Der Strom an Flüchtlingen reißt nicht ab

Wenn ich mir manche der Leserzuschriften ansehe, die mich zum Thema Flüchtlingsdrama derzeit erreichen, frage ich mich, wie weit es her ist mit den sogenannten christlichen Werten, unserer angeblichen christlich-jüdischen Leitkultur und unserem Abendland. Es scheint längst untergegangen zu sein. Nächstenliebe und Barmherzigkeit — Grundltugenden christlichen Verhaltens? Es gibt Leute, die mir allen Ernstes schreiben, sie würden keinem dieser Leute die Hand reichen, um sie aus dem Wasser zu ziehen. Jeder, der im vollen Bewusstsein der Gefahr einen jener Seelenverkäufer besteige, habe das Recht auf Seenotrettung verloren. Sollen sie also ertrinken, nicht wahr? Da will es der Zufall, dass mich dieser Tage der folgende wunderbare Text von Johannes Seiler aus Minden erreichte, der den Fokus auf das Thema Flüchtlinge an der einzig richtigen Position einrasten lässt. Johannes Seiler stellt klar: Letztlich sind wir alle Flüchtlinge. Irgendwie. Bundesinnenminister Thomas de Maizière ist es, weil er von Hugenotten abstammt, die im 17. Jahrhundert aus Frankreich flohen, und ich selbst, Euer Bronski, bin es auch, weil meine Eltern mit ihren Familien Weltkriegsflüchtlinge waren. Diese Gedanken könnten helfen, die humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer ein wenig anders zu betrachten.

Der Strom an Flüchtlingen reißt nicht ab

von Johannes Seiler

In diesen Tagen sieht man als Europäer in den Tageszeitungen und Journalen immer wieder auch Karikaturen von Schiffen mit Flüchtlingen, die an den Küsten Europas wortgewandt abgewiesen werden. Schiffe mit Flüchtlingen – es ließe sich geradezu eine Geschichte Europas erzählen entlang von Flüchtlingsschiffen; allerdings gefüllt mit Europäern, die an fremden Gestaden Zuflucht suchen. Auch diese europäischen Flüchtlinge hatten jahrelang all ihre Ersparnisse zusammengekratzt, um die lange und gefährliche Überfahrt bezahlen zu können. Schon vergessen? Nun, widmen wir uns kurz einer kleinen Rückblende! Immer sind es Schiffe, die europäische Häfen verlassen, immer sind sie voll beladen mit Frauen, Kindern, Männern, alten wie jungen, alle voller Hoffnung auf einen Neuanfang in einer neuen Welt, die weniger ungerecht, weniger chancenlos, und weniger krank machend sein soll. Arbeit soll es da geben, Land und vor allem keine Ungleichheit zwischen den Menschen – alle frei geboren, alle gleichberechtigt und niemand wird dort wegen seines Glaubens verfolgt, niemand. Was für glückliche Aussichten!

Und so fahren seit dem 17. Jahrhundert von Irland, von England, vom europäischen Kontinent Schiffe voll mit Flüchtlingen in die sogenannte Neue Welt – Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt. Im 19. Jahrhundert werden es immer mehr, die aus Mitteleuropa, aus Italien, Griechenland, aber auch aus Polen und Russland die gefährliche Reise auf sich nehmen, weil ihr Leben daheim nicht mehr lebenswert ist.

Und so viele kommen gar nicht erst an in der Neuen Welt: Sie sterben unterwegs an Krankheiten und Auszehrung. Und manche Schiffe gehen unter mit Mann und Maus in schlimmem Wetter auf hoher See. Aber die, die es schaffen, danken ihrem Gott für die glückliche Überfahrt, danken den Menschen, die sie hineinlassen in dieses fremde Land mit dieser fremden Sprache. Sie alle sind bereit, noch einmal ganz von vorne anzufangen, sich ganz hinten anzustellen; alle wollen arbeiten für ein besseres Leben als freie Menschen in einem freien Land.

So werden aus den vielen, vielen Flüchtlingen im Laufe der Zeit stolze Staatsbürger in ihrer neuen Heimat. Und stolz erzählen sie dann ihren Kindern und Enkeln, was sie gewagt haben, woher sie kamen und was nun aus ihnen geworden ist. Aber auch unter diesen Millionen Flüchtlingen wird es viele geben, deren Hoffnungen und Träume sich nicht verwirklichen werden. Dennoch reißt der Strom an neuen Flüchtlingen nicht ab – bis heute.

