Die britische Premierministerin hat von der Europäischen Union einen weiteren Aufschub für den Brexit bekommen. Bis zum 31. Oktober haben die Briten nun Zeit, den Ausstieg ihres Landes aus der EU zu gestalten. Ob das in der politischen Landschaft des Königreichs etwas verändert, bleibt allerdings zweifelhaft, auch wenn Theresa May Gespräche mit der Opposition angekündigt hat. Das hätte sie schon vor Jahren haben können. Die Fronten im Königreich sind verhärtet, die Gräben sind tief, die Lage ist verfahren. Sollte May eine Einigung mit Teilen der Labour-Party finden – ja, nur mit Teilen, denn auch Labour ist in sich uneins -, riskiert sie die Spaltung der Tories, ihrer Regierungspartei. So weit die Sicht auf die Zustände im Königreich. Und wie sieht es in der EU aus? Es gibt Interessen, die Briten im Binnenmarkt zu halten, es gibt aber auch Interessen, endlich klare Verhältnisse zu schaffen. Letztere Linie vertritt der französische Staatspräsident Emanuell Macron. Dazu ein langer Leserbrief von Harald Brecht aus Hofheim/Taunus. Die Zuschrift konnte im Print-Leserforum nur um die Hälfte gekürzt veröffentlicht werden. Hier kommt die ungekürzte Fassung als Gastbeitrag im FR-Blog.
Von innen heraus gegen die EU
Von Harald Brecht
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Der Beitrag „Warum Macron die harte Tour fährt“ und die sehr ausführliche Berichterstattung zu einer weiteren Verschiebung des Austritts Großbritanniens aus der EU lässt einmal mehr erkennen, was „eigentlich“ hinter dem Brexit steht: Es handelt sich um das Denken der politischen Elite Englands, das seit etwa 200 Jahren unverändert ist. Dessen Kern besteht darin, auf dem Kontinent immer mitreden zu wollen, ohne selbst dazuzugehören. Erkennbar ist dies bereits auf dem Wiener Kongress 1815, am „Mitregieren“ in Deutschland über das Königreich Hannover vor 1866, am sogenannten „Londoner Protokoll“ von 1852, in dem es um die Schleswig-Holsteinische Frage ging, bis hin zu dem unseligen Münchener Abkommen von 1938.
Noch in einer programmatischen Rede von 1946 hat Winston Churchill klagestellt, dass die „Vereinigten Staaten von Europa“ wünschenswert seien, dass aber Großbritannien nicht dazu gehören solle. Nachdem die europäische Integration in der Folgezeit in Gestalt von EWG und EG Gestalt angenommen hatte, ist Großbritannien Anfang der siebziger Jahre dann doch beigetreten. Dies geschah jedoch nicht, um – wie alle anderen Beitrittsstaaten – den aquis communautaire vorbehaltlos zu akzeptieren, sondern um von Anfang an von innen heraus dagegen zu arbeiten. Ein erstes Ergebnis dieser Politik war dann der Briten-Rabatt unter Margaret Thatcher – und noch beim Maastrichter Vertrag hat Großbritannien eifrig mitverhandelt, ohne freilich den Euro selbst zu übernehmen.All dies war selbstverständlich begleitet von permanenten Versuchen der Briten, die Gemeinschaft wieder zu einer reinen Freihandelszone herabzustufen, propagiert unter dem Vorwand von Reformen.
Nachdem nun die politischen Eliten in England erkannt hatten, dass sie mit ihren Vorstellungen nicht durchdringen würden, hieß das Zauberwort nunmehr „Brexit“, den man einer in weiten Teilen politisch naiven Bevölkerung unter Vorspiegelung falscher Informationen schmackhaft gemacht hat. Wer nun allerdings glaubt, beim Brexit gehe es lediglich um den Austritt Großbritanniens aus der EU, der dürfte sich täuschen. Es handelt sich vielmehr um ein weiteres Instrumentarium zur Destabilisierung, wenn nicht gar zur Zerstörung der EU.
