Am Tag der deutschen Einheit, heute, dem 3. Oktober 2016, gibt es wenig Grund zum Feiern. Erst kürzlich zeigte sich anhand das Berichts zur Lage der deutschen Einheit (Achtung, große pdf-Datei), dass Ost und West nicht zusammengewachsen sind, sondern sich im Gegenteil voneinander entfernen. FR-Autorin Sabine Rennefanz schrieb dazu: „Der Ossi macht einfach alles falsch„. Vielleicht war es aber auch der Wessi, der zu wenig richtig gemacht hat? Der den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus‘ als Sieg verstand und in eben dieser Pose im Osten auftrat? Der sich den Osten zueigen, untertan gemacht hat oder dies wenigstens glaubte?
Es könnte sogar sein, dass sich die Wiedervereinigung – und wie sie gestaltet wurde – noch als historischer Fehler erweist. Denn im Osten Deutschlands, wo sich einst die DDR befand, blühen weniger die Landschaften als vielmehr Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit. Und dies inzwischen in einer Weise, dass davon die Demokratie bedroht ist.
Rund 25 Jahre hat der Westen Deutschlands, die einstige BRD, ungefähr gebraucht, um Demokratie zu lernen. Sie war ihm nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgezwungen worden. Erst in der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre schlug sie endlich durch. Öffnung, Freiheit und Menschenrechte waren die Folge der 68er-Revolution. Die „westlichen Werte“ wurden in dieser Zeit in einer Weise erarbeitet, die Westdeutschland bis heute prägt. Dort, im Westen, ist die Saat der Demokratie aufgegangen.
In Ostdeutschland hingegen steht es 25 Jahre nach der Wiedervereinigung schlecht um die Demokratie. Ihr Rückhalt bröckelt, sie wird dort zunehmend als System verstanden, das gebracht wurde und zerschlagen werden muss. Tausende von Menschen, die (etwa in Dresden) Lufthoheit erlangen, behaupten von sich, sie seien das Volk, doch sie verstehen Debatten — das Merkmal jeder Demokratie — als Gesprächsverweigerung. Zum Festakt gibt es Pöbeleien.
Welche Verantwortung für diese Entwicklung trägt „der Westen“, der die DDR seinerzeit abwickelte, und welche die DDR, deren historisches Erbe wir heute im Osten am Werk sehen? Liegt es an mangelnder politischer Bildung „des Ostens“? Brauchen wir Deutschkurse für Ossis, oder müssen Wessis aufhören, grundlegende Probleme lediglich als Kommunikationsfehler zu begreifen, die sich mit ein paar Euro mehr fürs Marketing beheben lassen? Was können wir tun?
Leserbriefe
Michael Behrend aus Bergisch Gladbach meimt zum Artikel von Sabine Rennefanz:
„Herzlichen Glückwunsch zu einem – in meinen Augen Augen lange überfälligen – und gut geschriebenen Artikel. Zu meiner Person: ich bin 1953 in West-Berlin geboren und dort auch aufgewachsen. Habe beruflich an der Berliner Mauer Dienst verrichtet (ZOLL) und habe aufgrund meiner dienstlichen Tätigkeit – die mich von Berlin nach Köln verschlagen hat – noch intensiven Kontakt zu Kolleginnen bzw. Kollegen in den neuen Bundesländern. Insoweit nehme ich besonderen Anteil an der Berichterstattung bzw. Kommentaren in Bezug auf Geschehnisse in den neuen Bundesländern und bin so manches mal erstaunt über das fleißige Aufgraben von Grenzgräben, die ich schön als geschlossen bzw. eingeebnet angesehen habe. Kürzlich war ich (erstmals) beruflich in Dresden und war von der Stadt und den Menschen fasziniert. Am letzten Tag meines Aufenthaltes und bereits auf dem Weg zum Flughafen, bemerkte ich (im Stadtbereich) einen jungen (bärtigen) Vertreter des muslimischen Glaubens, der auf einem breiten Bürgersteig seinen Infotstand aufgebaut hatte und seine Beratung aber auch Informationsmaterial im Angebot hatte. Geprägt von der einseitigen Berichterstattung gerade in Bezug auf Dresden, war ich überrascht von der Toleranz der Dresdner und sehe seitdem Dresden in einem ganz anderen Lichte!“
Andreas Wolter aus Frankfurt:
„Dürfen die Fehler der Wiedervereinigung fremdenfeindliches Verhalten in Ostdeutschland entschuldigen? Diesen Endruck kann man bei der Lektüre des Artikel von Frau Rennefanz leider gewinnen und das wäre inakzeptabel.
