Antisemitismus-Debatte: Netanjahus langer Arm

Vor kurzem erst nahm die aktuelle Regierung Israels unter Premierminister Banjamin Netanjahu Anlauf zu einem weiteren völkerrechtswidrigen Projekt: der Annexion des Westjordanlandes. Dafür schlug Netanjahu international scharfe Kritik entgegen. Doch was ist, wenn wir einen Israeli kritisieren, der diese Linie stützt? Kann das antisemitisch sein? Kommt immer drauf an, wie man diese Kritik vorträgt. Darum geht es in einem Interview, das Bascha Mika mit Micha Brumlik geführt hat, Professor em. in Erziehungswissenschaften  („Eine neue Form des McCarthyismus“). Es geht unter anderem um einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von 80 inllektuellen Menschen aus Deutschland und Israel. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt hat darauf reagiert („Die Gesellschaft ist infiziert mit Antisemitismus“) und empfiehlt, verbal abzurüsten, und der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein (CDU) konstatiert, die Gesellschaft sei infiziert mit Antisemitismus.

Die Auseinandersetzung ist also in vollem Gang. Leider geht es dabei vor allem um Definitionen und um die Frage: Wer bestimmt, was Antisemitismus ist? Die politischen Projekte Netanjahus, überhaupt die Diskussion über die Situation in Israel und im Nahen Osten, geraten dabei aus dem Fokus. Es geht auch um die Organisation BDS, die unter anderem zum Boykott israelischer Waren aufruft. In Deutschland wird es immer schwieriger, Räumlichkeiten für Veranstaltungen zu finden, die sich kritisch mit dieser Politik auseinandersetzen. Darüber haben wir auch hier im FR-Blog schon mehrfach diskutiert (zuletzt hier). So ist wohl auch zu verstehen, warum die Überschrift des offenen Briefs lautet: „Eine Stimmung der Brandmarkung und Angst“

fr-debatteNetanjahus langer Arm

Zunächst gebührt der FR-Redaktion Dank, dass sie ihre ehemalige Chefredakteurin Bascha Mika mit einem Interview zu Wort kommen lässt. Und zwar mit einem wohltuend sachlichen und informativen Gespräch, das sie mit Micha Brumlik geführt hat, einem der Unterzeichner des inzwischen sehr kontrovers diskutierten offenen Briefes an Bundeskanzlerin Angela Merkel. Als einer der Mit-Unterzeichner kann ich Brumliks zu Gesprächsbeginn geäußerte Erfahrung bestätigen, bisher nur zustimmende Reaktionen erhalten zu haben. Das betrifft sowohl Journalisten als auch BürgerInnen, die sich seit Jahren im Rahmen von Seminaren und Studienreisen der politischen Bildung mit dem Thema israelisch-palästinensischer Konflikt beschäftigen.
Genau das sollte in der Debatte künftig mehr Beachtung finden: Die offensichtliche Tatsache, dass viel mehr politisch Interessierte hierzulande die in dem offenen Brief angesprochenen Problematiken und Erwartungen an die Bundesregierung teilen, als man zunächst glauben mag. In diesem Kontext wären sicherlich die Resultate einer repräsentativen Umfrage spannend, die wissenschaftlich fundiert und differenziert aktuelle Einstellungen und Meinungen in der Bevölkerung z. B. zum Israel-bezogenen Antisemitismus erheben würde. Zu recht weist Micha Brumlik u.a. auf das sehr fragwürdige dritte Kriterium der IHRA-Antisemitismus-Definition hin (Anlegen doppelter Standards). Ebenso wichtig ist sein Hinweis auf die eigentliche Ursache des offenen Briefes, nämlich das unverständliche und viele empörende Urteil des Berliner Kammergerichts im juristischen Streit R. Bernstein gegen A.Sahlicar zu Lasten Bernsteins. Ob dieses Urteil Bestand haben wird, dürfte die Gerichtsverhandlung in der nächsten Instanz zeigen.
Schließlich rückt Brumlik die dubiose Rolle des hierzulande nicht nur publizistisch agierenden Mitarbeiters der Jerusalemer Regierung, Shalicar in den Vordergrund. Das ist umso wichtiger, als die Kritiker der offenen Briefes sich meines Erachtens zu einseitig auf die Person des Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung, Felix Klein fixieren und ihn glauben verteidigen zu müssen, was zweifellos ihr gutes Recht ist. Dabei gerät Shalicar aus dem Blickfeld. Zu denken geben sollte jedenfalls, dass dieser in Göttingen geborene und Berlin aufgewachsene Autor und Aktivist lt. Interview nicht nur den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad berät, sondern in seiner letzten Publikation unbescholtene Bürger wie R. Bernstein auf üble Weise verleumdet hat. Wes Geistes Kind Herr Shalicar im übrigen ist, erschließt sich, wenn man einmal auf seine Facebook-Seite schaut. Vor diesem Hintergrund habe ich vor fast zwei Monaten einem Pressetext in der Angelegenheit die Überschrift “Der lange Arm Netanyahus in Deutschland und die Berliner Justiz“ gegeben.

Rainer Ratmann, Hünstetten

fr-debatteEin völkerrechtswidriges Besatzungsregime

Micha Brumlik hat in der FR am 3. August vor einem neuen „McCarthyismus“ gewarnt. Inzwischen werde ziemlich systematisch gegen Aktivitäten von Menschen und Gruppen vorgegangen, die das israelische Besatzungsregime in Palästina und die israelische Politik kritisierten. Meron Mendel hat dies am 13.8. als dubioses Geraune abgetan und aufgefordert, „rhetorisch abzurüsten“. Nun mag man über den Begriff streiten. Aber die Vorgänge, auf den er sich bezieht, sind durchaus reell. Mendel bleibt in dieser Hinsicht auffallend  schwammig, diffus, vom Faktischen ablenkend. Beispiel: Ruhrtriennale. Sidue sollte durch den afrikanischen Gelehrten Achille Mbembe eröffnet werden. Die Veranstalter waren deswegen durch den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein heftig attackiert worden. Mbembe, der die Einzigartigkeit des Holocaust mitnichten bestreitet, hat sich erlaubt, Vergleiche und Verbindungen zu Kolonialismus und Apartheid zu ziehen. Antisemitismus? Absurd. Es geht wohl eher um Denkverbote. Mendel scheibt nun, die Veranstaltung sei doch wegen Corona abgesagt worden. Das ist formal richtig; aber den eigentlichen Vorgang verschleiert er. Anderes Beispiel: Nach heftigem Druck sieht sich der Direktors des Jüdischen Museums in Berlin zu einem Rücktritt gezwungen. Regierungschef Netanjahu hatte an Kanzlerin Merkel geschrieben, gegen die Ausstellung des Museums „Welcome to Jerusalem“ 2018/19 protestiert und gefordert, die Unterstützung der Einrichtung einzustellen. Mendel schreibt nun, der Rücktritt sei auf eine „lange Geschichte öffentlicher Fehlgriffe“ zurückzuführen. War die Jerusalem-Ausstellung ein solcher Fehlgriff? War die Intervention Netanjahus nach Meinung von Mendel also richtig? Darüber hätte man gern mehr gewusst. Stein des Anstoßes war offensichtlich, dass in der Ausstellung überhaupt die palästinensische Sichtweise auf Geschichte und Gegenwart vorkam! Dies wird dann gerne mit dem Vorwurf bezeichnet, man bediene das „palästinensische Narrativ“. Mit anderen Worten: Das Leid, die Unterdrückung und Entrechtung der Palästinenser möge doch tabu bleiben.
Dass Mendel nicht koscher argumentiert, wird an der Vielzahl der Fälle deutlich, in denen in der jüngeren Vergangenheit versucht wurde, missliebige Kritik an Israel und dem Besatzungsregime zu unterbinden bzw. zu stigmatisieren. Es ist eine Tatsache, dass versucht wurde, die Verleihung des Göttinger Friedenspreises an die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ zu torpedieren, dass ein Vortrag des Publizisten Andreas Zumach bei der Landeskirche Baden nach Falschbehauptungen, die später zurückgenommen werden mussten, abgesagt wurde, dass Veranstaltungen von Gruppen, die der Sympathie für die BDS-Bewegung verdächtigt werden, immer öfter große Schwierigkeiten haben, öffentliche Räume zu bekommen und für ihre Veranstaltungen zu werben. Die heftigen Bemühungen der Netanjahu-Regierung, die Aktivitäten von „pro-palästinensischen“ Gruppen in Israel und im Ausland rigoros zu unterbinden, sind in diesem Zusammenhang wohl kaum zu bestreiten.
Was an der Debatte auffällt, ist, dass die Verhältnisse vor Ort gar nicht mehr zur Sprache kommen. Die täglichen Schikanen, denen die Palästinenser*innen an den zahlreichen Checkpoints in den besetzten Gebieten ausgesetzt sind, die bürokratische Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die willkürlichen Enteignungen und Zwangsräumungen, die brutale Abriegelung Gazas, die Kollektivstrafen usw. usf. . Mit der geplanten Annexion eines Drittels des Westjordanlandes würde deren Lage weiter eingeengt. Ein solcher Schritt zeigt überdies, worum es regierenden israelischen Rechten geht: Ein Teil der Palästinenser*innen darf in lokalen Siedlungen bleiben, aber ohne elementare demokratische Rechte, der andere Teil soll, weil den Menschen jegliche Zukunftsperspektiven vorenthalten werden, zum Gehen gezwungen werden. Das Engagement des Antisemitismus-Beauftragten Felix Klein oder des Leiters der Bildungsstätte Anne Frank, Maron Mendel, gegen Antisemitismus und Rassismus wäre glaubwürdiger, wenn sie nicht nur abstrakt erwähnten, dass man israelische Politik durchaus kritisieren dürfe, sondern sie dies auch täten. Wo bleibt ihre Stimme gegen das völkerrechtswidrige Besatzungsregime? Wo bleibt ihre Stimme, wenn es um die elementare Menschenwürde und gleiche Rechte für die Palästinenser*innen geht?

