Es war am Morgen der siebten Etappe meiner Radtour, als das französische Fernsehen außer Rand und Band geriet, nicht nur im Frühstücksraum der Hostellerie de la Poste im westburgundischen Städtchen Clamecy. Ich brauchte ein bisschen, um zu verstehen, was geschehen war: Michael Jackson, der „King of Pop“ – tot. Ein Mann (oder etwas einem Mann recht ähnliches) meiner Generation, wenn man so will. Ein Künstler, dessen Musik meine Adoleszenz begleitet hat. „Billie Jean“ war ein Album, das ich mit 18 Jahren rauf und runter gehört habe. Es ist mit 55 bis 60 Millionen verkauften Exemplaren bis heute das meistverkaufte Album der Musikgeschichte, und ich war einer von denen, die es hörten. Gerade habe ich es mir aus meinem Plattenschrank geholt und hätte Lust, es wieder anzuhören, aber es ist zu spät in der Nacht, um richtig aufzudrehen. Ich wurde deswegen nicht zum Jacko-Fan, aber „Billie Jean“ ist ein Teil meines Lebens. Und nicht nur meines; darüber wird man wohl kaum diskutieren können.
Mit meinen Gastgebern in Limoges, denen der ganze „Jackson ist tot“-Hype in Frankreich gehörig auf die Nerven ging – so wie zahlreichen FR-Leserinnen und -Lesern ebenfalls – gab es heftige Diskussionen darüber, wie dieser Hype zu rechtfertigen sei: Was habe dieser Michael Jackson überhaupt Großartiges geleistet? Ich halte diese Diskussion für überflüssig, denn was haben beispielsweise die Beatles geleistet, um zum Mythos zu werden? Sie haben eine relativ einfache, besser gesagt: unelitäre Musik gemacht und damit die Herzen einer Generation erobert und diese geprägt. Mit den meisten Zeitgenossen außerhalb dieser Generation konnte man damals über diese Leistung ebensowenig diskutieren wie heute mit jenen, die nicht mit Michael Jackson und seiner Musik groß geworden sind. Jacksons Musik tat etwas Vergleichbares. Während die Beatles mir immer brav vorkamen, war Jackson aufsässig. Wenn ich an „Black and White“ denke, ist er es sogar heute noch, und das will was heißen: „Eat this“, heißt es da, und dann geht es aggressiv los. „Bad“ heißt das Album, dass das Selbstbewusstsein einer ganzen US-amerikanischen Generation junger Afroamerikaner ansprach, sofern „Billie Jean“ sie noch nicht angesprochen hatte. Einer von ihnen war nun ein ganz Großer, nein, natürlich der Größte. Ob Michael Jackson wirklich einer von ihnen war, dies sei dahingestellt. Sie glaubten es, und damit gab er ihnen etwas.
Als Gegengewicht zu meiner Meinung hier ein Leserbrief von Hugo Bergmann aus Frankfurt, der sich auf die „Jackson-Ausgabe“ der FR vom 27. Juni bezieht:
„Sehr geehrte Redaktion der Frankfurter Rundschau, war es wirklich nötig, anläßlich des Todes von Michael Jackson ihm in der Samstagsausgabe insgesamt neun Seiten, inklusive Titel- und Rückseite zu widmen? Auch wenn ich seine kulturelle Relevanz und heilandartige Funktion für einige im Zeitalter nach Gottes Tod gerne anerkennen will, finde ich das ein bisschen viel. Von einer unabhängigen Tageszeitung hätte ich mir gewünscht, daß sie kritischer bleibt gegenüber der aktuellen Huldigung Jacksons – der zum Schluss mehr abstoßende, pervertierte Ausgeburt des eigenen Personenkults, denn verehrungswürdiger Künstler war, und damit nicht zuletzt Opfer der Art der Berichterstattung über ihn.“
Und Ralf-Michael Lübbers aus Marienhafe schrieb mir:
„Moin lieber Herr Bronski und liebe Redakteure der Frankfurter Rundschau,
diesen nicht nur von der Frankfurter Rundschau veranstalteten Personenkult um Michael Jackson kann ich nicht nachvollziehen. Da stimmen ja überhaupt nicht mehr die Proportionen. Gestern habe ich immer wieder BBC World angestellt, um mich über das wirklich wichtige Thema Iran zu informieren (bei Ihnen beginnen die Nachrichten über den Iran auf Seite 9, nach 8 Seiten Michael Jackson). Was lief: Michael Jackson. Dabei ist doch wichtig, dass ‚eine Mehrheit der schiitischen Gelehrten im Iran die religiöse Staatsstruktur ablehnt‘, wie Sie schreiben. Und 140000 Tabaktote pro Jahr allein in Deutschland sind auch nicht gänzlich unwichtig, zumal es sich um theoretisch 140000 vermeidbare Todesfälle handelt. Meine bescheidene Meinung …
