Orbáns Homosexuellengesetz: Und ab und zu schwenken wir Regenbogenfähnchen

Die EU und ihre Werte – was für ein Thema! Vor allem wenn es um Doppelmoral geht (siehe dazu die unten folgenden Zuschriften von Leserinnen und Lesern). Da wirkt es doch über die Maßen erfrischend, wenn ausnahmsweise mal wirklich ein klares Wort gegen die Menschenrechtsverächter fällt. So gegen die ungarische Regierung unter Ministerpräsident Victor Orbán, der seinem Land ein Gesetz verpasst hat, das Minderheiten diskriminiert. Dieses Homosexuellen-Gesetz verbietet Berichte, Darstellungen, Informationen über nicht-heterosexuelle Orientierungen, sofern Minderjährige davon erreicht werden können. Die Regierung schiebt ihre Sorge um den Schutz der Kinder vor und tut, als wolle sie diese vor Pädophilen bewahren. Übel, denn Homosexualität hat mit Pädophilie nichts zu tun (siehe dazu die Definitionen bei Wikipedia zu Pädophilie und Homosexualität). Das eine ist eine psychische Erkrankung, die strafrechtliche Folgen hat, wenn sie ausgelebt wird, das andere ist die sexuelle Orientierung auf das gleiche Geschlecht mit weitreichenden Folgen für das eigene Leben.

Arena MünchenOrbán setzt also eine Spielart menschlicher Natur mit verbrecherischem, andere Menschen schädigenden Verhalten gleich. Darin geht er sogar noch weiter als Wladimir Putin, in dessen Russland es ähnliche Gesetze gibt, die mediale Präsenz von Homosexualität betreffend. Es ist offenkundig, dass Gesetze wie dieses nicht zu Europa passen. Ebenso offenkundig ist, dass Orbán sein Land in eine „illiberale Demokratie“ umgebaut hat. Was er von Menschenrechten hält, hat er schon 2015 im Zusammenhang mit den Flüchtlingen gezeigt. Unter anderem wegen diesem Verhalten hat die EU bisher nicht zu einer einheitlichen Haltung in der Flüchtlingsfrage gefunden.

Allerdings weht Orbán nun der Wind stramm ins Gesicht. Nicht nur wegen der klaren Worte von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen oder dem Statement des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte, der Orbán auf dem EU-Gpfel direkt ins Gesicht sagte, Ungarn solle aus der EU austreten. Damit hat er etwas ausgesprochen, was viele denken. So weit gehen weder von der Leyen noch die deutsche Kanzlerin; sie setzen vermutlich darauf, dass Orbán bei den nächsten Wahlen im Jahr 2022 abgewählt wird. Die Chancen stehen nicht schlecht, denn die ungarische Opposition hat sich auf einen gemeinsamen Spitzenkandidaten geeinigt, den sie gegen Orbán ins Feld schicken will: Gergely Karácsony, den populären Bürgermeister von Budapest.

Der Protest gegen das ungarische Gesetz ging aber noch weiter. Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter forderte die UEFA auf, ein Zeichen zu setzen und das Fußballstadion, in dem im Rahmen der Fußball-EM Ungarn auf Deutschland treffen sollte, in den Regenbogenfarben anzustrahlen. Die UEFA sagte Nein. Das gab einen riesigen Proteststurm. Plötzlich leuchteten andernorts Stadien und Wahrzeichen in den Farben der LGBTQ-Community und demonstrierten so mit Nachdruck, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgendermenschen, kurz: queere Menschen in Deutschland Rückhalt haben. Alle Menschen sollen leben können, wie sie wollen – auch in Ungarn. Das ist europäische Lebensart. Vor 20 oder auch vor zehn Jahren wäre ein solches Signal noch nicht denkbar gewesen, aber nachdem die Kämpfe um die „Ehe für alle“ in Deutschland nun vorüber sind, hat sich offenbar auch bei vielen konservativ denkenden Menschen die Erkenntnis eingestellt, dass das Abendland deswegen nicht untergeht. Man darf lieben, wen man will – eine rundherum positive Botschaft. Aber ob das Signal auch dann so eindrucksvoll ausgefallen wäre, wenn es nicht den verhassten Orbán zum Ziel gehabt hätte?

fr-debatteLasst uns gemeinsam lesen!

Danke Herr Orbán! Ich bin jetzt jedenfalls fest entschlossen, unser innerfamiliäres Leseprojekt mit unseren Kindern fortzuführen. Das letzte Jahr hatten wir intensiv für gemeinsames Lesen in deutscher und englischer Sprache genutzt. Nun stand auf dem Plan bereits „In einer Person“ von John Irving. Ich hatte mit den Lockerungen allerdings wenig Hoffnung auf konsequente Umsetzung. Jetzt ist es zu einem politischen Projekt geworden und wir nehmen uns die Zeit für diese Literatur, die mit ihrer Botschaft so wichtig ist!