Richtig beschreibt die Autorin die negativen Folgen der Wiedervereinigung für viele Ostdeutsche. Firmen verschwanden quasi über Nacht und mit Ihnen die Arbeitsplätze; westdeutsche Wirtschafts- und Verwaltungsstrukturen wurden dem Osten übergestülpt; junge Menschen suchen ihr Glück im Westen und in der Konsequenz veröden ganze Landstriche. Soziologen und Politologen können die Zusammenhänge zwischen Wiedervereinigung, der fehlenden Auseinandersetzung der DDR mit ihrer NS-Vergangenheit und der heutigen politischen Stimmung in Ostdeutschland sicherlich erklären.
Aber das alles darf noch nicht als Rechtfertigung dafür gelten, was wir an rechtsnationalen Tendenzen in ostdeutschen Bundesländern erleben. Natürlich sind diese Taten kein ausschließlich ostdeutsches Problem; das betrifft alle Bundesländer. Aber im Osten scheint das Problem sehr viel größer zu sein. In der jüngsten Vergangeheit zeigt sich, dass fast die Hälfte der rassistischen Übergriffe im Osten passieren, obwohl dort weniger als 20 Prozent der Bevölkerung leben. Weshalb ist der Fremdenhass dort am größten, wo es die wenigsten „Fremden“ gibt. Weshalb gewinnt die AfD – ja ich finde sie „bäh – denn im Osten so viele Stimmen? Und übrigens: Fremdenfeindlichkeit im Osten ist nicht erst 26 Jahre alt, sondern existierte auch in der DDR; ist also eher strukturell und lässt sich nicht mit der leider typischen Ossi-Frust-Argumentation fundieren.
Die politische Lage im Land ist ernst und jeder Deutsche, ob West oder Ost, muss sich fragen, was er oder sie leistet, um zu verhindern, dass sich Geschichte wiederholt. Früher brannten Synagogen, heute sind es Asylunterkünfte und Moscheen. „Anderssein“ ist in Deutschland wieder lebensgefährlich geworden.
Sich angesichts dieser dramatischen Entwicklung in in die ostdeutsche Schmollecke zurückzuziehen, dem Westen und der Politik die Schuld zu geben, empfinde ich als verbale Brandstiftung. Das reduziert die ostdeutsche Verantwortung, sich den eigenen historischen und sozialen Versäumnissen zu stellen und legitimiert indirekt fremdenfeindliche Taten.
‚Ein Land ist nicht nur, was es tut – es ist auch das, was es duldet.‘ Kurt Tucholsky“
Der Westen hat mit der aufgezwungenen Demokratie auch einen höheren Lebensstandard bekommen. Deshalb war es wohl auch nicht schwer die Demokratie zu akzeptieren. Der Osten bekam als erstes das Angebot seine Arbeitsplätze gegen seine Sparbücher zu tauschen und hat das sogar angenommen. Den Leuten wurde das aber nicht gesagt was die vorgeschlagenen Umtauschkurse auslösen würden. Davon haben sich die neuen Bundesländer nie erholt. Das bedeutet das es nicht zu einem nennenswerten Anstieg des Lebensstandards gekommen ist. Wie heftig das ist habe ich hier im Bloog an anderer Stelle letzte Woche geschrieben und hat mich ehrlich geschockt. Gleichzeitig hat der Kanzler der Einheit damals blühende Landschaften versprochen und als erst Maßnahme die anstehende Rentnergeneration mit Geld zugeschüttet. Das war natürlich für die nachfolgenden Jahrgänge noch ein größeres Versprechen als die blühenden Landschaften. Jetzt dürfen viele dieser Menschen froh sein das ein Mindestlohn eingeführt worden ist. Die Wirtschaftspolitik nach der Wiedervereinigung hatte nur das Ziel Konkurrenz für den Westen nicht entstehen zu lassen. Das ist auch hervorragend gelungen. Als einfaches klares Beispiel kann man die Interflug nennen. Diese Fluggesellschaft ist an den Altschulden auf Grund des Umtauschkurses gescheitert. Eigentlich gilt das für die ganze Industrie Ost. Man hätte sicher eine Währungsreform machen müssen. Ich möchte auch noch mal daran erinnern das Helmut Schmidt sich in seinem Buch „Handeln für D.“ 1990 gegen diese Form von Treuhand ausgesprochen hat wie wir sie dann hatten.