Dieses Instrumentarium wird von unterschiedlichen Akteuren in unterschiedlichen Situationen benutzt: Da sind zunächst die über lange Strecken fruchtlosen Verhandlungen nach dem Referendum, zu dem die britischen Unterhändler des öfteren scheinbar ohne Konzept und ohne eigene Vorschläge erschienen. Und nachdem ein Abkommen doch letztendlich zustande gekommen war, trat als neuer Akteur das britische Unterhaus auf und sage zu allem No, ohne aber gleichzeitig zu sagen, was es will, und ohne einen Ausweg aus dem Misere aufzuzeigen: Das musste es auch nicht; denn man wollte ja nicht wirklich eine Lösung, sondern lediglich Obstruktion.
Was nun die Verlängerung der Austrittsfrist bis zum 31.10.2019 anbetrifft, so wird die wohl voll ausgeschöpft werden. Es liegt auf der Hand, was passieren wird: Großbritannien wählt das neue EU-Parlament mit und entsendet Abgeordnete, die nichts anderes im Sinn haben, als dort Chaos zu stiften. Und wenn Frau May betont, Großbritannien „werde sich in den EU-Gremien auch weiterhin konstruktiv und verantwortlich verhalten“, so ist diese Aussage bezüglich des EU-Parlaments bewusst irreführend; denn bekanntlich sind Abgeordnete an Weisungen nicht gebunden – auch nicht an Weisungen der eigenen Regierung. Und in Bezug auf die Regierung entfaltet diese Aussage Mays möglicherweise ebenfalls keine Bindungswirkung; denn was ist, wenn sie zurücktritt und eine neue Regierung sich an ihr Versprechen nicht mehr „erinnert“? Jedenfalls hat May erst einmal erreicht, dass in der Sache vorläufig nichts passiert, die EU-Gremien weiter daran gehindert werden, sich mit wirklich wichtigen Themen zu bechäftigen, und dass das kontinentaleuropäische Publikum auch witerhin die bizarren Rituale im britischen Unterhaus bestaunen darf. Insgesamt darf man diese Strategie getrost als perfide bezeichnen. Insofern trifft das französische Vokabular vom „perfiden Albion“ den Nagel auf den Kopf.
Überhaupt scheint das politische Frankreich von Anfang an einen realistischeren Blick auf Großbritannien gehabt zu haben als die Kontinentaleuropäer. Denn bereits Charles de Gaulle wollte sie nicht dabei haben. Und maßgebliche Teile der französischen Politik – siehe Ihren o.g. Beitrag – sehen das wohl bis heute ähnlich. Demnach wäre es wünschenswert, wenn Großbritannien so schnell wie möglich die EU verlässt – schon aus Gründen der europäischen Selbstachtung. Von besonderer Selbstachtung zeugt es jedoch nicht, wenn andere Europäer – wie etwa unsere Bundeskanzlerin – sogar eine Verlängrung bis zum Frühjahr 2020 ins Gespräch bringen. Dabei stehen ihr doch besondere Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung.
Zu denken ist hier an Theodor Fontane, den Dichter der Uckermark, dessen 200. Geburtstag wir in diesem Jahr begehen und der seinen Romanhelden v. Stechlin über die Engländer wie folgt sinnieren lässt: „Sie sind drüben schrecklich heruntergekommen, weil der Kult vor dem Goldenen Kalbe beständig wächst; lauter Jobber und die vornehme Welt obenan. Und so heuchlerisch: Sie sagen Christus und meinen Kattun.“ Übersetzt ins Heute könnte das heißen: „Sie sagen Brexit und meinen die Zerstörung der Europäischen Gemeinschaft“. Aber vermutlich hat unsere Uckermärkerin ihren Fontane nicht gelesen.
De Gaulle wusste, warum er gegen den Beitritt der Engländer in die damalige EWG war. Und Helmut Schmidt wies darauf hin, dass den Engländern die Distanz des Atlantik zu Amerika kürzer ist als die des Ärmelkanals zum europäischen Festland.
