Christoph Landscheidt will nun doch auf einen Waffenschein verzichten. Der Bürgermeister der nordrhein-westfälischen Stadt Kamp-Lintfort, ein Sozialdemokrat, wird aus der rechten Szene bedroht, wie er sagt, und wollte sich schützen können. Er bekommt jetzt doch polizeilichen Personenschutz und hat daher seine Klage gegen die Ablehnung seines Waffenscheinantrags zurückgezogen. 25 Sympathisanten der Partei Die Rechte demonstrierten gegen Landscheidt, für eine Gegendemonstration ließen sich 700 Menschen mobilisieren
Dieses Geschehen wirft ein grelles Schlaglicht auf die Verhältnisse in Teilen unserer Gesellschaft. Man könnte von Verrohung sprechen, aber damit würde man unterstellen, dass es sich um einen Prozess handelt. Doch die Gewaltbereitschaft der Rechten – und sei es „nur“ verbale Gewalt – springt so plötzlich auf, dass man eigentlich besser davon ausgehen sollte, dass sie schon immer dagewesen ist und dass sie nur nicht bemerkt wurde. Sie hätte allerdings bemerkt werden können – Stichwort NSU. Vielleicht hat sich diese Gewaltbereitschaft nur nicht aus den scharf abgegrenzten rechten Zirkeln rausgetraut, in denen sie gepflegt wurde? Vielleicht trauen sich solche verbalen Gewalttäter heutzutage mehr, weil ihnen der Weg bereitet wurde, auch von Politikerinnen und Politikern der AfD, die für eine massive verbale Aufrüstung gesorgt haben? Viele Dinge, die vor wenigen Jahren noch unsagbar waren, obwohl sie gewiss von vielen gedacht wurden, sind heute sagbar, nicht erst angefangen beim „Vogelschiss der Geschichte“ von Alexander Gauland, der damit in unerträglicher Weise die Nazi-Verbrechen und den Holocaust relativierte. Ein solcher verrohender Ton könnte Gewalttäter wie diejenigen ermutigt haben, die Bürgermeister Landscheidt bedrohten.
Deutsche Kommunalpolitiker werden vielfach bedroht. Der Bürgermeister der niedersächsischen Gemeinde Estorf ist nach eigenen Angaben wegen rechtsextremer Übergriffe zurückgetreten. Im November hatte der Rückzug der Bürgermeisterin der sächsischen Gemeinde Arnsdorf für Aufsehen gesorgt. Unvergessen ist auch Markus Nierth, der frühere Ortsbürgermeister von Tröglitz, der ebenfalls von Rechten bedroht wurde. Der Rechtsstaat ist offensichtlich überfordert, diese engagierten Menschen zu schützen. Vielleicht ist genau diese Überforderung das Ziel der rechten Aktivisten? Um eine Atmosphäre der Verunsicherung und Bedrohung zu erzeugen, braucht es nicht viel, wie man sieht. Es reicht, das Auto des Opfers mit Hakenkreuzen zu beschmieren und Zettel mit der Aufschrift „Wir vergasen dich wie die Antifa“ in seinen Briefkasten zu werfen. Wenn die Täter dabei keine Fehler machen, lassen sie keine verwertbaren Spuren zurück, die zu ihnen führen könnten. Doch die Herausforderung an die Adresse des Rechtsstaats ist enorm. Er muss Untersuchungen einleiten und Personenschutz organisieren, was angesichts einer tendenziell eher schlecht ausgestatteten Polizei immer schwerer wird, je mehr solcher Fälle es gibt. Folge: Der Stresspegel steigt. Nicht nur bei den Opfern dieser verbalen Gewaltattacken, sondern auch in ihrem Umfeld und durch die Berichterstattung über solche Fälle (die gleichwohl nicht unterbleiben darf).
Es dürfte gleichwohl unstrittig sein, dass hier Gewalttaten begangen werden. Das heißt, es sind Kriminelle am Werk. Unserer bisherigen gesellschaftlichen Ordnung folgend hat jedoch der Staat das Gewaltmonopol in diesem Land. Es gibt zwar hier und da Indizien dafür, dass er die Herausforderung annimmt. So hat der Verfassungsschutz mittlerweile durchaus ein Auge auf die AfD. Der Mord an dem Kassler Kommunalpolitiker Walter Lübcke (CDU) scheint tatsächlich der Weckruf gewesen zu sein, der schon die NSU-Morde hätten sein müssen. Aber unsere Polizeien sind im Lauf vieler Jahre dank der Ideologie vom schlanken Staat derart kleingespart worden, dass die jetzigen Aufstockungsbemühungen mehrere Jahre brauchen werden, bis sie sich auswirken. In dieses rechtsstaatliche Vakuum stoßen die Rechten offenbar vor, diese Schwäche nutzen sie aus. Und so stellt sich eine beklemmende Frage: Hat der deutsche Rechtsstaat noch das Gewaltmonopol in diesem Land?