Der Artikel nennt den richtigen Grund für die Schwierigkeiten im Osten , den noch mangelnden zeitlichen Abstand zur letzten Diktatur.
Das ist in vielen Ländern zu beobachten (Ungarn Polen , Rußland , Deutschland 30er – Jahre), nach etwa 20 Jahren gibt es nochmal einen Rutsch zurück in den Konformismus.
Und war es im Westen der 60er wirklich so viel besser ? Die 68er haben der Demokratie zum Durchbruch verholfen , aber gegen was für Widerstände! Noch heute gibt es die Bilder im Fernsehen , wo der militant graue Bürger-Pöbel am Rand steht und Sprüche über vergessene Vergasung und ähnliches absondert.
Die westliche Mehrheit war zunächst stark gegen die 68er eingestellt , ähnlich wie heute Teile des Ostens die Demokratie ablehnen , aus Prinzip.
Die demokratischen Folgen der 68er-Bewegung haben sich erst nach und nach durchgesetzt , noch in den 90ern konnte man Leute treffen , die , z.B. , Wehrdienstverweigerer als Drückeberger und Vaterlandsverräter beschimpften.
Wir sollten sehr vorsichtig sein mit westlicher Überheblichkeit , die Wiedervereinigung war kein historischer Fehler , auch weil es ohnehin keine realistische Alternative gab .
Die Zustimmung von Michael Behrend zu dem Artikel von Sabine Rennefanz kann ich nicht teilen. Die Ansicht eines Kommentators dazu, hier werde „dem Jammerossi das Wort geredet“ ist wohl nicht ganz von der Hand zu weisen.
Allerdings scheint mir schon das pauschalisierende Reden von „dem“ Ossi sehr fragwürdig. Die Fragestellung wäre zu präzisieren, etwa hinsichtlich möglicher Ursachen einer breiter gestreuten Anfälligkeit für nationalistische und rechtsradikale Positionen, vor allem auch in der gesellschaftlichen „Mitte“.
Nun zeigt Nationalismus seit jeher Anziehungskraft für Menschen mit ausgesprochener Ich-Schwäche, die es zu kompensieren gilt. Woraus sich die Fragestellung ergibt, welche Faktoren einer Ausbildung gefestigter demokratischer Überzeugung entgegen gestanden haben können.
Dabei wäre eindeutig festzuhalten, dass eine solche Analyse in keiner Weise als Entschuldigung oder gar Rechtfertigung für strafrechtliche Delikte oder Hetze dienen kann, auch nicht für „klammheimliche“ oder laut geäußerte Akzeptanz (wie es bei Sabine Rennefanz den Anschein hat).
Auch der Vergleich von DH mit der Reaktion der „westlichen Mehrheit“ in Westdeutschland auf die Studentenbewegung hinkt wohl etwas. Diese wurde ja unmittelbar von Studenten attackiert und in ihren verdrängten Schuldkomplexen verunsichert. Überwiegend wohl zurecht, in Einzelfällen aber auch nicht. So etwa in Tübingen (ich war damals dort als Student) ein ausgesprochen aufgeschlossener Dozent der Älteren Abteilung Germanistik. (Auch Ratzingers spätere theologische Entwicklung soll u.a. damit zu tun haben, dass er, im Unterschied etwa zu seinem – damaligen – Freund Hans Küng, mit den studentischen Protestformen nicht umzugehen verstand.)
Pegida-Exzesse und Brandanschläge gegen Flüchtlinge richten sich aber gegen Menschen, die mit DDR-Erfahrungen nicht das geringste zu tun haben. Also klassische Sündenböcke, denen vor allem „vorzuwerfen“ ist, fremd zu sein und dass es ihnen noch weit dreckiger geht. Ein Verhalten anderer Qualität als in der alten BRD, das unter keinen Umständen zu dulden ist, unabhängig von möglichen Ursachen.