Tanja Clauß, Frankfurt

fr-debatteWelche Werte und welche Wertegemeinschaft?

Ja, das „ungarische Homosexuellen-Gesetz“ ist diskriminierend, demütigend und unerträglich. Aber diejenigen, die sich jetzt so fulminant aufblasen, sollten besser die Luft anhalten und nicht versuchen, von ihren eigenen Schandtaten abzulenken. Von der Leyen (CDU) spricht von Menschenwürde, Gleichheitsgrundsatz und grundlegenden Menschenrechten und davon, dass die EU bei diesen Prinzipien keine Kompromisse eingehe. Für Merkel (CDU) sei dieses ungarische Gesetz nicht mit ihrer Vorstellung von Politik vereinbar, und Barley (SPD) fordert EU-Gelder von „Rechtsstaatssündern“ einzufrieren. Heuchler unter sich!
Die Europäische Union sorgt zum Beispiel dafür, dass das Massengrab im Mittelmeer täglich größer wird und illegale Pushbacks an den europäischen Außengrenzen zur Normalität gehören. Ein europäisches Arbeitsrecht, das diesen Namen verdienen würde und soziale Standards setzt, die den Interessen der abhängig Beschäftigten wirklich nützt, steht in den Sternen. Ein Steuerrecht, das wenigstens dazu führt, dass die internationalen Konzerne in den Ländern, in denen sie ihre Profite tatsächlich einstreichen, angemessene Steuern zahlen – und ich meine nicht die im Gespräch stehenden 15 Prozent –, ist weit entfernt … usw.
Auf der Meinungsseite ist davon die Rede, dass sich Länder wie Ungarn oder Polen immer weiter von der europäischen Wertegemeinschaft entfernen. Welche Werte und welche Wertegemeinschaft?

Manfred Heinzmann, Mörfelden-Walldorf

fr-debatteJa, die Welt könnte ein besserer Ort sein

Ach ja, die europäischen Werte. Da leuchten die Stadien in Regenbogenfarben, die Fans reißen sich um ebenso farbige Fähnchen. Und die Kommissionspräsidentin findet erstmals klare und deutliche Worte gegen die Verletzung von Menschenrechten. Ja, wenn es wenig oder nichts kostet und auch noch eigene Interessen bedient werden, dann scharen sich die Europäer hinter ihrer Wertewelt. Aber wenn es wirklich etwas kostet und man auch persönlich einstehen müsste, dann weht die europäische Wertefahne über einsamem Gelände.
Man stelle sich Folgendes vor: Beim Endspiel um die Fußballmeisterschaft veröffentlicht die UNO die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Migranten. Eine NGO fordert dazu auf, die Farben von Staaten im Subsahara-Gebiet Afrikas, aus denen die Migranten vor Krieg und Hunger sich in Sicherheit bringen wollen, an den Stadien leuchten zu lassen und auch solche Fähnchen zu verteilen. Sie fordern dazu auf, Menschenleben an den Grenzen Europas zu retten, und gegen all die Staaten und Bevölkerungsteile Europas zu protestieren, die nicht retten sondern sich gegen die Not abschotten wollen: Wie sähe wohl die Farbenpracht an den Stadien und darinnen aus? Und wie schweigsam würde sich wohl die Kommissionspräsidentin für das Menschenrecht auf Überleben einsetzen?
Ach ja, die europäischen Werte! Die Welt könnte ein besserer Ort zum Leben sein, wenn das Gedankenexperiment ganz anders ausginge: Die Farben der Fluchtländer leuchten auf allen Stadien und die Fähnchen drinnen heben und senken sich in La-Ola-Wellen hinauf und hinunter. Die Kommissionspräsidentin stoppt alle Geldflüsse in rettungsunwillige Staaten.
„Na also, geht doch!“ könnten alle sagen. „War doch gut, die Generalprobe mit den europäischen Werten.“