Dass die EU-Gremien sich seit zwei Jahren mehr mit dem Brexit beschäftigen als mit den vielfältigen Problemen der EU ist ein Trauerspiel und stärkt die EU-feindlichen Kräfte. Auch hier sind die Franzosen weiter als unsere Regierung, in der Merkel wie in anderen wichtigen Fragen die EU in eine Sackgasse gesteuert hat und glaubt, ihrer Artgefährtin May, die selbst nicht zu wissen scheint, was sie wirklich will, unter die Arme greifen zu müssen und damit der EU mehr schadet als die dem Vereinigten Königreich nützt.
Auch ich glaube nicht, dass Merkel Fontane gelesen hat, sie orientiert sich mehr an ihr Kaffekränzchen mit Frau Springer und Frau Burda sowie an den neoliberalen „Weisheiten“ der IN“S“M.
Der Leserbrief von Harald Brecht, Hofheim a.Ts., in Sachen Brexit, ist in seiner Prägnanz und Kürze das Beste, was bisher zu den Hintergründen der englischen Brexit-Sucht zu lesen war. Es geht hiernämlich nicht so sehr um den Unmut bestimmter Bevölkerungsschichten des UK, die sich durch die De-Industrialisierung und die Globalisierung als abgehängt empfinden und dem britischen Welt-Imperium des 19. Jh. nachtrauern. Vielmehr geht es um eine sehr langfristige, über2oo Jahre hinweg gepflegte , Grundhaltung der englischen Politik, sich zwar einerseits in Europa stets irgendwie einzumischen , dennoch aber schlußendlich im Sinne einer ° splendid isolation ° bewußt wiederum abseits zu stehen. Gegen die englische Animosität gegenüber dem europäischen Kontinent helfen auch keine salbaderhaften Sprüche, man müsse England weiterhin alle Türen nach Europa offen halten. Die englische Haltung ist von grundsätzlicher, Ressentiment aufgeladener , Natur. Man kann sie nicht von außen durch freundliche Liebedienerei ändern.^ Der historischen Fairness halber sei angemerkt, daß Fürst Bismarck im 1. Deutschen Kaiserreich mit seiner sogenannten Gleichgewichtspolitik – nicht ganz unähnlich wie das UK – ebenfalls eine Art von Distanzpolitik betrieb.
Harald Brecht spricht vom „Denken der politischen Elite Englands, das seit 200 Jahren unverändert ist“.
Erst einmal wüsste ich gern, ob er tatsächlich nur England meint oder das gesamte UK. Aber selbst wenn er seine Aussage auf England bezieht, stimmt sie nicht.
Wen zählt man denn zur politischen Elite? Doch sicherlich die Parlamentsabgeordneten, und die plädierten zu 70% für den Verbleib in der EU gegenüber 20%, die sich zu „leave“ bekannten, und 10% Unentschlossenen.
Auch angesichts knappe Mehrheit der an der Abstimmung Beteiligten für den Brexit im gesamten UK (51,89%), wobei sowohl die schottischen (62,6%) als auch die nordirischen Wähler (55,8%) mehrheitlich für den Verbleib stimmten, Gibraltar sogar zu 95,9%, kann man weder verallgemeinernd von „den“ englischen noch von den britischen Wählern sprechen, die aus der EU austreten wollen, noch von einem seit 300 Jahren unveränderten Isolationismus der politischen Eliten.
Das Problem ist, dass die Parlamentarier aus ihrem Demokratieverständnis heraus nun meinen, an den Willen dieser knappen Mehrheit der Wähler gebunden zu sein, ohne dabei an die riesige Gruppe der knapp Unterlegenen zu denken. Und dann kommen natürlich noch persönliche Machtinteressen der Parteien und einzelner Politiker hinzu.
Sich bei dieser komplizierten Gemengelage ein Urteil über „die“ Briten anmaßen zu wollen, halte ich deshalb für sehr gewagt.