Das fragt sich auch Manfred Kirsch, der sich unter anderem in Neuwied politisch engagiert und der ebenfalls Morddrohungen erhalten hat. Ich hahe Mitte 2019 ein Interview mit ihm geführt, und die FR hat ein zentrales Zitat daraus auf ihre Titelseite gesetzt: „Rechts ist das Recht des Stärkeren, rechts ist Gewalt.“ Manfred Kirsch hat auch zum aktuellen Fall der Bedrohung des Bürgermeisters Stellung bezogen, siehe unten.
Update: Auf das Büro des Bundestagsabgeordneten Karamba Diaby wurden Schüsse abgegeben – wohl aus einer Paintball-Waffe. Demokratie unter Beschuss, schreibt FR-Autor Andreas Niesmann.
Muss man sich Sorgen machen?
In Kamp-Lintfort (NRW) solidarisieren sich Bürger auf einer Demonstration mit ihrem bedrohten Bürgermeister. Laut Nachrichten im Radio soll die Polizei dem Bürgermeister empfohlen haben, sich auf der Demo nicht zeigen zu lassen; sie könne seinen Schutz nicht gewährleisten. Hallo? Muss man sich Sorgen machen? Die Polizei „sorgt“ sich um die Unversehrtheit des Bürgermeisters. Dann sollte sie sich so organiesieren, dass der Schutz des Bedrohten gesichert ist. Bestimmen indirekt rechte Kräfte, wer in der Öffentlichkeit demonstrieren darf? Wenn das so sein sollte, dann sorge ich mich um unseren Staat. Wie reagieren handeln die zuständigen Minister, Politiker darauf?
Reinhard Schemionek, Wustrow
Jetzt ist der Wille gefordert, die rechten Straftäter dingfest zu machen
Der Präsident des deutschen Städtetages und sozialdemokratische Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung hat vollkommen recht, wenn er darauf hinweist, dass immer mehr Hass gegen Kommunalpolitiker und Mandatsträger zu verzeichnen ist, dem diese Gesellschaft entschlossen entgegentreten muss. Ja, es ist richtig, Hass und Gewalt darf kein Raum gegeben werden. Doch die sicherlich ehrlich gemeinten Begründungen und Forderungen von Politikern auf der unteren und mittleren Ebene des Staates sind schon oft ausgesprochen worden, und man kann auch an Forderungen von Bundespolitikern wie dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der seinerzeit nach einem Anschlag den Aufstand der Anständigen einforderte, erinnern. Doch bei all den Kundgebungen und Statements, die guten Willens abgegeben wurden, muss man gegenüberstellen, wie die Realität sich hierzulande zeigt. Fakt ist, dass trotz zunehmender verbaler Attacken und Übergriffe gegen Menschen, die nichts anderes als Dienst am Nächsten leisten wollen, die Aufklärungsquote bei gleich Null liegt, weil die Staatsanwaltschaften oftmals nur mit Einstellung der entsprechenden Ermittlungsverfahren reagiert haben. Auch ich solidarisiere mich mit Christoph Landscheidt, der gegen die Kundgebung der Partei Die Rechte demonstriert hat, bin allerdings nicht der Auffassung, dass wegen rechtsextremer Drohungen sich Politiker bewaffnen sollten; denn das Gewaltmonopol liegt beim Staat und nicht in Privathand. Würde dieses außer Kraft gesetzt, hätten die Rechten ihr Ziel erreicht. Es ist wirklich unerträglich, wenn 40 Prozent aller Kommunalpolitiker oder ehrenamtlich Engagierten schon einmal Drohungen bis zum Mord. also Angriffen ausgesetzt waren, die sich gegen die physische Existenz der politisch Engagierten richten. Man kann sich im ganzen Lande umsehen und wird immer wieder mit dem Hass und der Hetze der Rechten konfrontiert. Jede Demonstration und jeder Protest gegen die rechten Gewalttäter ist daher zu begrüßen. Aber Erfolg werden die ganzen Proteste erst dann haben, wenn die Verantwortlichen in Polizei und Staatsanwaltschaft die Taten der Rechten endlich ernst nehmen und den ehrlichen Willen zeigen, Hass und Gewalt keinen Raum zu geben. Wenn jemals ein Ruck durch diese Gesellschaft gehen müsste, dann wäre das spätestens jetzt, wo Verrohung der Sprache und konkrete Angriffe auf Menschen an der Tagesordnung sind, vonnöten. Wenn nämlich Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Angst wegen ihres politischen Engagements haben müssen, dann muss man leider davon ausgehen, dass die Demokratie in vielen Gemeinden schon außer Kraft gesetzt ist. Denn das Engagement der Ehrenamtlichen ist die Substanz eines demokratisch-politischen Gemeinwesens. Gefordert ist der Wille, die rechten Straftäter dingfest zu machen.