Paul Schäfer, Köln

fr-debatteKontra für antisemitische Sprüche

Herr W. kam zu dem erfahrenen Herrn Zeuner mit der Frage, was man gegen jugendlichen Antisemitismus tun könne. Sein Sohn habe ihm berichtet, dass in seiner Schule als Schimpfwort „Du Jude!“ an der Tagesordnung sei, dass es beinahe bei jeder Streiterei gebraucht werde. Möglicherweise sei es einmal angesichts des arroganten Verhaltens einiger Mitschüler jüdischer Religionszugehörigkeit dort aufgekommen und habe sich dann festgesetzt.
Darauf wusste Herr Zeuner zunächst keine Antwort, versprach jedoch, jemanden zu konsultieren, der täglich mit dem Thema sich befasse und der sich häufig öffentlich dazu geäußert habe, Herrn K.
Es sei völlig klar, schrieb ihm Herr K., dass wir auch diesen Antisemitismus, der in der Mitte der Gesellschaft wurzele und sogar für das Bildungsbürgertum unangenehm sein dürfte, bekämpfen müssten. Der Staat allein könne es nicht richten, das Umfeld müssw wachsam sein, gerade auch das schulische. Bei diskriminierenden und antisemitischen Sprüchen müsse es Kontra geben. Der Mitschüler, dem antisemitische Beleidigungen zu Ohren kämen bzw. der Kenntnis davon habe, solle seinen Schulleiter davon unterrichten. Dieser mache dann eine Anzeige bei der Polizei, die der Sache nachgehen werde.
Herr Zeuner teilte dem Herrn W. diese Antwort des Experten K. mit, doch zeigte sich jener damit nicht zufrieden: „Bekämpft man so den jugendlichen Antisemitismus, mit Polizei und Strafgesetzbuches, statt mit pädagogischen Mitteln? Mit seinem Sohn führte Herr W. ein längeres Gespräch über den Gebrauch von Schimpfwörtern bei Streitigkeiten, wobei er zwischen antisemitischen und anderen zu unterscheiden wusste. So riet er seinem Sohn schließlich, in vergleichbaren Fällen zu sagen: „Du Arschloch!“

Hans Wedel, Frankfurt

fr-debatteDie IHRA-Definition dient Rechtsgerichteten als Waffe

Zu den faktischen Fehlern von Bascha Mika und Mcha Brumlik und den „Richtstellungen“ Dr. Mendels: IHRA-Kritik: Wenn Brumlik hier etwas vorzuwerfen ist, dann weniger, dass er die IHRA-Kriterien nicht vollständig, oder falsch gewichtet, wiedergibt. Er unterlässt es, auf die grundsätzliche Fragwürdigkeit der IHRA-Antisemitismus-Definition hinzuweisen. Kenneth S. Stern, führend beteiligt am Entwurf der IHRA-Definition, beklagt, dass diese von politisch rechtsgerichteten Juden als Waffe zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit eingesetzt wird. Peter Ullrich hat eine ausführliche Analyse zur praktischen Tauglichkeit der IHRA-Definition vorgelegt. All das muss man nicht teilen. Man kann und sollte es aber auch nicht ignorieren.
Brumliks Persilschein für BDS: Meron Mendel: Omar Barghouti zum Beispiel, Gründungsmitglied und einer der prominentesten BDS-Vertreter, schloss 2011 ausdrücklich aus, die BDS-Forderungen auf den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten zu reduzieren. Als Quelle nannte Dr. Mendel nach Rückfrage ein (google-)Buch von Tikva Honig-Parnass (The False Prophets of Peace: Liberal Zionism and the Struggle for Palestine S. 211).
Barghouti wird mit der Aussage zitiert, der Kampf um Menschenrechte ist für BDS nicht zu Ende, wenn sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückgezogen haben sollte und der diskriminierende Status der Palästinenser in Israel trotzdem andauert. Nämliches beanspruchen auch die Israelis, wenn Juden jenseits ihrer Staatsgrenzen Diskriminierung erfahren. Solange keine doppelten Standards gelten, sollte es hier kein Problem geben. Dr. Mendel macht daraus eine territoriale Forderung von BDS, bezogen auf das Staatsgebiet Israels in den Grenzen von 1967. Das dem Direktor einer Bildungseinrichtung derartige Fehlleistungen unterlaufen, kennzeichnet das Debattenklima, wenn es um BDS geht.
Bascha Mika: Ruhrtriennale-Mbembe, Jüdisches Museum, Bernstein-Shalikar – Alles falsch. Es geht um ein Interview und nicht um einen wissenschaftlichen Text, von dem man explizitere und ausführlichere Aussagen erwarten könnte. Mir scheint die Aussage klar: Der Bundestagsbeschluss hat die genannten Ereignisse begünstigt, wenngleich sie nicht monokausal durch ihn zu erklären sind. Sehr viel vordergründiger als Herr Dr. Mendel kann man an dieser Stelle nicht argumentieren: Mbembe hätte also auf der Ruhrtriennale ohne Corona auftreten können? Yossi Bartal, Mitarbeiter des jüdischen Museums Berlin, litt an Wahrnehmungsstörungen, als er im Zusammenhang mit der Entlassung von Museumsdirektor Prof. Schäfer feststellte „ich erlebe ich so, dass jede grundlegende Kritik an den Verhältnissen in Israel/Palästina ausgeschlossen oder gar kriminalisiert wird“?3 Im Fall Shalicar/ Bernsten geht es um einen „privaten Rechtsstreit“ und nicht auch um den Einsatz des Antisemitismus-Vorwurf als Waffe um einen missliebigen Israelkritiker aus der Öffentlichkeit zu mobben? Zur Unterstützung der Lesereise Shalicars übernimmt Mendel ungeprüft die Version von Felix Klein.
Hier ergibt die Fakten- und Indizienlage: Erstens: Die von Klein angeführte Veranstaltungsreihe („Antisemitismus und was man dagegen tun kann“) der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), auf der Shalicar aufgetreten sein soll, hat es offensichtlich nicht gegeben. Es finden sich dazu keine Spuren im Internet. Zweitens: In der fraglichen Zeit (vor und nach Mai 2019) sind keine Veranstaltungen mit Shalicar bekannt, außer Buchvorstellungen. Drittens: Über die Unterstützung Shalicars aus Bundesmitteln wird seit über einem Jahr gestritten und berichtet. Bisher war Felix Klein nicht in der Lage die offenen Fragen und Widersprüche aufzuklären. Wer vor diesem Hintergrund mit der Behauptung operiert, der Bund habe die Lesereise Shalicars nicht unterstützt, ist nicht unabhängig, um das Mindeste zu sagen.
Bascha Mika und Micha Brumlik als Verschwörungs-Ideologen: Welche Belege Bascha Mika dafür hat, dass Shalicar Beziehungen zum Mossad hat ist unbekannt. Dass die Israelische Regierung Einfluss nimmt auf die deutsche Öffentlichkeit ohne dass transparent ist, durch wen und über welche Strukturen, ist eine Binse. Dazu bedarf es keines Raunens. Der Hinweis, dass irgendein Israelfreund etwas mit israelischen Regierungsstellen zu tun haben könnte, wird im Informationskrieg zu Nahost gerne reflexartig als Verschwörungskonstrukt abgetan. Diese Taktik wendet Dr. Mendel hier an. Dass Shalicar nur als freischwebender Publizist ohne Rückbindung zu israelischen Arbeitgebern und Institutionen unterwegs ist, obwohl er noch ein öffentliches Amt inne hat, wird man nicht einmal auf einem Kindergeburtstag unters Publikum bringen können. Zweitrangig ist, ob und wie der Mossad dabei involviert.
Hier gilt, die Begründung, mit der vom Presserat Antisemitismus-Unterstellungen („Affinität zu antisemitischen Stereotypen“) gegen einen Bericht des SPIEGEL zur Israel-Lobby abgewiesen wurden: Der SPIEGEL-Bericht reflektiere ein „differenziertes Rechercheergebnis“ und sei „ausreichend tatsachenbasiert“.4 Argumente die unvermeidlicherweise eine assoziative Nähe zu Verschwörungskonstrukten haben, sind an diesem faktenbasierten Maßstab zu messen.
Dr. Mendel versucht sich mit Hilfe seiner Oma in die Rolle eines Vermittlers zu spielen, der zur Versachlichung der Debatte beizutragen vorgibt. Als Direktor einer Bildungseinrichtung würde ihm diese Rolle durchaus gut zu Gesichte stehen. Damit er sie einnehmen kann, muss – so wie es aussieht – allerdings noch ein bisschen etwas passieren.