Dieter Reitz, Mainz

fr-debatteUnd ab und zu schwenken wir Regenbogenfähnchen

Dankenswerterweise berichtet die FR über die Diktatur in Belarus, über Folter, Psychoterror, Verhaftungen und Flugzeugentführungen. Einige Seiten weiter erfahren wir von der mutmasslichen Entführung eines türkischen Lehrers in Kirgistan, wahrscheinlich durch den türkischen Geheimdienst MIT. Dazu die Unterdrückung der Presse- und Meinungsfreiheit und die Schließung der Zeitung „Apple Daily“ durch die chinesischen Behörden in Hongkong.
Die Schweinereien der jeweiligen Despoten sind vergleichbar, wie aber sieht es mit der Antwort beispielsweise der EU aus? Gegen den alten und häßlichen Diktator Lukaschenko und seine Kumpane werden Sanktionen verhängt – völlig zu Recht, nach meiner Ansicht. Aber Belarus ist auch ein relativ unwichtiges Land für Deutschland und die EU. Da lässt sich munter und gefahrlos dreinschlagen. Ganz anders bei dem NATO-Mitglied Türkei. Erdogan hält auch einige Deutsch-Türken (und natürlich viele türkische Bürger) unter fadenscheinigen Terror-Beschuldigungen jahrelang ohne Prozess in Haft; seine Truppen besetzen syrisches Gebiet (hör ich da das Wort „Krim“?) und vertreiben die dort lebenden Kurden; er wildert mit seinen Gas-Bohr-Schiffen in EU-Gewässern und sendet Söldner und Waffen (trotz Embargo) nach Libyen. Aber die Türkei ist wichtig für die EU: als Handelspartner, als Bollwerk gegen flüchtende Menschen nach Europa, als NATO-Partner, auch wenn sie sich einen Dreck drum scheren und russische Abwehrraketen kaufen. Bei dem mächtigen China ist es ähnlich: bloss keine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“, sonst liefert Peking keine Chips mehr. Nicht einmal Großbritannien, als ehemalige Schutzmacht Hongkongs und Vertragspartner, zieht irgendwelche Konsequenzen. Manche Diktaturen sind halt gleicher als gleich!
Das Schweigen der EU ist schon relativ laut. Aber Europa hält ja die Menschenrechte hoch, das Menschenrecht auf freien Handel und ungehindertes Profitstreben. Und ab und zu schwenken wir auch Regenbogenfähnchen.

Manfred Backhaus, Niederbrechen

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3 Kommentare zu “Orbáns Homosexuellengesetz: Und ab und zu schwenken wir Regenbogenfähnchen

  1. Aber was hören wir in dieser Frage von der Kanzlerin oder ihrem Außenminister? Sie schimpfen immer nur auf Putin und lassen Manöver im schwarzen Meer abhalten.

    Die Diktatoren in der EU oder in der Türkei und anderswo werden weiter unterstützt.

  2. Kurze Info: Die Bundesrepublik Deutschland ist am Manöver „See Breeze“ im Schwarzen Meer nicht beteiligt. Das Manöver wird seit 1997 jährlich abgehalten. Deutschland war zuletzt 2015 mit von der Partie.
    Das aber nur am Rande. Zurück zum Thema.

  3. In einer der Zuschriften wird Großbritannien mit der wohlklingenden Bezeichnung „ehemalige Schutzmacht“ Hongkongs bedacht. Schutzmacht? Das Königreich war Kolonialmacht dieser chinesischen Inselgruppe. 1841, im ersten Opiumkrieg okkupiert, schuf das victorianische Britannien Fakten. Zwei Jahre später presste man im Nánjinger Vertrag (China spricht von einem ungleichen Vertrag) China Hongkong als koloniale Beute ab.
    Britisches Militär schützte die wirtschaftlichen Interessen der herrschenden Kreise des Königreiches, die Menschen und Ressourcen ausbeuteten. Der Kuli Hongkongs oder der Squatter Afrikas spielten in diesem asozialen System moderner Leibeigenschaft nur als Arbeitsverpflichtete eine Rolle, welche ihm sein Herr zudachte, der selbstverständlich der weißen Oberschicht der Kolonien angehörte.
    Der Zweite Weltkrieg lag sieben Jahre zurück. Da lehnten sich die Kenianer im Mau-Mau-Aufstand gewaltsam gegen das weiße Siedler-Regime, das ihnen durch Enteignung ihr Land stahl, auf. Das Establishment Großbritanniens denunzierte die Ablehnung dieser und anderer Formen westlicher Zivilisation durch Afrikaner als irrational.
    Reaktion der Schutzmacht: Etwa 1,5 Mio. Menschen wurden in Internierungslager gesteckt und dort zum Teil gefoltert. Der Krieg forderte Tausende Todesopfer unter den Kenianern. Das britische Militär und die weißen Siedler beklagten dagegen weniger als 100 Tote.
    Bis in die späten Fünfzigerjahre hinein wurden fast 1100 Afrikaner Opfer von Spezialgerichten. Zum Tode verurteilt ließen diese sie unmittelbar danach öffentlich(!) hängen. Ein Vorgehen, von dem man 1945, nach Ende der deutschen und japanischen Terrorherrschaft, dachte, so etwas könne sich nicht wiederholen, schon gar nicht unter der Ägide Britanniens, „der Mutter der Demokratie“.

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