Ein sozialdemokratischer Bürgermeister beantragt einen Waffenschein, weil er Morddrohungen bekommt. Der Waffenschein wird ihm verweigert – von wem auch immer. Das hat eine Erinnerung in mir geweckt. Mein Opa Ludwig hat mir vor fast 50 Jahren erzählt, dass er bei der „Eisernen Front“ war. Sozialdemokraten, Gewerkschafter und ein paar Liberale wollten die Weimarer Republik schützen. Aber sie hatten keine Waffen. Die Waffen hat die schwarz- braune Bürokratie der Weimarer Republik den Nazis zugestanden. Für diese Leute waren immer die Sozialdemokraten der Hauptfeind.
Und heute? Ein Reichsbürger – ein Mensch für den die BRD gar nicht existiert und für den weder die Verfassung noch die Rechtsordnung Gültigkeit hat, darf sich mit dem Eintritt in einen Sportschützenverein das Recht erkaufen Waffen zu erwerben.
Beate Klarsfeld ohrfeigte den Kanzler Kurt Georg Kiesinger. Das war ein gewaltsamer Angriff auf einen politischen Amtsträger. Die Merkmale dieser Aktion unterschieden sich aber deutlich von den Angriffen, von denen wir heute so gehäuft erfahren müssen. Frau Klarsfeld zeigte Gesicht und trat dem Kanzler als klar erkennbare Einzelperson mutig gegenüber und setzte sich auch der unmittelbaren Reaktion des Opfers aus.
Die Angreifer auf kommunale Amtsträger über die am Samstag in der FR berichtet wurde, zeigen alle kein Gesicht und konfrontieren sich nicht mit der emotionalen menschlichen Reaktion der Opfer, selbst wenn es sich um unbeteiligte Kinder handelt. Unmittelbare Gefühle bleiben auf beiden Seiten verborgen.
Damit ein menschliches Gehirn zu einer Einschätzung und zu einem Urteil gelangen kann, braucht es die ganzheitliche, rationale und affektive Wahrnehmung des Gegenübers. Erst in der unmittelbaren Begegnung mit dem Mitmenschen kann das Gehirn alle Informationen auf allen Ebenen verarbeiten. Aus der Tatsache der Anonymität aller beschriebenen Angriffe lässt sich umgekehrt schließen, dass die Motive der Angreifer, anders als bei Frau Klarsfeld, nicht in der einzelnen Person des Politikers, sondern in der Identität des Täters liegen. Vielleicht steckt hinter jeder Anfeindung hinter jedem Übergriff Verletzung, Kränkung und Beschämung aus denen sich Hass entwickelt hat. Dieser Hass macht sich (meistens im Austausch mit anderen) einen fiktiven Feind und schafft sich Projektionen auf ein lebendes Ziel. Dabei wird die Anonymität nie durchbrochen, die Angreifer bleiben fast immer unsichtbar.
Beate Klarsfeld steht für eine Zeit in unserer Republik als eine tiefe Auseinandersetzung mit der Geschichte, mit Schuld und Verstrickung stattfand. Die Jungen provozierten die Alten zur Stellungnahme. Die Eltern sollten sprechen und das Schweigen brechen und die Geschichten über Angst, Verletzung, Kränkung, Beschämung und Gewalt erzählen. Das Erzählen von Geschichten war damals heilsam für sehr viele Familien und machte die Demokratie stark. Willy Brandt hat Kurt Georg Kiesinger abgelöst und mehr Demokratie gewagt. Die Stärke der Demokratie kommt von der Ich Stärke der Staatsbürger.