Helmut Suttor, Frankfurt

fr-debatteIntellektuelle Unredlichkeit

Dass der Antisemitismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, steht außer Zweifel. Er war eigentlich auch nie weg. In Zeiten eines als Bedrohung empfundenen tiefgreifenden gesellschaftlich-ökonomischen Wandels tritt er nur offener in Erscheinung. Dass wir uns – politisch und wissenschaftlich – mit seinen Dimensionen, Ursachen und gesellschaftlichen Wirkungen befassen müssen, steht deshalb ebenso außer Zweifel. In diesem Kontext Meinungsverschiedenheiten auszutragen mit offenen oder verborgenen Antisemitismusvorwürfen ist dabei nicht zielführend.
Die These des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Herrn Klein (CDU), ,,Der linksliberale Antisemitismus“ sei ,,sehr subtil (…). Oft sei er ,,eine Umweg-Kommunikation: Man greift Israel an, obwohl man eigentlich Juden meint.“, ist ein Beispiel ausgesprochener intellektueller Unredlichkeit. Folgt man diesem Argument, würden sich Kritiker konkreter israelischer Politik dem Verdacht des Antisemitismus aussetzen, ohne Chance auf seine Entkräftung: Das Ende eines rationalen Diskurses durch moralischen K.o. vor der ,,ersten Runde“.
Herr Klein möchte offensichtlich auch nicht darauf verzichten, im Sinne der ,,Ausgewogenheit“ den sog. linken Antisemitismus mit dem rechten und islamistischen gleichzustellen. Dieser, bei bürgerlichen PolitikerInnen, häufig auftretende ,,Rechts – Links – Reflex“ mag zwar der eigenen Psychohygiene dienen, in der Sache ist er aber eher dazu angetan, den hassgesteuerten, oft gewalttätigen Antisemitismus von rechts (90 % aller antisemitischer Straftaten) zu relativieren und so zu verharmlosen.
Es ist nicht zu leugnen: Manche, sich politisch links Einordnende, haben ein problematisches, teilweise auf Geschichtsvergessenheit beruhendes Verhältnis zum israelischen Staat. In die Diskussion, ob es sich dabei schon um Antisemitismus handelt oder eher doch nicht, kann man gerne Zeit und Kraft investieren. Der offene, kriminelle und gefährliche Antisemitismus der extremen Rechten und der nicht minder gefährliche Alltagsantisemitismus gerät so aber aus dem Focus.
Durch den Versuch, bei politischen Gegnern oder bei politisch anders Denkenden irgendwelche Hinweise zu finden, mit denen man sie in die Nähe von Antisemiten rücken kann, gerät der – von Klein geforderte – ,,Kampf gegen Antisemitismus“ in Gefahr, zur akademischen Debatte zu verkommen.
Übrigens: Auf der letzten großen Demonstration (14 000 Teilnehmer) in meiner Heimatstadt gegen den Aufmarsch von Anhängern der Holocaustleugnerin Haverbeck im Nov. 2019 war das gesamte linke Spektrum vertreten. Die CDU hat man vergebens gesucht.

Hans Herbert Schürmann, Bielefeld

fr-debatteDie Wahrnehmung der Realität in Israel wird verzerrt

Micha Brumlik fordert in dem Interview am 4. August dazu auf, dass “sich die Gesellschaft überlegt, wo Israelkritik illegitim ist und wo nicht.“ Darum setzt er sich mit dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, auseinander. Dieser will Ausprägungen des Antisemitismus bekämpfen. Das tut er auf der Basis des Beschlusses des Bundestags 2019, in dem der BDS als antisemitisch bezeichnet wurde. Der Beschluss bezieht sich auf die Arbeitsdefinition der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance) von 2016. Dort heißt es: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Diese Definition wird ergänzt durch Beispiele, die mit folgendem Text eingeleitet werden: „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden….“
Der kursive Satz ist aber in der Fassung des Bundestagsbeschlusses weggelassen worden. Warum? Dieser Satz will als Warnung verstanden werden an alle, die eine Kritik an der Politik Israels als antisemitisch bezeichnen wollen. Ohne diesen Satz kann eine Kritik an Israel viel leichter als antisemitisch delegitimiert werden. Aleida Assmann sieht darin eine „Verengung der Meinungsfreiheit“.
Die rechtspopulistische Regierung von Benjamin Netanjahu unternimmt besondere Anstrengungen, um eine Kritik an ihrer Politik gegenüber den Palästinensern zu delegitimieren. Diesem Ziel dient der Antisemitismusvorwurf. Die Wahrnehmung der Realität im Staat Israel wird damit behindert. Die Aufklärungsarbeit von NGOs, z.B. B’Ttselem, wird diffamiert.
Wer sich als Deutsche/r , Nicht-Jude oder Jude, für eine lebenswerte Zukunft aller Bürgerinnen und Bürger im Staat Israel einsetzen will, der sollte sich nicht durch Antisemitismusvorwürfe ablenken lassen und dennoch den Blick auf die Realität in Israel richten, so schwer es auch fällt. Das Buch des jüdischen Philosophen Omri Boehm „Israel – eine Utopie“ ist dabei sehr hilfreich.

Jürgen Leipner, Dinslaken

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19 Kommentare zu “Antisemitismus-Debatte: Netanjahus langer Arm

  1. Der „Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“ verfügt bis heute, zwei Jahre nach seiner Berufung, über keine eigene Homepage. Lediglich auf der Seite des Bundesinnenministeriums gibt es einen kurz gefassten Hinweis auf das Amt und die Person von Dr. Felix Klein. Zusätzlich existiert eine noch knappere Erwähnung auf der Internetseite der Bundesregierung („Ein starkes Signal für Vielfalt und Toleranz“). Wer sich auf die Suche nach offiziellem Material über den realen Antisemitismus in Deutschland und speziell nach dessen Beziehungen zu politischen Gruppen und Parteien begibt, findet nichts.

