetzt vor die WählerInnen stellen und „mea culpa“ rufen würde, genösse vielleicht Achtung und Anerkennung beim Wahlvolk, jedoch nicht bei ihren/seinen Partei-„Freunden“. Hier hieße es eher: ab in die Wüste, tue Buße, und komme geläutert wieder, oder lasse dir vom Doktor die leckere neoliberale Medizin verschreiben, von der wir alle so schön SATTuriert geworden sind. Ansonsten sitz auf deinem warmen Bundes- oder Landtags-Sitz demnächst jemand Anderes der dankbar ist und weiß, wo Barthel den Most holt.
Auf den NachDenkSeiten von heute, (Link abgelehnt, Anm. Bronski, siehe Blog-Regel Nr. 8 ), habe ich noch eine Ergänzung zum Mikado-Politiker-Typ gefunden, und zwar in Richtung ganz ausgefuchst.
Das sind diejenige, wie im Artikel beschrieben, welche „über Bande“ spielen, also andere das unangenehmere und unbeliebtere Polit-Geschäft betreiben lassen und sich selbst dezent im Hintergrund halten – um dann irgendwann die Früchte der Lobby-Arbeit zu ernten
Da hält sich das Mitleid mit Platzek doch sehr in Grenzen.
Nicht zuletzt, nein, zuvörderst sind die wahnhaften „Leistungsträger“ daran Schuld, daß sich die Arbeitswelt mehr und mehr in eine Krankenwelt verwandelt.
Wie schon vor gefühlten eintausend Jahren hier angemerkt, ist von Unternehmern, Politikern, Managern und sonstigen angeblichen „Leistungsträgern“ die Einhaltung der 39 Stunden-Woche zu fordern.
Nicht allein deshalb, weil man sie vor sich selbst schützen muss, auch deshalb, weil man uns vor ihnen schützen muß. Ein Mensch, der mehr als 39 Stunden arbeitet, arbeitet tatsächlich gar nicht mehr, er produziert nur noch Fehler. Je wirksamer sein Job ist, umso wirksamer und teurer sind seine Fehler.
Die süßliche Mitleidsmasche, die jetzt gefahren wird, berührt mich kaum. Platzek und andere haben nicht sich selbst der Sache oder den Menschen geopfert, sie haben die Menschen und die Sache sich selbst geopfert. Erst wenn ein maroder Körper sein Recht erzwingt, werden sie vernünftig. Wieviele andere Menschen haben sie ausgebeutet und zugrundegerichtet, bevor sie selbst zusammengebrochen sind? Wieviele haben sie verbraucht, um nicht zusammenzubrechen? Wieviel Milliarden hat uns diese Selbstüberschätzung gekostet?
Nein, Platzek ist kein Vorbild, er ist ein Zerrbild. Wer mehr als andere leisten will hat ein Problem, er ist aber auch eines. Nicht zuletzt gilt: Wer doppelt soviel arbeitet, macht einen anderen arbeitslos.
# 4, BvG – soweit im Grundsatz Zustimmung. Allerdings habe ich in mancherlei Hinsicht starke Zweifel, wie das Beispiel Bundesamt für Beschaffung in Koblenz zeigt – verantwortlich für Euro Hawk und andere Milliarden-Flops – das es hier nicht „nur“ an der Überarbeitung aufgrund Mißachtung der 39-Stunden-Woche liegen kann, sondern schlicht und ergreifend an der Unfähigkeit oder bestenfalls noch am internen Kompetenzgerangel.