Ich bin unmusikalisch. Ich weiß nicht, wie toll Michael Jackson Musik tatschlich war. Aber Michael Jackson hat verdammt noch mal nur Musik gemacht. Er hat nicht die Welt verändert. Er ist nicht Michail Gorbatschow, Nelson Mandela, Barack Obama, Willy Brandt. Diese Leute haben die Welt verändert, besser gemacht, oder sie sind aktuell damit beschäftigt, die Welt zu verbessern. Michael Jackson ist nur ein Sänger.“
Es ist nur natürlich, dass nicht jede und jeder etwas mit Michael Jacksons Musik anfangen kann bzw. konnte, doch die Kritik einiger FR-Leser an dieser Ausgabe, die in Leserbriefen veröffentlicht wurde, erzeugte Gegenkritik von anderen Leserinnen und Lesern, die das Ereignis angemessen gewürdigt sahen. So sah das etwa Reinhold Wobido aus Butzbach:
„Erst mal danke ich für Ihre Berichterstattung in der FR, ich fand jede Seite okay. Was ich nicht verstehen kann ist die Kritik an einem Genie, das in sich zerrissen war. Ein begnadetes Genie, das mit seiner Musik nicht nur mein Leben bereichert hat. Wie kann man da in Leserbriefen schreiben (1. und 2. Juli), dass er die Welt nicht verändert hat? Jeder, der diesen Star gemocht und gerne gehört hat, wird widersprechen können. Mit ‚Personenkult‘ hat das nichts zu tun. Nennen wir es Trauerbewältigung, und dafür danke ich der FR.“
Hat er die Welt verändert? Das Interesse an seiner Person ist jedenfalls ungebrochen. So schreibt mir jetzt Hans-Peter Fischer aus Dinslaken als Reaktion auf den Text „Das Trauerspiel„:
„Wie entgeht man einem Kultgehabe, das man nicht angerührt, eher trotzig berührt verfolgt, wie es manchem ergangen sein mag, der die Bilder in seine Stube flimmern ließ? Am besten mit einem Trick, indem man das Ganze umkehrt, man annimmt, der Beerdigungs-Inszenierung eines Mafiamitgliedes beizuwohnen. Wer nun hinschaut, bemerkt das Künstliche derer, die noch hoffen, am Gewinn dieses Ablebens möglichst großzügig beteiligt zu sein. So wird der Goldsarg zum Symbol derer, denen Michael Jackson zu entfliehen suchte, in deren Fängen er aber Spielball blieb, auch wenn sie zwischenzeitlich Verluste hinnehmen mussten. Jetzt schlägt, so hoffen sie wenigstens, ihre Stunde, und alles Gerede von Aufwertung der schwarzen Seele endet im Blick auf das, was schon Fontane als Tanz ums goldene Kalb brandmarkte. Damals beim aufstrebenden Bürgertum, das er mehr verachtete als den Adel.
Gerieren sich Jacksons Nachlassverwalter etwa als Bewahrer seiner Kunst? Sollte sich Geschichte, wie bewiesen, erneut wiederholen, müssen andere als die Blutsfreunde sein Erbe wahren?“
Renate Schumacher aus Frankfurt meint:
„Es bleiben Fragen offen: Wenn bekannt war, dass er Narkosemittel anwandte, gab es nicht Gegenmittel zum Aufwecken, wie sie auch bei Tieren eingesetzt werden? Und im Land der Psychiater: Gab es niemanden, der seine Kindheit mit ihm aufarbeiten konnte?
Man sollte versuchen, ihn zu rehabilitieren in Bezug auf seine Neigung zu Kindern. Es sind die schlechten Gedanken von Erwachsenen, die in sein Verhalten hineininterpretiert wurden. Er wollte sicher Kindern Gutes tun, was ihm als Kind vorenthalten blieb. Auch die Schilderung über seine Genitalien mag nur daher rühren, dass er nackt gebadet hat. Die betroffenen Kinder wurden sicher von ihren Eltern wegen des Geldes manipuliert. Diese Kinder müssten heute erwachsen sein. Schlägt ihnen nicht das Gewissen? Und dann diese Unperson ‚Vater‘. Nutzt das Forum der weltweiten Trauer für seine Geschäfte. Disgusting!“
Um auf Hugo Bergmann einzugehen: Ja, acht Seiten waren möglicherweise ein bisschen viel. Und auch Ralf-Michael Lübbers hat natürlich Recht, wenn er moniert, dass anderes, tagespolitisch Wichtigeres zwangsläufig schwächer – zu schwach – in der Ausgabe vom 27.6. gewichtet wurde, werden musste. Doch wie würdigt man den Tod eines solchen Künstlers angemessen, wenn man berücksichtigen will, dass nicht jede/jeder eine Beziehung zu ihm hatte? Keiner hat die Pop-Kultur im vergangenen Vierteljahrhundert so bewegt wie Michael Jackson. Auch mit der Trennung der Beatles ist sein Tod nicht zu vergleichen, denn die Beatles blieben, jeder für sich, noch länger aktiv, teilweise bis heute. John Lennons Tod? Ja, in dieser Liga spielte Michael Jackson. Und in der von Elvis Presley. Aber da gehen die Meinungen und Geschmäcker natürlich auseinander.