    Stattdessen macht Felix Klein Schlagzeilen auf anderen Terrains. Er kritisiert den Leiter der mittlerweile wegen Corona abgesagten Ruhrtriennale, Achille Mbembe. Denn der wirft dem Staat Israel Kolonialismus und Apartheid in den Palästinensergebieten vor. Auch die Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) ist regelmäßig Zielscheibe seiner Kritik. Mir ist nicht bekannt geworden, dass Mbembe und BDS das Existenzrecht Israels infrage stellten oder Israels Bürger rassistisch diffamierten und bedrohten. Vielmehr weiß ich von jüdischen Intellektuellen in Israel, den USA und in Europa, dass sie Benjamin Netanyahu vorwerfen, die Zukunft Israels zu verspielen und jegliche Kritik an seiner Person und seiner Politik als antisemitisch zu verunglimpfen.
    Und ich frage mich: Wie steht Deutschland am Tag X da, wenn Israel (unter dem Druck der Veränderungen in der Region) einen echten Frieden mit den Palästinensern schließen muss? Wenn Israel Partner braucht, um das fragile Gebilde zu stabilisieren. Ist ein Land wie die Bundesrepublik dann nicht unglaubwürdig, weil es sich stets um notwendige Antworten gedrückt hat? Wird es dann gezwungen sein, mit einem Federstrich die bisherigen Abhängigkeiten einiger seiner Institutionen von der bisherigen israelischen Regierungspartei zu beenden? Wird dann die Leitung des angesehenen Jüdischen Museums in Berlin wieder in fachliche Hände gelegt? Und ich will mir gar nicht vorstellen, welche erbärmliche Figur Felix Klein dann wird abgeben müssen.

    Als Adressat von Droh- und Hassbriefen aus dem rechten Milieu, die mich mit der „Holocaust-Lüge“ konfrontieren und mir vorrechnen, dass die Zahl von sechs Millionen Ermordeten nicht stimmen könne, weil die technischen Vorrichtungen zur Massenvernichtung in Auschwitz und anderswo gar nicht bestanden hätten, wünsche ich mir vom Antisemitismusbeauftragten Unterstützung gegen die Nachfolger der Mörder. Speziell wünsche ich mir von ihm, die Bestimmungen des § 130 Strafgesetzbuch in puncto Volksverhetzung präziser zu fassen. Denn immer noch können sich viele Neonazis mit Verweis auf die Meinungsfreiheit einem Verfahren entziehen.

    Und nicht zuletzt erwarte ich vom Antisemitismusbeauftragten, dass sämtliche Verbindungen innerhalb der Neonazi-Szene öffentlich gemacht werden. Von der AfD bis zu den Identitären, von Kameradschaften bis zu den Burschenschaften, von Publikationen wie Junge Freiheit bis zu Compact und Sezession. Diese Liste ist noch längst nicht vollständig. Aber ohne Aufklärung gibt es kein demokratisches Bewusstsein. Und ohne ein solches ist die Gefahr des Antisemitismus nicht zu bannen.

  2. Ich nehme an das ich zu dem was ich jetzt schreibe nicht nur freundliche Kommentare bekommen werde. Bisher habe ich mich aus solchen Diskussionen herausgehalten weil ich auch von Nahostpolitik nicht viel weiß. Außerdem sind Juden für mich Menschen wie andere auch und vor 80 Jahren habe ich noch lange nicht gelebt. Letztes Jahr im Sommer war ich für ein paar Tage in Wien. Ich bin dort in der nähe des Stephansdoms in der Altstadt mit meiner Partnerin spazieren gegangen. Auf einmal waren wir in einer Straße in der nur noch schwarz gekleidete Männer mit schwarzem Hut anzutreffen waren. Ich hatte den Eindruck das die uns alle feindselig beobachtet haben. Zu meiner Partnerin sagte ich damals: Komm lass uns von hier verschwinden. Das war bisher mein einziger Kontakt mit orthodoxen Juden in meinem Leben. Seit damals frage ich mich :Wollen Juden angesehen werden wie normale Menschen?

  3. @ hans

    Einer größeren Anzahl von orthodoxen Juden zu begegnungen, ist zunächst etwas gewöhnungsbedürftig. In New York zum Beispiel ist das im Straßenbild normal, z.B. in Manhattan. Viele Orthodoxe, etwa in Jerusalem, leben ziemlich ärmlich und bettelnde Kinder gehören in manchen Stadtteilen zum Straßenbild.
    Das nur mal als Eindruck von Auslandserfahrungen.

    Zur Antisemitismus-Debatte sage ich im Augenblick nichts mehr. Ich habe mir vor allem hier in einem älteren Blog schon die „Finger wund geschrieben“. Die Vorwürfe gegenüber Kritik an Israel-Politik und das sich Einschießen auf den BDS, es sind immer die gleichen.

  4. Meron Mendel, der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, will die Debatte um Antisemitismus versachlichen und fordert in der FR: „Alle Beteiligten sollten rhetorisch abrüsten“. Der Mann hat Recht. Das Thema taugt wirklich nicht zur persönlichen Profilierung. Und was tut er zur rhetorischen Abrüstung? Er rüstet semantisch und emotional auf! Statt sich um kritische Aufklärung mit Belegen zu bemühen, hört er das Raunen im Märchenwald.
    Der wissenschaftlichen Abwertung seines geschätzten Doktorvaters Micha Brumlik zu Beginn, korrespondiert zum Schluss die persönliche Aufwertung der Oma mit ihren Lebensweisheiten. Da liegt es nahe zu psychologisieren. Das überlasse ich dem Sachwalter.
    Der analysiert und deutet die zunächst edlen Motive von 60 Intellektuellen, die aber beim Schreiben eines offenen Briefes an die Kanzlerin untergegangen seien, um mit immer neuen Zuspitzungen Aufmerksamkeit zu erzeugen -bis hin zum Krawall. Beim tiefenStochern in den Motivationen der 60 Intellektuellen, konnte er keine intellektuelle Aufrichtigkeit finden.
    Eine Lichtgestalt an Aufrichtigkeit ist für ihn dagegen der in dem kontroversen Brief von den 60 Unterzeichner*innen kritisierte Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein.
    Dann wirft Dr. Mendel seinem Doktorvater Prof. Brumlik viele faktische Fehler vor. Das sind meist Verkürzungen in den knappen Antworten eines Interviews (von Bascha Mika, FR) und Haarspaltereien ohne inhaltliche Substanz. So nenne Brumlik nur 3 der 7 Kriterien der IHRA-Antisemitismus-Definition. Er stelle der BDS-Bewegung einen ‚Persilschein aus wenn er sagt „So weit ich mich mit den BDS-Beschlüssen vertraut gemacht habe, geht es dabei … ausschließlich um die besetzten Gebiete von 1967.“ Dr.Mendel führt als Beweis, dass es BDS um die Grenzen von 1948 gehe und damit die Existenz Israels geleugnet werde, ein fast 10 Jahre altes Zitat von Omar Barghouti an. Das ist nicht die offizielle Position von BDS. Die Kampagne wird von Brumlik nicht unterstützt, sondern deren Verleumdung mit dem inflationären Antisemitismusvorwurf zurückgewiesen.
    Herr Dr. Mendel hat sich zum Mediator in einem Streit berufen gefühlt, den er aber nicht versachlicht, sondern mit allgemeinen Schwarz-Weiß-Schemata auflädt und durch biografische Bezüge emotionalisiert. Die Fronten sind nun schärfer, wenn auch nicht klarer.
    Nachbemerkung
    (Es gibt am Rande jeder Bewegung Leute, die provokativ zuspitzen oder einfache Parolen nachplappern. Erfreulicherweise gab es am 15.07. in Frankfurt eine Demonstration gegen die angekündigte Annexion. Weniger erfreulich war der eingängige Slogan: „From the river to the sea – Palestine must be free.“ Fast alle Redebeiträge bezogen sich auf das Völkerrecht und die Koexistenz von zwei Staaten. Ich fragte ein paar junge Leute, ob das nicht ein Widerspruch sei. Sie verstanden nicht. Ich musste erklären, dass Israel zwischen „river and sea“ liegt und ihr Stakkato das bedrohlich leugnet.). Staunen!