Eine ganz andere Geschichte wird dann die Flucht der Stämme sein, die vor den neu Angekommenen, die eben erst selbst Flüchtlinge waren, immer weiter nach Westen zurückweichen müssen, bis es sie gar nicht mehr gibt oder sie in sogenannten „Erhaltungsräumen“ zusammengepfercht überleben dürfen…Und von den zahllosen hingeschlachteten Büffeln wollen wir gar nicht erst reden; denn auch denen half die Flucht vor den ehemaligen Flüchtlingen aus Europa nicht mehr…

Man müsste einmal eine Namensliste all der Schiffe anlegen, die unter vollen Segeln diese mutigen Menschen von Europa übers Meer brachten – Jahrhunderte lang – von den Arbeitsplätzen im Schiffsbau und in den Wäldern im damaligen Europa ganz zu schweigen.

Vielleicht sollten die Europäer heutzutage ihren Kindern diese alten Geschichten ihrer geflohenen Verwandten neu erzählen, damit sie sich erinnern können und ahnen, was es hieß, als Flüchtling auf ein Schiff zu steigen in eine völlig ungewisse Zukunft. Das größte Gepäckstück, das sie mit sich nahmen, war aber stets die Hoffnung. Hoffnung auf Menschen in der Fremde, die ihnen helfen würden neu anzufangen. Was ließe sich nicht alles aus solchen Erzählung lernen? Welche Fehler könnte man da vermeiden erneut zu machen? Welche klugen Ideen für ein glückendes Hineinwachsen in die neue fremde Welt wären da voller Staunen zur Kenntnis zu nehmen?

Aber nicht nur ist zur Zeit die Rede von den Flüchtlingen in Schlauchbooten oder altersschwachen Kähnen im Mittelmeer, die ertrinken oder in Lagern gesammelt und bürokratisch erfasst werden. Nein, man kann auch von Flüchtlingen lesen und hören, die vor mehr als siebzig Jahren – mit nur wenig Habseligkeiten, wenn überhaupt – auf Schiffen glaubten, der alltäglichen Gewalt des Krieges und dem Hungertod entkommen zu können. Wie hoffnungsvoll werden sie die großen Passagierschiffe in höchster Not bestiegen haben, die Flüchtlinge, Deserteure, schwangeren Frauen, Verletzte und befreiten KZ-Häftlinge und wie sehr werden ihre Hoffnungen zunichte gemacht werden.

Aber kehren wir noch einmal zu der alten Geschichte zurück: Wir Europäer haben also selbst eine Geschichte als Flüchtlinge. Afrika und Vorderasien werden ihren Enkeln auch einmal die Geschichte ihrer nach Europa geflohenen Verwandten erzählen können. Was werden das für Geschichten sein?

Geschichten über geldgierige Schlepper, über unverwüstliche Hoffnungen junger Männer, die sich durch nichts abschrecken ließen. Sie wollten einfach nur der Not, der Gewalt, dem Hunger entfliehen, wollten ihre Begabungen in Europa anbieten. Bescheiden bei Null anzufangen, aber bereit zu lernen, zu arbeiten, geduldig zu sein. Denn sie glaubten, wie auch immer es sein würde, es würde besser sein als daheim. Glaubten sie. Aber viele werden gar nicht erst in Europa ankommen, sie werden erbärmlich im Mittelmeer ertrinken, Tausende…und falls sie es doch geschafft haben sollten, beginnt eine qualvolle und lange Phase des Eingesperrtseins, des Herumgereicht-Werdens, und das große Gepäck der Hoffnung wird dabei kleiner und kleiner werden. Denn es werden auch Geschichten sein über europäische Bürokraten, Politiker und Bürger, die in vielen Sprachen immer nur das gleiche sagten: „Das Boot ist voll. Wir helfen euch gerne in eurer Heimat bessere Verhältnisse zu schaffen, aber in Europa habt ihr keine Zukunft. Diese Hoffnung müsst ihr fahren lassen!“

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PS: Johannes Seiler, der Autor dieses Artikels, unterhält ein eigenes Blog, auf dem der Text ebenfalls erschienen ist:

pantarheibrotundwein

Dort nennt er seinen Text „Europa-Meditation # 13„.

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8 Kommentare zu “Der Strom an Flüchtlingen reißt nicht ab

  1. Die Geschichte der Menschheit ist von ihrem Anfang an eine Geschichte der Migration. Sie war die Voraussetzung für die menschliche Besiedelung unseres Planeten. Völker wie die Kelten und die Goten gingen daran zugrunde. Andere Völker wie die Israeliten, die Sinti und die Roma überlebten, unter welchen Umständen auch immer. Nach diesem großen Sprung in der Menschheitsgeschichte nun ein kleiner weiterer: die Besiedelung Amerikas.