@Werner Engelmann
In der alten BRD war es noch nicht so offen möglich , häßliches Verhalten zu zeigen , weil die NS-Zeit noch zu nahe war.
Ich glaube nicht , daß das , was da hinter zugezogenen Vorhängen lauerte , besser war als die Fratze , die uns heute überwiegend aus dem Osten entgegenkommt.
Und wenn ich mir so – unfreiwillig – anhöre , was viele westliche „Demokraten“ so im öffentlichen Raum von sich geben , kann ich nur daraus schließen , daß es auch im Westen immer noch wimmelt von Leuten , denen der (Selbst-)Hass nur so aus dem Gesicht springt , verbal und durch Gesichtsausdruck.
Herrn Decker ist zuzustimmen, dass eine Vereinigung zwischen „alten“ und „neuen“ Bundesländern immer noch nicht stattgefunden hat. Mit „freundlicher“ Übernahme werden die Vorgänge im Gefolge von Mauerfall und Volkskammerwahl am 19. März 1990 allerdings euphemisiert. Die Herstellung staatlicher Einheit zum 3. Oktober 1990 wurde unter Vernachlässigung sozialwissenschaftlicher Basiseinsichten vorgenommen. 40 Jahre Sozialisation in der DDR wurden mit der Formel „es wächst zusammen, was zusammen gehört“ als zu vernachlässigende Größe erklärt, der Glaube an die Gemeinsamkeit von Ost- und Westdeutschen den realen sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Lebenswegen übergestülpt. Dieser Glaube an die Gemeinsamkeit (nach Max Weber die Basis ethnischer Zusammengehörigkeit) wurde in der Formel „wir sind ein Volk“ beschworen. Die Euphorie erhielt sehr schnell Dämpfer: mit der Übernahme der D-Mark brachen die bisherigen Exportmärkte für Güter aus der DDR zusammen, der Handel der DDR war ganz überwiegend nicht Devisen gestützt, sondern basierte auf dem Austausch von Waren. Die bisherigen Exportmärkte im RGW, in Afrika und Asien verfügten ebenfalls nicht über Devisen. Dieses war der Einstieg in die Deindustrialisierung der neuen Länder. Den Rest besorgte die Treuhand unter Leitung von Frau Breuel.
Fast ausnahmslos wurden (nicht nur) Toppositionen auf allen Gebieten in den neuen Ländern von Westdeutschen besetzt. Viele Karrieren zum Beispiel in Verwaltungen, in Gerichten und Universitäten durch entsprechendes Personal aus den alten Bundesländern wären in diesem Umfang ohne Übernahme der DDR nicht gelungen. Die Partnerländer der neuen Bundesländern (zum Beispiel Bayern für Sachsen oder Nordrhein-Westfalen für Brandenburg) prägen bis heute erkennbar die Vollzüge in Chefetagen öffentlicher Einrichtungen. In den ersten Jahren erhielten diese westdeutschen Eliten nennenswerte Gehaltszulagen bis zum doppelten der Bezüge (zeitgenössisch „Buschzulage“) im Westen. Sehr bald trafen die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen aufeinander: „Besserwessis“ wurden als Besatzungsoffiziere wahrgenommen, die Lebenserfahrung und Lebensleistung bisheriger DDR-Bürger entwertet. Nahezu allen bisherigen DDR-Bürger wurde ihre Lebensperspektive genommen und nicht immer konnte eine neue erarbeitet werden. Sehr tiefe Einschnitte in Routinen und vertraute Abläufe wurden nahezu 17 Millionen zugemutet, ohne ihnen die Möglichkeit einer produktiven Verarbeitung zu geben.
1955 beim Eintritt des Saarlandes (nach Art. 23 GG) in die junge Bundesrepublik wurde eine Übergangsfrist von drei Jahren eingeräumt (allerdings nicht voll genutzt). Die Herstellung der staatlichen Einheit zwischen BRD und DDR erfolgte innerhalb weniger Monate – obwohl die Unterschiede zwischen den Wirtschafts- und Rechtssystemen erheblich größer waren als im Fall des Saarlandes.