  5. Meron Mendel fordert, verbal abzurüsten. – Eine Aufforderung, die ich an den „Antisemtismus“-Beauftragten der Bundesregierung Felix Klein gerichtet sehen möchte, der jetzt einen besonders „subtilen linksliberalen Antisemitismus“ erfunden hat. – Mit wem eigentlich möchte dieser Beauftragte den Antisemitismus bekämpfen; welche Personen und gesellschaftlichen Gruppen hält er im Namen der Bundesregierung dafür geeignet?
    „Linker Antisemitismus“ – hier treffen sich Meron Mendel und Felix Klein – diffamiert Linke, die schon in den 50ziger Jahren des letzten Jahrhunderts „Gedenkstättenfahrten“ nach Auschwitz unter den (antikommunistischen) Bedingungen des Kalten Krieges organisierten. Es waren in der Mehrzahl Linke, die Faschismus, Judenverfolgung, das Nazi-KZ-System in dieser Zeit thematisierten und dem Vergessen entreißen wollten, wo die CDU mit primitiv-antikommunistischen Mitteln z.B. die Aufführung von Bertolt Brecht-Stücken mit antifaschistischen Inhalten in Frankfurt am Main und anderswo zu verhindern suchten.
    Die politisch-pädagogischen Konzepte zur Bekämpfung des herrschenden Antisemitismus sind noch nicht verfasst bzw. nicht auf der Höhe der Zeit. Auch die Arbeit am Begriff ist sehr unzureichend. – Sollte es den Beteiligten nicht darum gehen? – Ich staune darüber, was alles antisemitisch sein soll! – Und natürlich muss auch ein deutscher Linker Kritik an Israel üben können: Das Elend des „Gaza-Streifens“ hat mit der Politik des Staates Israel zu tun. Große Teile des Staatsvolkes Israels werden als nicht dazugehörig definiert. Es gibt ein Palästinenser-Problem. Die Besatzungsgebiete sind nicht hinnehmbar. Der Staat Israel hat massive Schwierigkeiten mit seinen Nachbarn. Und die israelische Gesellschaft ist auch nur eine harte Klassengesellschaft, die zudem stark militarisiert ist und zuviel Geld für Rüstung verausgabt. – Felix Klein dazu: „Man greift Israel an, obwohl man eigentlich Juden meint“ – so ein Schmarrn!

  6. Fritz Klein über den „subtilen“ linksliberalen Antisemitismus: „Man greift Israel an, obwohl man eigentlich Juden meint“. Woher will er das „eigentlich“ wissen? Und ist jemand ein Antisemit, der das verfestigte Selbstverständnis, Israel sei der Staat der Juden – und nicht etwa der seiner Staatsbürger für völkisch und undemokratisch hält. Immerhin werden damit die Araber zu Einwohnern zweiter Klasse, von den Bewohnern der besetzten Gebiete garnicht zureden.
    Israels als jüdischer Staat ist zwar historische Realität und darf nicht von außen angerührt werden – aber Israel zerlegt sich meiner Ansicht nach von innen her. Die Zwei Staatenlösung war mal eine Hoffnung der 80ger Jahre(Ministerpräsident Rabin!) war von der israelischen Mehrheitsgesellschaft aber nie gewollt und ist inzwischen völlig unrealistisch geworden schon wegen der Zersiedelung und Zerstückelung des palästinensischen Gebietes, daraus kann kein souveräner Staat mehr werden. Jetzt ist sie nur noch eine Lüge und eine fromme Selbsttäuschung der Europäer.
    Während dessen wird die Annexion der Westjordangebiete vorbereitet, die Israelische Regierung rückt immer stärker ins rechtsradikale Lager und versucht jeden als Antisemiten zu diffamieren, der ihrer völkischen, antidemokratischen und auf Annexion drängenden Politik widerspricht.
    „Genau aus diesem Grund aber sollten wir uns der Tendenz widersetzen, Israel als einen gleichsam der Kritik enthobenen Staat zu behandeln“ schreibt Omri Boehm, deutscher und israelischer Staatsbürger, in seinem Buch: „Israel – Eine Utopie“, Herrn Klein – und auch jedermann – zum Lesen empfohlen.

  7. Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich beruflich u. seit meiner Pensionierung vor 20 Jahren auch privat-aber auch das Private hat eine politische Dimension- mit dem Konflikt Israel Palästina. Das Interesse blieb ungebrochen wenn auch meist ohne Ansätze für eine, international anerkannten Standards entsprechende Lösung. Ich habe die kontroversen Debatten um das Thema, so gut es ging verfolgt , wenn auch oft genug fast verzweifelt ob der Kompliziertheit des Themas und des mir erscheinenden Stillstands in Sachen Fortschritt einer befriedigenden, humanen Lösung des Konflikts.
    Den Beitrag von Cohn Bendit, den die FR dankenswerter Weise veröffentlicht- und damit der Pressefreiheit einen großen Dienst geleistet hat-finde ich grandios in seiner Differenziertheit. Er holt damit den Diskurs zurück in die einer der Aufklärung und den Menschenrechten verpflichteten demokratischen Öffentlichkeit. Die Offenheit seiner Fragen stoßen einen Denk-und Handlungsprozess an, der den Konfliktparteien , ohne Scheuklappen, dienlich sein kann.
    Es zeugt von demokratischer Unreife, dass sein dokumentarischer Film zur Thematik der Öffentlichkeit vorenthalten wird. Es wäre nur zu begrüßen, wenn zivilgesellschaftliche Organisationen und Einzelpersonen darauf drängen würden , dass dies Filmdokument nicht weiter unter Verschluss bleibt. Ich möchte diesen Beitrag des klugen deutsch-französischen Journalisten und Politikers unbedingt sehen. Ich teile die Lösungsansätze Cohn-Bendits, wie er sie in der Fr formuliert hat und hoffe, dass sein journalistischer Beitrag in Wort und Bild/Film zum Frieden im Nahen Osten beitragen können.
    Dass Politik symbolisiert wird mit einem´“Bohren dicker Bretter“ gilt auch hier. Ein Unterbinden einer fairen und offenen Diskussion ist in diesem Zusammenhang , wie auch generell in einer gelebten Demokratie , regelrecht gefährlich für sie.

  8. Ein Minenfeld sollte man nur betreten, auch wenn man sich mit deren Erkennen und Entschärfen auskennt. Da bleibe ich doch besser als Beobachter am Rand der Diskussion über Israel-bezogenen Antisemitismus und nutze die erhellenden FR-Beiträge. Nach den scharfen Angriffen auf die Konferenz „50 Jahre israelische Besatzung“ im Ökohaus 2017 dachte ich, es wäre besser gewesen, sich von den gegendemonstrierenden Ablenkern vom Besatzungsthema (Uwe Becker, Jutta Dithfurth u.a.) das Thema BDS nicht unterjubeln zu lassen. Ein Boykott von Waren aus den 1967 besetzten Gebieten weckt überall auf der Welt die Assoziation mit dem Boykott des Apartheit-Staates Südafrika. In Deutschland aber unvermeidbar auch mit dem verbrecherischen Nazi-Slogan: „Kauft nicht bei Juden!“ Deshalb, und weil ich ungern meinen Kontrahenten einen Munitionkasten für Diffamierung zuspielen mag, schlage ich vor, speziell in Deutschland auf BDS-Sympathiebekundungen ganz zu verzichten. Dafür haben Meron Mendel und Daniel Cohn-Bendit auch die inhaltlichen Kritikpunkte (Kultur-Boykott und Boykott-Ausdehnung auf ganz Israel) genannt. Dann nämlich kann man wieder zurückkommen zum Thema Besatzung und Versuch, die Palästinenser weiter zusammen zu pferchen. Und sich fragen, wie es zu der mächtigen Welle von Antisemitismus-Unterstellungen in Deutschland gegenüber differenziert argumentierenden Links-DenkerInnen kommt. Und da geht es doch unverkennbar um einen Maulkorb für diejenigen, die engagiert für das Existenzrecht des israelischen Staates streiten, aber gerade deshalb auch gegen die sich steigernden Übergriffe und Landnahmen fanatischer Siedler und ihrer zwangsrekrutierten BesatzungssoldatInnen. Und die versuchen, diesen nach rechts gedrifteten Staat Israel zurück in das Regelwerk internationaler UN-Beschlüsse zu lotsen. Und die sich wundern, weshalb die Warnung vor der realen, aber vom Verfassungsschutz gern verschlafenen Gefahr des neonazistischen antisemitischen Terrors in Deutschland dazu missbraucht wird, zugleich die BesatzungskritikerInnen in den gleichen Antisemitismus-Sack zu stecken und drauf zu hauen.