Wie gesagt, ich bin kein Jacko-Fan. Ich mochte und mag seine Musik, und ich hätte zu gern erlebt, was nach seinem tiefen Sturz gekommen wäre. Wir hätten bei seinem Comeback sicher einen anderen Michael Jackson erlebt als zu Zeiten von Billie Jean. Manche großen Künstler haben solche tiefen Stürze erlebt und erst danach ihr Bestes abgeliefert, was gleichwohl schon am Anfang angelegt war. Vielleicht etwas, was eher in die Richtung von „The Girl is Mine“ gegangen wäre, ein Duett mit Paul McCartney und von jeher mein Lieblingsstück des King of Pop. Schade. Wir werden es nie erfahren. Wie vieles andere ebenfalls nicht, was im Kopf dieses Mannes – dieses Mannähnlichen – vorging.
Ich erbringe jeden Tag eine aussergewöhnliche Leistung!
Ich erhalte nur einen winzigen Lohn dafür aber ich bin seit 20 Jahren der „King of Krankenpflege“.
Kräht kein Hahn danach? Kein Problem, ist mir wurscht.
Aber der M.Jackson, wenn er mir untergekommen wäre, der würde noch leben! Weil er sich dann nicht geopfert hätte, dem Markt, den Fans, den Managern, der Musik und dem Rummel.
Ich hätte ihn geschützt! Das hätte kein Markt, kein Fan, kein Manager, keine Musik und kein Rummel geschafft.
Wie gesagt: Ich erbringe jeden Tag eine aussergewöhnliche Leistung.
Ich hindere Menschen, eine Illusion zu sein.
Als ich den Grabgesang zu M. Jackson’s Tod las, bekam ich immer mehr innere Zustimmung! Sie haben mir aus dem Herzen geschrieben, denn genauso habe ich es immer empfunden.
Nun sind Meinungen natürlich relativ, ebenso wie die „Wahnsinnsberichterstattung“ über ein Pop-Idol …
aber der Artikel von Marc Obert ist so positiv zutreffend, dass er hoffentlich viele erreicht und anspricht.
Es ist schon faszinierend mit zu verfolgen, was die Menschheit unter Liebe versteht.
Der ganze Auftritt und die Berichterstattung über das Massenspektulum hat mich ordentlich erschrocken!
Wenn das Liebe sein soll, dann tun mir die Menschen leid.
Ich habe die Sendungen im Fernsehen auf mehreren Kanälen verfolgt und bin zu dieser Meinung gekommen…..
als Vergleich dazu ein anrührendes Foto über die Bestattung der Opfer von Viareggio…..zwar war auch nur wieder Bocelli als „Magnet“ zu sehen,dennoch konnte man auf dem Foto hervorragend die Ausstrahlung der Betroffenheit erkennen.
Auch vermittelt das Reinweiß der Särge sowie der weiße Blumenschmuck eine echte Tiefe und Würdigung für die Verstorbenen .
Ich hätte Michael Jackson auch diese Reinheit gewünscht, denn irgendwie hat er sein Leben lang eine Geborgenheit und Liebe gesucht…..(was für mich Reinheit ist)
In der äußeren Schale der Oberflächlichkeit kann man eben keine Liebe ansiedeln, auch wenn man es so nennt…..
Schade um die versäumten Chancen….
Es ist schön zu lesen, dass die Rundschau so viele positive Beiträge druckt, die auf Aufrichtigkeit fundieren und zu positivem Denken anregen…..
Danke dafür!
Mit vielen Grüßen
Friederike Hansen
Das ganze Elend fängt schon damit an, daß vorgeblich „Idole“ gebraucht werden. Das ist nicht so, sondern wird den Produzenten und Konsumenten von allgemeingültigen „Lösungen“ vorgegaukelt. Die einen glauben wirklich, was sie tun und die anderen glauben wirklich, was sie sehen. Beide glauben wirklich, sie könnten die Welt verändern.
Mit schöner Regelmäßigkeit werden dann beide in den Burn-Out gejagt.
Was hat M.Jackson denn 1995 erreicht mit seinem „Earth Song“, in dem er nichts anderes sagte, was schon Millionen vor ihm gesagt haben, der aber als Mahnung zur Umkehr, zum sofortigen Handeln gemeint war? Gar nichts.
Aber nun kann wiedermal eine Generation Abschied nehmen von ihren Illusionen und dann wieder eintauchen in das allgemeine Weitermachen.
So werden der Reihe nach die Könige beerdigt,
..of Rock, …of Pop… of Soul
… of Krankenpflege, Buchhaltung, …Economics, …Marxismus, …usw.
und alle funktionieren wieder so vor sich hin, bis zum nächsten geopferten Idol, bis zur nächsten verbrannten Generation.
Einer hat mich wegen des Kommentars 1 angeraunzt.
Zur Klarheit: Das war eine Parodie.