Das Grundgesetz von 1949 kannte einen Art. 146, der vorsah, dass eine verfassungsgebende Versammlung im Falle der Herstellung staatlicher Einheit eine gemeinsame Verfassung arbeiten sollte, die dann Grundlage von Gemeinsamkeit sein sollte (vergleiche die einschlägigen Kommentare vor 1989). Ein solches grundgesetzkonformes Vorgehen hätte Zeit und Raum gegeben einen Prozess zur Erarbeitung von Gemeinsamkeit einzuleiten.
Stattdessen erfolgte die Herstellung staatlicher Einheit nach Art. 23 Grundgesetz und wurde und wird bis heute mit „Wiedervereinigung“ bezeichnet (zum ersten Mal taucht „Wiedervereinigung“ 1938 im Gesetz der Nazis zum Anschluss Österreichs auf). Dieses Vorgehen steht dem Geist des Grundgesetzes mit dem Artikel 146 entgegen. Begründet wurde die Eile mit dem nur kurzzeitig „offenen Fenster“. Selbst wenn man dieser Einschätzung folgt, kann nicht übersehen werden, dass die Herstellung von Gemeinsamkeit und der behutsame Umgang mit zerstörten und die Erarbeitung entsprechender neuer Lebensperspektiven nach dem 3. Oktober 1990 nicht ernsthaft betrieben wurde. Insofern scheint es naiv zu sein, wenn Herr Decker von „freundlicher“ statt von „feindlicher“ Übernahme spricht.
Auf dem skizzierten Hintergrund kann es kaum verwundern, dass die beschworene Einheit bis heute nicht existiert.
@ Georg Hansen
Ihre Darstellung der Abläufe der „Wiedervereinigung“ ist zwar allen, die sich dafür interessieren, gegenwärtig, aber in dieser komprimierten Form sicher ein Beitrag zur Verdeutlichung des Ganzen. Respekt.
Zur Bezeichnung des Vorgangs möchte ich anmerken, dass eine „feindliche Über-nahme“ vorausgesetzt hätte, dass der Übernommene sich gegen die Übernahme gewehrt hat. Das war und ist zu keinem Zeitpunkt der Fall gewesen. Insofern schlage ich vor, den nach 1938 für die Vereinigung mit Österreich benutzten Begriff „An-schluss“ zu verwenden. Damals ging zwar, anders als 1990, die Initiative vom Über-nehmer aus, aber die totale Überstülpung des übernehmenden Systems über das übernommene ist exemplarisch für das, was der DDR passiert ist. Und auch die Österreicher haben sich bekanntlich nicht gewehrt.
Am Ende Ihres lesenswerten Beitrags bleibt aber doch die Frage nach der Alternati-ve zu dem, was geschehen ist. Wann hätte Kohl mit welchem Ziel etwas anders ma-chen können oder müssen? Die Aktivisten der „friedlichen Revolution“, von Eppel-mann bis Gysi, hatten bis zu Kohls Dresdner Rede und spätestens bis zur Volks-kammerwahl am 18. März 1990 lediglich Vorstellungen von einer anderen DDR ent-wickelt, Wiedervereinigung stand nicht in ihren Programmen. Das Volk der DDR woll-te aber die D-Mark und den grünen Pass, um endlich konsumieren und reisen zu können. Dagegen waren auch Oskar Lafontaine und andere Warner im Westen machtlos. Entscheidend aber für das, was dann kam, war die weitgehend missachte-te Tatsache, dass auch eine deutliche Mehrheit der westdeutschen Wählerschaft mit dem, was Kohl wollte, einverstanden war. Eine andere Deutung lässt das Ergebnis der gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 nicht zu. Die CDU/CSU hatte in den neuen Ländern und Berlin einen Stimmenanteil von 42%, in den Ländern der alten Bundesrepublik aber 44%!