  9. Lob für Deinen Betrag, Dani – so sauber, profund und politisch mit Perspektive habe ich schon lange keinen Betrag mehr gehört. Du wärst ein hervorragender Moderator bei einer von der EU veranstalteten Auseinandersetzung von verantwortlichen Israelis und Palästinensern. Wesentlich fand ich – Feindbilder prägen Menschen, die machen angeblich das Leben einfacher – nur Lösungen bringen sie nicht.
    Schön wäre es wenn Du Dani auch einen Beitrag zur Eroberung der Grünen durch den Pflasterstrand in Hessen leisten würdest. Die Machtübernahme der Grünen durch den Pflasterstrand. Die Aufstellung der grünen Landesliste im Frankfurter Volksbildungsheim am Eschenheimer Tor. Doch das ist eher eine (nicht unwichtige) lokale Geschichte. Bleib bei deinen Wurzeln und pflege deine Leidenschaften.

  10. Dem Antisemitismus-Beauftragten zufolge – FR am 7.8., Seite 26 – ist es feindselig, bei Leuten „eine doppelte Loyalität“ zu beobachten.
    Im Falle von Katholiken oder Täufern weltweit wäre das also christenfeindlich; bei EU-Bürgern mit zweierlei Pässen europafeindlich. Eine alleinige zu fordern, war Kern des Kampfes gegen doppelte Staatsbürgerschaft.
    Hat man den „Staat Israel als jüdisches Kollektiv verstanden“, so kann das „sich als Hass ausdrücken“, heißt es. Sollen auch Zionisten dieses Verständnisses entbehren?
    „Die Gesellschaft ist infiziert mit Antisemitismus“ – laut FR-Gespräch. Das liegt jedoch weniger an jener als an diesem. Der Vorwurf Antisemitismus hat Etwas gemein mit dem des Rassismus und des Sexismus. Sie sind allesamt längst uferlos.

  11. Nicht erst seit der Diskussion über das Grass-Gedicht 2012 beschäftigt uns Frage, inwieweit die Kritik an der schon Jahrzehnte währenden ziemlich üblen Behandlung der Palästinenser durch die israelische Regierung als antisemitisch bezeichnet werden darf. Ansatzpunkt dafür ist die internationale politische Bewegung BDS, die durch verschiedene Initiativen wie Boykott von in Palästinenserland gefertigten Waren Druck auf die israelische Regierung auszuüben versucht. Wie viele Deutsche und Israelis mit renommierten Namen unterstütze ich diese Initiativen, wozu das politische Deutschland zu feige ist. Gewundert hat mich dabei, dass zwar wenn auch wenige jüdische Mitbürger sich kritisch mit dem Verhalten der israelischen Politik auseinandersetzen, von ihren offiziellen Repräsentanten dazu aber nichts zu hören war. Das hat sich nun durch das Interview der Frankfurter Rundschau mit Herrn Neumann, Direktor der jüdischen Gemeinden in Hessen (FR Lokal v. 28.07.2010). geklärt. Er sagt, was ich zur Vermeidung von Missverständnissen wörtlich zitiere: ‚Wir haben als Landesverband der jüdischen Gemeinden keine offizielle Position. Aber als Privatmann und Jude habe ich natürlich eine Meinung. Die lautet: Unbedingte Solidarität und Verteidigungsbereitschaft für Israel, ganz egal, wer da gerade führender Politiker ist. Wir Juden in Deutschland betrachten Israel nach wie vor als unseren Zufluchtsort.‘ Das ist eine deutliche Aussage. Ich kann sie zwar schon deswegen nicht gut finden, weil sie unseren jüdischen Mitbürgern eher schaden dürfte, akzeptiere sie aber, da ich Menschen nicht nach ihrer Religion sondern nach den uns vom Grundgesetz vorgegebenen Werten beurteile. Herr Neumann sollte sich dazu allerdings zwei Fragen beantworten: Wie kann ich als Angehöriger einer friedliebenden Religion wie der jüdischen kritiklos die jahrzehntelange Unterdrückung eines ganzen Nachbarvolks billigen? und: Wie unterscheide ich mich von den vielen in Deutschland beheimateten Muslimen, die wir scharf kritisieren, wenn sie einen Präsidenten ihres Ursprungslandes bejubeln, der hunderte unschuldiger Menschen gefangen hält?

  12. zu „Die Gesellschaft ist infiziert mit Antisemitismus“ ( FR vom 07.08.2020)
    Herr W. kam zu dem erfahrenen Herrn Zeuner mit der Frage, was man gegen jugendlichen Antisemitismus tun könne. Sein Sohn habe ihm berichtet, dass in seiner Schule als Schimpfwort „Du Jude!“ an der Tagesordnung sei, dass es beinahe bei jeder Streiterei gebraucht werde. Möglicherweise sei es einmal angesichts des arroganten Verhaltens einiger Mitschüler jüdischer Religionszugehörigkeit dort aufgekommen und habe sich dann festgesetzt.
    Darauf wusste Herr Zeuner zunächst keine Antwort, versprach jedoch, jemanden zu konsultieren, der täglich mit dem Thema sich befasse und der sich häufig öffentlich dazu geäußert habe, Herrn K.
    „Es ist völlig klar“, schrieb ihm Herr K. „dass wir auch diesen Antisemitismus, der in der Mitte der Gesellschaft wurzelt und sogar für das Bildungsbürgertum unangenehm sein dürfte, bekämpfen müssen. Der Staat allein kann es nicht richten, das Umfeld muss wachsam sein, gerade auch das schulische. Bei diskriminierenden und antisemitischen Sprüchen muss es Kontra geben, und zwar so, wie ich es vor einiger Zeit schon vorgeschlagen habe. Der Mitschüler, dem antisemitische Beleidigungen zu Ohren kommen bzw. der Kenntnis davon hat, sollte seinen Schulleiter davon unterrichten. Dieser macht dann eine Anzeige bei der Polizei, die der Sache nachgehen wird.“
    Herr Zeuner teilte dem Herrn W. diese Antwort des Experten K. mit, doch zeigte sich jener damit nicht zufrieden: „Bekämpft man so den jugendlichen Antisemitismus, mit Polizei und Strafgesetzbuches, statt mit pädagogischen Mitteln?
    Mit seinem Sohn führte Herr W. ein längeres Gespräch über den Gebrauch von Schimpfwörtern bei Streitigkeiten, wobei er zwischen antisemitischen und anderen zu unterscheiden wusste. So riet er seinem Sohn schließlich , in vergleichbaren Fällen zu sagen: „Du Arschloch!“