    Nach der Entdeckung der Neuen Welt waren erst einmal die Eroberer im Namen rivalisierender Majestäten, dann Abenteurer und Kaufleute diejenigen, die sich das Land untertan machten. Die weitere Besiedelung erfolgte durch Kriegsgefangene, verurteilte Kriminelle und politische Sträflinge. Nachdem sich in dem prosperierenden Nordamerika eine eigene Oligarchie herausgebildet hatte, sorgte diese dafür, daß zunächst weiße Sklaven „einwanderten“. Notleidenden und gesellschaftlich diskriminierten Menschen – die meisten waren Briten – wurde die Überfahrt bezahlt gegen die Übereinkunft, bei freier Kost und Logis über mehrere Jahre hinweg die Kosten abzuarbeiten. Wäre das keine Lösung für die derzeitige Flüchtlingsmisere? Wozu den Schleusern den Profit überlassen? Erst recht waren hoffnungsfrohe Arbeitskräfte aus ganz Europa willkommen, die ihre Überfahrt selbst bezahlten. Daß die Afrikaner trotz freier Passage damals lieber zu Hause geblieben wären, muß wohl nicht betont werden. Die Weltoffenheit der Nordamerikaner hatte anfänglich zum Ziel, durch weitere Landnahme die sich heftig wehrenden Ureinwohner ihrer Existenzgrundlage zu berauben. Wo die Flucht der Indianer endete, ist bekannt. Ich verkenne dabei nicht, daß viele Europäer einem schlimmen Schicksal entgingen, sei es durch religiöse oder politische Verfolgung, durch Hunger und Knechtschaft und Verelendung am Rand sich ausbreitender Industrielandschaften.

    Genau hier ist der Punkt, heute von den US-Amerikanern das einzufordern, was ihre originäre Aufgabe ist, nämlich, Notleidende aufzunehmen. Zumal sie für vielfältiges Leid und Not verantwortlich sind! Ich erinnere an Afghanistan, an Jugoslawien, an den Irak, an Libyen und last not least an die Boatpeople, nicht nur in Südostasien, sondern auch im Mittelmeer.

    An die Situation der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, der späteren Aussiedler hierzulande erinnern sich nur noch wenige. Auch ich weiß nur noch: Sie waren nicht willkommen. Wenn sie Glück hatten, wurden sie zwar nicht für ganz voll genommen aber toleriert. In einer Notsituation wie nach dem Krieg, wenn es an allem für’s eigene Durchkommen mangelt, ist das verständlich. Ich kann nicht beurteilen, ob unsere individuelle oder kollektive Angst, durch Flüchtlinge, Asylanten oder Einwanderer einschneidende Nachteile zu erlangen, typisch deutsch ist. Wenn ich Nachteile schreibe, dann meine ich nicht nur solche wirtschaftlicher Art, sondern auch in unserem so geordneten sozialen Umfeld, wo die Welt dann nicht mehr in Ordnung ist, sobald sich in der Nähe eine Emigrantenunterkunft befindet. Wir Deutsche, die wir so gern in die Fremde reisen, wo wir uns doch nie fremd fühlen, sollten Fremde bei uns willkommen heißen, auf daß sie sich bei uns vielleicht etwas weniger fremd fühlen.

    „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ (Karl Valentin)

  2. Das alles war zu Zeiten als man annehmen konnte das man mit seiner Hände Arbeit sein Geld verdienen konnte. In Zeiten der Industrie 4.0 muss sich die Gesellschaft in die eingewandert werden soll selbst neu erfinden. Deshalb kann man was früher gut war und funktioniert hat nicht so einfach auf die Zukunft übertragen.

  3. Es ist unbestritten, dass ein großer Teil der Menschheit, auch in der deutschen Geschichte, irgendwann einmal auf der Flucht war oder sich auf eine unfreiwillige Wanderung begeben hat, um rassistisch oder religiös motivierter Gewalt, politischer Unterdrückung, Krieg oder sozialem Elend zu entrinnen. Doch ich vermute, dass diese historischen Tatsachen im Verlauf der nachfolgenden Generationen nicht verinnerlicht, gar schlicht vergessen wurden.

    Ein typisches Beispiel dafür ist die Kurpfalz. Ende des 16. Jahrhunderts bot sie sich Reformierten, die wegen ihres Glaubens in Frankreich und in den Niederlanden verfolgt wurden, als neue Heimat an. 350 Jahre später erwies sich die protestantische Kirche der Pfalz trotz ihrer hugenottischen Tradition als besonders anfällig für den Ungeist des Nationalsozialismus und schützte auch getaufte Juden nicht vor dem Zugriff der Nazis.