Wenn, wie Sie richtig feststellen, die deutsche Einheit bis heute nicht existiert, so liegt das meiner Meinung nach daran, dass wir, die Deutschen, nicht ehrlich mitein-ander umgehen. Wir trauen uns nicht – im Osten und im Westen aus unterschiedli-chen Gründen –, die tatsächlich vorhandenen Unterschiede zwischen Ost und West anzuerkennen und deutlich beim Namen zu nennen, um sie vielleicht eher überwin-den zu können. In den zehn Jahren von 1992 bis 2002, in denen ich beruflich beim Aufbau Ost mitgewirkt habe, sind wir auf beiden Seiten immer ängstlich der Frage ausgewichen, warum „Besserwessis“ und „Jammerossis“ überhaupt entstanden sind. Das lag und liegt daran, dass die Wessis tatsächlich besser als die Ossis waren und sind! Das wird auch in den nächsten Jahrzehnte so bleiben, bis die Ossis, die den 40 Jahren Vorsprung an Erfahrung und Nutznießung den die Wessis mit dem kapitalisti-schen System haben, hinterher laufen müssen, durch die nachfolgende, dann hof-fentlich gesamtdeutsche Generation abgelöst worden sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Ossis etwa dümmer oder fauler als die Wessis sind, aber sie sind durch ihren Mangel an Erfahrung im Umgang mit den Problemen der westlichen Ge-sellschaft so sehr benachteiligt, dass sie in fast allen Belangen des Arbeits- und Wirtschaftslebens unterliegen. Bei meinen ersten Diskussionen mit Ostdeutschen nach der Wende habe ich immer wieder – vergeblich – versucht, ihnen fünf Dinge klar zu machen, um sie in ihrer Euphorie zu bremsen: Ihr habt 1. alte, ausgeleierte Maschinen; 2. eine miserable Infrastruktur; 3. eine deutlichen Mangel an Know-how; 4. keine Ahnung, was Konkurrenzkampf ist und 5. das Wichtigste: Ihr habt kein Geld! Punkte 1 und 2 sind inzwischen erledigt, aber Defizite bei den Punkten 3 und 4 be-stehen nach wie vor, und bei Punkt 5 sind überhaupt noch keine Verbesserungen spürbar. Leider ist es so, dass die Ossis diese Tatsachen nicht anerkennen können. Angeblich würde das ihre Lebensleistung negieren. Aber auch die Wessis reden nicht Klartext, schließlich wollen alle – oder fast alle – keine Besserwessis sein.
Und so kümmert die Wiedervereinigung vor sich hin.
Gerade heute (30. 09.) war in der „Tagesschau“ zu vernehmen, wie der Unionsabgeordnete Hauptmann die Linkspartei wegen ihrer Kritik am Abgehängtsein der ostdeutschen Länder abwatschte. Er wird mit diesem nassforschen Auftritt seiner Partei im Osten unseres Landes vermutlich keinen Sympathiegewinn verschafft haben; nichtsdestotrotz gehört es seit Langem zur Liturgie der Einheitsgedenkfeiern, die Einheit als ein rundum gelungenes Werk zu feiern und Hinweise auf die, wenn man nur hinsehen will, überdeutlich erkennbaren Mängel unter den roten Teppich zu kehren.
Markus Deckers FR-Beitrag gehört zu den rühmlichen Ausnahmen. Es wäre zu wünschen, Bilanzen wie die seinige öfter zu lesen, zumal Westdeutschen das schon groteske Ausmaß der Unterrepräsentation des Ostens in den politischen, wirtschaftlichen und fachlichen Führungseliten zumeist unbekannt ist und die ostdeutsche Herkunft der Bundeskanzlerin und des Bundespräsidenten vielen als hinreichender Gegenbeweis gilt.
Die Zahl von nur vier ostdeutschen Vorstandsmitgliedern in DAX-Konzernen widerspiegelt die teilweise katastrophalen Auswirkungen der Privatisierungen durch die „Treuhand“-Politik der Kohl-Ära. Damals wurde nicht etwa eine notwendige wirtschaftspolitische Umsteuerung fachkundig im Interesse der Betroffenen und in Abstimmung mit ihnen in die Wege geleitet, sondern eine so gut wie uneingeschränkte Dominanz westdeutschen und internationalen Kapitals auf Jahrzehnte hinaus zementiert. Auch ein Vierteljahrhundert inzwischen verstrichener Zeit hat daran nichts geändert. Ostdeutsche Industriebetriebe sind im Normalfall verlängerte Werkbänke westlicher Konzerne, sofern sie nicht, weil nicht renditeträchtig genug, in den Jahren nach der Wiedervereinigung stillgelegt wurden.