  13. Zu den faktischen Fehlern von Bascha Mika und Micha Brumlik und den „Richtstellungen“ Dr. Mendels:
    IHRA-Kritik:
    Wenn Brumlik hier etwas vorzuwerfen ist, dann weniger, dass er die IHRA-Kriterien nicht vollständig, oder falsch gewichtet, wiedergibt. Er unterlässt es auf die grundsätzliche Fragwürdigkeit der IHRA-Antisemitismus-Definition hinzuweisen. Kenneth S. Stern, führend beteiligt am Entwurf der IHRA-Definition, beklagt, dass diese von politisch rechtsgerichteten Juden als Waffe zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit eingesetzt wird. 1 Peter Ullrich hat eine ausführliche Analyse zur praktischen Tauglichkeit der IHRA-Definition vorgelegt. 2 All das muss man nicht teilen. Man kann und sollte es aber auch nicht ignorieren.
    Brumliks Persilschein für BDS:
    Meron Mendel: Omar Barghouti zum Beispiel, Gründungsmitglied und einer der prominentesten BDS-Vertreter, schloss 2011 ausdrücklich aus, die BDS-Forderungen auf den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten zu reduzieren.
    Als Quelle nannte Dr. Mendel nach Rückfrage ein (google-)Buch von Tikva Honig-Parnass (The False Prophets of Peace: Liberal Zionism and the Struggle for Palestine S. 211).
    Barghouti wird mit der Aussage zitiert, der Kampf um Menschenrechte ist für BDS nicht zu Ende, wenn sich Israel aus den besetzten Gebieten zurückgezogen haben sollte und der diskriminierende Status der Palästinenser in Israel trotzdem andauert. Nämliches beanspruchen auch die Israelis, wenn Juden jenseits ihrer Staatsgrenzen Diskriminierung erfahren. Solange keine doppelten Standards gelten, sollte es hier kein Problem geben.
    Dr. Mendel macht daraus eine territoriale Forderung von BDS, bezogen auf das Staatsgebiet Israels in den Grenzen von 1967. Das dem Direktor einer Bildungseinrichtung derartige Fehlleistungen unterlaufen, kennzeichnet das Debattenklima, wenn es um BDS geht.
    Bascha Mika: Ruhrtriennale-Mbembe, Jüdisches Museum, Bernstein-Shalikar – Alles falsch.
    Es geht um ein Interview und nicht um einen wissenschaftlichen Text, von dem man explizitere und ausführlichere Aussagen erwarten könnte. Mir scheint die Aussage klar: Der Bundestagsbeschluss hat die genannten Ereignisse begünstigt, wenngleich sie nicht monokausal durch ihn zu erklären sind. Sehr viel vordergründiger als Herr Dr. Mendel kann man an dieser Stelle nicht argumentieren: Mbembe hätte also auf der Ruhrtriennale ohne Corona auftreten können? Yossi Bartal, Mitarbeiter des jüdischen Museums Berlin, litt an Wahrnehmungsstörungen, als er im Zusammenhang mit der Entlassung von Museumsdirektor Prof. Schäfer feststellte „ich erlebe ich so, dass jede grundlegende Kritik an den Verhältnissen in Israel/Palästina ausgeschlossen oder gar kriminalisiert wird“?3 Im Fall Shalicar/ Bernsten geht es um einen „privaten Rechtsstreit“ und nicht auch um den Einsatz des Antisemitismus-Vorwurf als Waffe um einen missliebigen Israelkritiker aus der Öffentlichkeit zu mobben? Zur Unterstützung der Lesereise Shalicars übernimmt Mendel ungeprüft die Version von Felix Klein.
    Hier ergibt die Fakten- und Indizienlage: Erstens: Die von Klein angeführte Veranstaltungsreihe („Antisemitismus und was man dagegen tun kann“) der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG), auf der Shalicar aufgetreten sein soll, hat es offensichtlich nicht gegeben. Es finden sich dazu keine Spuren im Internet. Zweitens: In der fraglichen Zeit (vor und nach Mai 2019) sind keine Veranstaltungen mit Shalicar bekannt, außer Buchvorstellungen. Drittens: Über die Unterstützung Shalicars aus Bundesmitteln wird seit über einem Jahr gestritten und berichtet. Bisher war Felix Klein nicht in der Lage die offenen Fragen und Widersprüche aufzuklären. Wer vor diesem Hintergrund mit der Behauptung operiert, der Bund habe die Lesereise Shalicars nicht unterstützt, ist nicht unabhängig, um das Mindeste zu sagen.
    Bascha Mika und Micha Brumlik als Verschwörungs-Ideologen
    Welche Belege Bascha Mika dafür hat, dass Shalicar Beziehungen zum Mossad hat ist unbekannt. Dass die Israelische Regierung Einfluss nimmt auf die deutsche Öffentlichkeit ohne dass transparent ist, durch wen und über welche Strukturen, ist eine Binse. Dazu bedarf es keines Raunens. Der Hinweis, dass irgendein Israelfreund etwas mit israelischen Regierungsstellen zu tun haben könnte, wird im Informationskrieg zu Nahost gerne reflexartig als Verschwörungskonstrukt abgetan. Diese Taktik wendet Dr. Mendel hier an. Dass Shalicar nur als freischwebender Publizist ohne Rückbindung zu israelischen Arbeitgebern und Institutionen unterwegs ist, obwohl er noch ein öffentliches Amt inne hat, wird man nicht einmal auf einem Kindergeburtstag unters Publikum bringen können. Zweitrangig ist, ob und wie der Mossad dabei involviert.
    Hier gilt, die Begründung, mit der vom Presserat Antisemitismus-Unterstellungen („Affinität zu antisemitischen Stereotypen“) gegen einen Bericht des SPIEGEL zur Israel-Lobby abgewiesen wurden: Der SPIEGEL-Bericht reflektiere ein „differenziertes Rechercheergebnis“ und sei „ausreichend tatsachenbasiert“.4 Argumente die unvermeidlicherweise eine assoziative Nähe zu Verschwörungskonstrukten haben, sind an diesem faktenbasierten Maßstab zu messen.
    Dr. Mendel versucht sich mit Hilfe seiner Oma in die Rolle eines Vermittlers zu spielen, der zur Versachlichung der Debatte beizutragen vorgibt. Als Direktor einer Bildungseinrichtung würde ihm diese Rolle durchaus gut zu Gesichte stehen. Damit er sie einnehmen kann, muss – so wie es aussieht – allerdings noch ein bisschen etwas passieren.

  14. Die FR hat jüngst eine interessante Serie von Artikeln zum Antisemitismus und der BDS-Bewegung („Boykott, Divestment and Sanctions“) abgedruckt. Zuletzt schrieb Daniel Cohn-Bendit: „Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Bibel, wir leben im Zeitalter der UNO. Das ist das Zeitalter des internationalen Rechts.“ -Wie bitte? Ausgerechnet die UNO? Kein anderes Land steht bei den Vereinten Nationen so oft am Pranger wie Israel. Der UN-Menschenrechtsrat, um das extremste Beispiel zu nennen, hat den jüdischen Staat in seinen Resolutionen häufiger verurteilt als alle anderen Länder dieser Welt zusammen. Absurd, aber wahr. Das ist nur ein Beispiel von vielen auf Ebene der UNO. Es geht darum, den Staat Israel, die einzige Demokratie im Nahe Osten, zu delegitimieren, sein Existenzrecht zu unterminieren. Und die antisemitischen Gegner Israels sind dabei sehr erfolgreich. Dies zeigt u.a. die BDS-Bewegung, die vielschichtig und dezentral ist. So können deren Verfechter selten als Antisemiten festgemacht werden, denn sie sind im Zweifel „nur“ Antizionisten. Einige fordern das Rückkehrrecht aller „Flüchtlinge“, auch das der vertriebenen Palästinenser von 1948 und deren Nachkommen. Die das für machbar halten sind keine Antisemiten?

    Wie die jüngste Debatte in der FR zeigt, ist BDS äußerst erfolgreich. Der Beschluss der Bundesregierung, der BDS als antisemitisch erklärt, ist eindeutig. Das Bekenntnis zum Staat der Juden ist in Deutschland erfreulicherweise Staatsräson. Dennoch ist der Beschluss strittig. Jeder einzelne muss überprüft werden, inwieweit er antisemitisch und/oder antizionistisch denkt und publiziert. Oder gar handelt? Der Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten (deren Kennzeichnung in der EU ebenfalls ein juristischer Erfolg der BDS-Bewegung ist) kann, muss aber nicht antisemitisch sein. Für viele NGOs ist er das nicht. Selbst Amnesty International, das ja wirklich genügend Leid und Unrecht auf dieser Welt gesehen haben, hält den Boykott für sinnvoll.

    Die akademische und juristische Debatte um BDS ist berechtigt, aber so differenziert und zweideutig, dass sie Kräfte bindet, ganz sicher im Interesse ihrer Begründer. Kräfte, die in Deutschland besser an anderer Stelle gebraucht würden. Daniel Neumann, der Direktor der Jüdischen Gemeinden in Hessen, vertritt als Privatperson und Jude eine Position, die sicher auch sein Landesverband teilt: „Unbedingte Solidarität und Verteidigungsbereitschaft für Israel, ganz egal, wer da gerade führender Politiker ist. Wir Juden in Deutschland betrachten Israel nach wie vor als unseren Zufluchtsort.“ Was ihn beunruhigt ist, dass bei einer zentralen Demo 2014 in Berlin anlässlich des Gaza-Krieges so wenige deutsche Nichtjuden teilnahmen. „Es war ein erschreckendes Armutszeugnis zu sehen, dass die Gesellschaft überhaupt nicht wahrnimmt, wie bedroht die jüdische Gemeinschaft sich in dieser Situation fühlt. Es hätte so gut getan, wenn man hier und da ein bisschen Zuspruch erhalten hätte.“ Er könnte ebenfalls bedauern, dass in Frankfurt 2018 nach offenen Angriffen von Antisemiten auf jüdische Bürger die Juden bei der dünn besetzten Kippa-Demo auf dem Römer nahezu unter sich waren. Er erwartet Engagement von den Deutschen: Solidarität mit dem Volk, das ihre Väter fast ausgerottet haben. Die jedoch hegen zu 25% antisemitische Gedanken, 41% sind der Meinung, es werde zu viel über den Holocaust geredet, viele sind der Ansicht, die Juden hätten zu viel wirtschaftliche Macht oder glauben an Verschwörungstheorien, nach denen die Juden verantwortlich seien für die meisten Kriege auf der Welt. Diese Deutschen denken antisemitisch. Aber was ist mit den anderen, auf deren Reaktion Neumann vergeblich hofft? Sie sind zumindest indifferent gegenüber dem Leid und dem Schicksal ihrer jüdischen Mitbürger und dem Staat Israel. Einige davon werden das versteckte Motto des BDS „Kauft nicht beim Juden“ dankbar aufgreifen, wenn ihnen nur eine Begründung dafür gegeben wird.