Den gekränkten Identitäten ist heute mit den digitalen Netzwerken ein hocheffizientes Medium in die Hand gegeben in der anonymer feiger Hass höchste Wirksamkeit entfalten kann. Dem steht in der Gesellschaft heute kaum eine Kraft gegenüber, die den Zusammenhalt wirksam fördert. Die häufigen Angriffe treffen unser Staatswesen aber an einer sehr empfindlichen Stelle. Ohne die Bereitschaft zur Übernahme kommunaler politischer Ehrenämter kann die Demokratie nicht überleben. Kirchen, Vereine und Verbände haben nur wenig Zulauf und ringen um die Bereitschaft zur Übernahme von Ehrenamt. Die eindimensionalen Plattformen und digitalen Gesprächsforen können den ganzheitlichen menschlichen Umgang aber nicht ersetzen, sondern bleiben in der demokratischen Wirksamkeit defizitär.
Menschen denen die direkte rationale und affektive Begegnung mit der persönlichen Geschichte eines Mitmenschen widerfährt, werden davon nicht unbeeindruckt bleiben. Vielleicht wird der eine oder andere angeregt seine eigene Geschichte zu bedenken und beginnen davon ehrlich zu erzählen. Aus dem gemeinsamen Erinnern und Erzählen entsteht gesellschaftlicher Zusammenhalt und die demokratische Kompetenz wird gestärkt. Kindern erzählt man Märchen, an denen sich ihre moralische Urteilsfähigkeit schult. Die Demokratie braucht offene Gesprächsforen mit direkter persönlicher Begegnung, in denen über alle sozialen Schichten hinweg ein Austausch von Geschichten über individuelle Lebenskurven stattfindet. Diese individuell sehr ernst zu nehmenden Erzählungen bilden die Selbstvergewisserung eines Gemeinwesens und einer demokratischen Gesellschaft. Vielleicht können sich dann so bei noch mehr Menschen die grundlegenden staatsbürgerlichen Kompetenzen herausbilden, wie Mut, Offenheit, Toleranz, Differenzierungsfähigkeit und Solidarität.
Die Schüsse auf das Büro des SPD-Abgeordneten Karamba Diaby aus Halle sind zutiefst verabscheuungswürdig und zeigen erneut das schlimme Ausmaß rechtsradikaler Gewalt in dieser Republik. Die Schüsse auf Diaby sind auch gleichzeitig gegen die Demokratie in diesem Land gerichtet. Auch ich frage mich, was noch alles geschehen muss, bis endlich Konsequenzen gezogen werden und durch Polizei und Justiz auch gegen jede Form von Gewalt konsequent vorgegangen wird. Es ist immer dasselbe Muster: Zuerst wird verbale Gewalt angewandt und dann kommt es zu Mordanschlägen wie jetzt wieder in Halle. Diejenigen, die daran erinnern, dass das alles schon einmal dagewesen ist, nämlich in der Weimarer Republik, haben vollkommen recht. Die politische Gewalt hierzulande droht eine Eigendynamik zu entwickeln und bedroht das staatliche Gewaltmonopol. Die Bundesrepublik als wehrhafte Demokratie darf sich auf keinen Fall an die Meldungen, wie die neueste aus Halle, gewöhnen. Wer die Gewalt hinnimmt und dazu schweigt, macht sich mitschuldig. Polizei und Justiz sind gefordert, konsequent gegen Rechts vorzugehen. Sobald nach einem derartigen Ereignis wenige Wochen vergangen sind und die Vorfälle aus den Medien sind, spricht kaum noch einer über die rechte Kriminalität. Der rechte Terror verlangt endlich eine konsequente Antwort der demokratischen Institutionen. Es mutet schon manchmal gespenstisch an, wie die politische Kriminalität voranschreitet. Wir sind alle dazu aufgerufen, insbesondere schon bei der Verrohung der Sprache, ein eindeutiges Nein auszusprechen. Nie wieder, das gilt auch heute vielleicht noch viel mehr als bei der Entstehung der Bundesrepublik. Wieder einmal könnte der Satz aus Paul Celans Todesfuge „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ sich bewahrheiten.