Was tun? Es hat sich längst herausgestellt, dass der Unterrepräsentation der Frauen in den unterschiedlichsten Bereichen nicht ohne eine gesetzliche Frauenmindestquote begegnet werden kann. Was spricht dagegen, Mindestquoten auch für die Repräsentation Ostdeutscher in den Funktionseliten vorzugeben? Dass die Vertreter ‘„der Wirtschaft“ Zeter und Mordio schreien würden („Angriff auf das Eigentumsrecht und die unternehmerische Freiheit“, „marktfeindlicher Dirigismus“, „Gefährdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland“ usw.), ist zwar so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie haben aber mit solchen Kanonaden auch schon gegen die Frauenquote geschossen, deren Notwendigkeit inzwischen sogar von Politikerinnen und Politikern der Union anerkannt wird.
Im Bereich der politischen Repräsentanz ist allen erfahrenen westdeutschen Politikern bekannt, dass sie etwa im Bereich der Verschränkung von Landes- und Bundespolitik auf angemessene Vertretung der Regionen achten müssen, dass es also z. B. nicht angeht, bei der Zusammenstellung einer Partei-Landesliste in NRW die Region „Ostwestfalen-Lippe“ zu ignorieren.
Zum Schluss ein historisches Beispiel, auch wenn es nicht 1 : 1 auf die Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschland anzuwenden ist: Als 1871 das Elsass und Nordostlothringen dem neu gegründeten kaiserlichen Deutschen Reich angeschlossen wurden, gab es für die dortige Bevölkerung lange Zeit (bis 1911) abgesehen von kommunaler Selbstverwaltung keinerlei Beteiligung an der Regierung des „Reichslandes Elsass-Lothringen“; das im Lande stationierte Militär war preußisch – man ließ die Bewohner auf Schritt und Tritt spüren, dass man ihnen nicht traute. Als das Kaiserreich den I. Weltkrieg verlor, war die Mehrheit der deutsch sprechenden Bevölkerung froh, wieder zu Frankreich zu gehören.
Georg Hansen beklagt die Tatsache, dass nach dem Anschluss der DDR an die BRD viele Positionen in der Verwaltung, den Gerichten und Universitäten von Personal aus den alten Bundesländern besetzt wurden. Ja, wie hätte man das denn sonst regeln sollen? Gerade wird die deutsche Öffentlichkeit wieder daran erinnert, dass nach dem Zusammenbruch des Naziregimes viele Altnazis ihre Tätigkeit als Richter und als Mitarbeiter des Justizministeriums weiter ausüben konnten. Und dann hält man es für einen Fehler, wenn Juristen und Verwaltungsfachleute der DDR, die nur deshalb in diese Positionen gelangen konnten, weil sie sich dem Unrechtsstaat stromlinienförmig angepasst hatten oder ihn gar aus voller Überzeugung mittrugen, anfänglich durch Personal aus dem Westen ersetzt wurden. Hätten denn Bonzen, die sich immer perfidere Methoden ausgedacht hatten, um die Bevölkerung zu unterdrücken, einzusperren und gegeneinander auszuspielen, die den Schießbefehl an der Grenze erlassen hatten, die Dissidenten ins Gefängnis steckten und ihnen ihre Kinder zur Zwangsadoption wegnahmen, weiter an den Schalthebeln der Gesellschaft sitzen sollen? Schlimm genug, dass solche Funktionäre des Totalitarismus sich heute im Gegensatz zu ihren Opfern auf dicken Pensionen ausruhen können. Nach 1945 gab es wenigstens Ansätze einer Entnazifizierung, bei der z.B. Altnazis unter den Lehrern wenigstens einem zeitweiligen Berufsverbot unterlagen. Nach der „Wende“ dagegen wurde offenbar als gegeben vorausgesetzt, dass sich die gesamte Bevölkerung, Polizisten, Soldaten, Lehrer etc. automatisch mitgewendet habe. Mich wundert, dass dieser Aspekt in diesem Thread bisher noch gar nicht angesprochen wurde.