    Mit Kranzniederlegungen und Gedenkfeiern, hinter denen nur ein kleiner Teil der Deutschen steht, ist den Juden hier und in Israel nicht gedient. Was hört man nicht alles in Gesprächen zum Thema Israel? Das Existenzrecht Israels von fast allen Nachbarn nicht anerkannt? Arabische Politiker, die die Zerschlagung des Staates Israel fordern (und die Juden ins Meer treiben wollen)? Atomwaffen im Iran? Selbstmordattentate? Raketenangriffe aus Gaza? Hisbollah Waffenproduktion in Syrien? Ja, aber die Siedlungspolitik! Ja, aber die Siedlungspolitik! Ja, aber die Siedlungspolitik! Hinter dieser Kritik steckt vieles, auch viel Antisemitismus, den man öffentlich nicht äußern mag. Und niemand bedenkt, dass die Grundkonstellation im Nahen Osten auch ohne die kritikwürdige Siedungspolitik um keinen Deut anders wäre. Nur die Anhänger der BDS-Kampagne, wissen das meiner Meinung nach. Aber denen geht es gar nicht um die Siedlungsgebiete, sondern um die weltweite Delegitimierung Israels, der letzten Zuflucht für Juden und der einzigen Demokratie im Nahe Osten.

  15. Bei weiteren Recherchen zum Interview mit Micha Brumlik und der darauf folgenden Reaktion von Menon Mendel (Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt) stieß ich auf einen anderen Beitrag Brumliks in der FR vom 15. Juni dieses Jahres.

    In diesem beschäftigt er sich ausführlich mit der gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Historiker und Publizisten Reiner Bernstein und dem Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich. In diesem Verfahren ging es um das Buch von Arye Ruz Shalicar mit dem Titel „Der neu-deutsche Antisemit“. Darin wirft der Autor, der in den 1990er Jahren Mitglied mehrerer krimineller Banden war und mittlerweile Mitarbeiter einer israelischen Regierungsbehörde ist, Reiner Bernstein vor, Antisemit zu sein. Das Berliner Kammergericht unter Vorsitz von Richterin Susanne Tucholski wies den Antrag Bernsteins am 19. Mai jedoch zurück, da es sich um eine Meinungsäußerung Shalicars handele, für die ein Tatsachenbeweis nicht erbracht werden müsse.

    Dieses Fehlurteil war Mitauslöser des offenen Briefs an Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 24. Juli, der von 80 deutschen und israelischen Intellektuellen aus Kultur und Wissenschaft unterzeichnet ist. Darin wird die Bundesregierung u.a. aufgefordert, den tatsächlichen Antisemitismus zu bekämpfen und sich nicht zum Handlungsgehilfen rechter und rechtsextremer israelischer Politiker zu machen. Vielmehr sollte sie alles daran setzen, damit der Antisemitismus-Begriff nicht instrumentalisiert wird. Dieser Gefahr unterliege nach Einschätzung der Verfasser vor allem der „Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus“.

    Auch für mich persönlich könnte das Berliner Fehlurteil Folgen haben. Denn möglicherweise muss ich ebenfalls befürchten, Antisemit genannt zu werden. Trotz Mitarbeit an einer großen Anzahl Verlagsprodukte zum besseren Verständnis des Judentums, die zwischen 1979 und 2002 erschienen sind. 1981/1982 war ich verantwortlich für das Marketing bei evangelischen Akademien und Fakultäten für das „Kleine Lexikon des Judentums“, das von Johann Maier und Peter Schäfer verfasst wurde. Letzterer ist der zum Rücktritt gezwungene Direktor des Jüdischen Museums in Berlin. Ich gehe davon aus, dass der eine und andere Beckmesser meine kritische Einschätzung der israelischen Palästinenser-Politik in Gestapo-Manier kolportiert hat.

    Denn die neuen Freunde deutscher Volkstümelei (mit Drang zu Totschlag und Mord) schreiben mir regelmäßig Droh- und Hassbriefe, in denen einerseits der Holocaust geleugnet oder relativiert und andererseits die Schuld am Völkermord den Linken zugeschoben wird. Das Berliner Kammergericht hat diese und ähnliche Formen der freien, aber vom Grundgesetz verbotenen Meinungsäußerung legalisiert. Hitler, Himmler oder Goebbels würden sich, falls sie noch lebten, dafür artig bedanken.

    Statt ihrer greift ein selbsternannter Nahost- und Antisemitismus-Experte zur Feder. Die Rede ist von Matthias Küntzel, der im Online-Magazin „Perlentaucher“ geschrieben hat, was Sache ist: https://www.perlentaucher.de/essay/matthias-kuentzel-ueber-wolfgang-benz-und-seinen-offenen-brief-an-die-kanzlerin.html. Nach der Lektüre wurde mir schlecht.

  16. Ein großes Lob und herzlichen Dank für das von Frau Mika geführte Interview, das in vielerlei Hinsichten interessant ist! Bei mir kam es an wie ein wohltuendes Auszoomen beim Blick auf das komplexe Thema. Der Blick wird erweitert und die Einschätzungen Cohn-Bendits schärfen zugleich die Wahrnehmung. Das ist – in dieser Debatte- eine Seltenheit. Oft wird sie vorzeitig beendet, wenn dann sehr schnell das „Stigma Antisemitismus“ (siehe Überschrift) im Raum steht und die notwendige Diskussion nicht zustande kommt.
    Wenn Daniel Cohn-Bendit von seinem Film spricht, der in Frankreich schon gesendet wurde und positive Kritiken bekommen hat, den aber in Deutschland „keine Fernsehanstalt haben“ will, dann kann ein interessierter deutscher Zeitgenosse nur sehr traurig werden; ich spreche hier vielleicht für Viele, wenn ich sage: Ich möchte diesen Film gerne sehen um mir mein eigenes Urteil darüber bilden zu können. Wie wäre es, wenn die FR – eventuell mit weiteren überregional bedeutsamen Presseorganen- einen entsprechenden Wunsch an unsere Fernsehanstalten richten könnten?

  17. Kann sein, dass ich stark auf der Leitung stehe, aber bei und nach dem Lesen der Rede von „Matthias Kuentzel über Wolfgang Benz und seinen offenen Brief an die Kanzelerin“ (perlentaucher.de), bin ich nicht richtig schlau aus seinem Bündel aus Thesen und Vorwürfen geworden.

    Noch ein Satz zum FR-Interview mit Daniel Cohn-Bendit (15.08.): Sein Realitätssinn mit Blick auf den Israel-Palästina-Konflikt ist so hilfreich!

  18. Jan Sternberg ist voll und ganz zuzustimmen, wenn er richtig analysiert, dass Antisemitismus als Chiffre für die Ablehnung der Demokratie, der offenen Gesellschaft, der internationalen Zusammenarbeit und den Widerstreit der Meinungen steht. In der Tat nistet sich der Antisemitismus in der ganzen Gesellschaft ein. Und es ist auch richtig, dass es leider im linksliberalen Lager derartige Stereotypen gibt. Ich behaupte allerdings, dass es nur sogenannte Linksliberale sind, die meinen, mit ihrer Kritik etwa am außenpolitischen Kurs Israels leider auch Vorurteile gegen Juden transportieren zu müssen. Denn als Linksliberaler, Linker und generell Demokrat kann man niemals dem in diesem Tätervolk immer noch weit verbreiteten Antisemitismus weder Zugeständnisse machen noch gar folgen. Der islamistische Antisemitismus verdient daher genauso verurteilt zu werden und bekämpft zu werden wie der der braunen Demokratiefeinde. Niemand, der sich links nennt, darf antisemitischen Lügen und Verschwörungstheorien anhängen und auch keinen Freiraum geben. Antisemitismus ist immer widerlich und menschenverachtend. Deshalb muss die ganze Gesellschaft gegen Judenhass aufstehen und ihm offensiv entgegentreten. Die Gepeinigten und in den Konzentrationslagern Ermordeten sprechen gerade in Deutschland eine klare Sprache.

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