    Ethische Grundsätze erweisen ihre Aufrichtigkeit in der Art und Weise, in der sie praktisch umgesetzt werden. Jeder Mensch besitzt ein Recht auf Leben und dieses Leben ist immer zu retten. In demselben Maße bedeutet Leben aber auch eine Verpflichtung gegenüber allen Versuchen, es auszubeuten, es zu erniedrigen, es nach rassischen Kriterien zu bewerten oder es für politischen und religiösen Fanatismus in Anspruch zu nehmen.

    Vor diesem Hintergrund werden auch ernstzunehmende Vorbehalte gegenüber einem schrankenlosen Zustrom von Flüchtlingen artikuliert, ohne dass diesen Mahnern rassistische Ressentiments, gar die Übernahme von Phrasen zur vermeintlichen Verteidigung des Abendlands zu unterstellen wären. Vor allem wird das Eindringen autoritärer und antidemokratischer Gesinnungen in die mittlerweile deutlich emanzipatorisch, säkular und undogmatisch orientierte, aber noch längst nicht gefestigte deutsche Gesellschaft befürchtet (siehe Pegida, AfD, NPD etc.). Denn die Fremden erwecken den Anschein, dass sie die reaktionären politischen und religiösen Strömungen in ihrer jeweiligen Heimat nicht grundsätzlich in Frage stellten, sondern vorrangig vor deren schlimmsten Formen und Auswirkungen geflohen seien. Häufig wird darauf hingewiesen, dass es in islamischen Ländern trotz der gravierenden sozialen Konflikte keine nennenswerte sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Opposition gäbe und der Feudalismus ein Wesensmerkmal des Islams sei.

    Zudem stellt sich angesichts der restriktiven und häufig diskriminierenden Genehmigung von Sozialtransfers für bedürftige deutsche Staatsbürger (unabhängig von deren Herkunft) die Frage, ob der Unterhalt von 500.000 Flüchtlingen möglicherweise am Ende gar allein von den Ärmsten durch Verzicht finanziert werden müsste. Diese Situation wird verschärft durch die Kasernierung von Flüchtlingen in der Nähe sozialer Brennpunkte, einer anscheinend dauerhaften Begleiterscheinung des Neoliberalismus. Dadurch werden sowohl begründete Vorbehalte und als auch nicht begründbare Vorurteile nicht abgebaut werden können.

    Darum plädiere ich für ein Wagnis:

    Nehmen wir, die Europäer, mit unseren Kriegsschiffen die Flüchtlinge an der afrikanischen Küste auf (und nicht erst, wenn sie sich in Seenot auf dem Mittelmeer befinden) und bringen sie in die EU-Staaten. Verteilen wir sie aber nicht auf Auffanglager, sondern behandeln wir sie so, wie wir neu Zugezogenen üblicherweise begegnen. Ermöglichen wir ihnen bezahlbare Wohnungen mitten unter uns, so dass sie – genau wie wir- als Singles, Paare oder Familien hier leben können. Machen wir ihnen aber auch klar, dass dies an Voraussetzungen, faktisch an sehr große Anstrengungen, gebunden ist und wir von ihnen deren strikte Einhaltung erwarten: Nämlich das rasche Erlernen unserer Sprache, die uneingeschränkte Zustimmung zu unseren kulturellen und sozialen Errungenschaften (ohne dass damit die Aufgabe ihrer je eigenen Wurzeln verbunden wäre) und die Bereitschaft zur Teilnahme am demokratischen Leben. Schließlich benötigen wir keine fünfte Kolonne des Fundamentalismus und Nationalismus; Pegida, NPD, Salafisten und Konsorten reichen uns bereits.

    Das würde Geld kosten und rein rechnerisch müssten die Steuern für solche, die das wirtschaftlich zu verkraften in der Lage sind, erhöht werden. Doch das könnte eine volkswirtschaftlich sinnvolle Investition sein und zudem eine, die jenseits wohlfeiler Sprüche vom Vorhandensein echter ethischer Verantwortung zeugen würde.

  4. ich danke johannes seiler für diesen „makellosen“ beitrag. möge er eine weiterreichende verbreitung finden und all den oberschlaule u n d den sich nicht betroffen fühlenden augen, ohren, herzen und hirne öffnen.

  5. Ein hilfreicher Hinweis:

    der Dokumentarfilm „Willkommen auf Deutsch“.
    Er wird zur Zeit in diversen Städten in den Kinos gezeigt.

  6. …und ein eindringlicher hinweis: in der fr vom 19.5. der klare beitrag von heiko kaufmann “ wer menschen rettet, rettet sich selbst“.

  7. Ich habe meinen eben geschriebenen Text mit vielen Fragezeichen am Ende der Sätze wieder gelöscht und „eingdampft“ auf wenige Worte.

    Wir haben keine durchführbare Gesamtlösung.

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