So berechtigt Kritik an der schon legendären britischen „Rosinenpickerei“ ist: Vor allem die Behauptung Harald Brechts von dem vorrangigen britischen Interesse der „Zerstörung der Europäischen Gemeinschaft“ (die übrigens schon lange Europäische Union“ heißt) erscheint doch sehr überzogen und ist mit Sicherheit nicht mit einem Rückgriff auf den „Wiener Kongress“ belegbar.
Das mag bei ausgemachten Demagogen wie Nigel Farange oder Boris Johnson vielleicht der Fall sein, trifft aber gewiss nicht in der Verallgemeinerung auf „die politischen Elite“ zu. Wenn man sich das Trauerspiel (vielleicht auch die Farce) im britischen Unterhaus ansieht, kommt bestenfalls Mitleid auf über so viel Unfähigkeit zu Kompromiss, Festhalten an lächerlichen überkommenen Strukturen und Verbissenheit, die mit (angeblichem) britischen „Pragmatismus“ so ganz und gar nicht zusammenpassen will. Das hat wohl eher mit verinnerlichten, unverarbeiteten überkommenen Weltmachtambitionen zu tun, die sich nun als tiefe Identitätskrise offenbaren. Gegenüber der EU äußert sich das eher als Desinteresse. Das ist aber etwas anderes als Destruktion.
Nicht ausgewiesen ist auch die Behauptung von einer Blockade etwa der EU-Wahlen. Eine Analyse der Umfragen gibt das nicht her.
Wenn man den möglichen Stimmenanteil für die Brexit-Partei von Nigel Farange (23%) plus UKIP (6%) mit den Zahlen von 2014 vergleicht (UKIP: 27%), stellt man fest, dass sich an der Einstellung und der Borniertheit hartgesottener Brexiteers so gut wie nichts geändert hat, sie aber auch keine weiteren Erfolge erzielt haben.
(https://www.fr.de/politik/brexit-briten-wollen-eu-verlassen-11853041.html)
Entscheidender ist (u.a. für die Wahl des Kommissionspräsidenten), wie sich das Verhältnis von Konservativen zugunsten von Labour verschiebt und wie sich die übrigen Parteien verhalten. Noch wichtiger die Veränderung in den übrigen EU-Ländern durch das Brexit-Spektakel. Dabei vor allem, in welchem Maße es den EU-freundlichen Parteien gelingt zu mobilisieren.
Hierzu eine kleine Episode:
Anlässlich einer Feier der Pensionierung einer Mitarbeiterin des EU-Parlaments in Luxemburg hatten wir neulich Gelegenheit, uns einige Stunden mit einer (wie sie sich ausdrückte) „gebürtigen Engländerin“ zu unterhalten, verheiratet mit einem Sudanesen, mit drei erwachsenen Kindern. Verständlich, dass diese Familie gegenwärtig mit einigen Schwierigkeiten zu tun hat. Bemerkenswert dabei der (nach außen hin) emotionslose Umgang mit der Situation, ohne erkennbaren Hass. Sie hat inzwischen die luxemburgische Staatsangehörigkeit, ihre Überlegungen waren ganz darauf gerichtet, wie die übrigen Familienmitglieder britischer „Souveränität“ und entsprechendem Überlegenheitsdünkel entfliehen könnten.
So stelle ich mir „britischen Pragmatismus“ vor, den ich im Unterhaus so ganz und gar nicht erkennen kann.
Mit welcher Selbstverständlichkeit das Unterhaus man kann schon sagen pausenlos immer wieder über das selbe abstimmt, aber dem Wähler nicht das Recht einer zweiten Volksabstimmung geben will lässt sicher Zweifel am Demokratieverständnis der Abgeordneten zu. Wahrscheinlich hat man die Wahlkreise längst so zugeschnitten das möglichst keiner so leicht abgewählt werden kann.
@ hans
Meine volle Zustimmung.
Ein Widerspruch, der mir schon lange aufgefallen ist. Und ich wundere mich, dass er so gut wie gar nicht thematisiert wurde – vielleicht aus Angst, „den Briten“ zu nahe zu treten.
Ich zähle das auch zu den „überkommenen Strukturen“, die sich ja auch prima zur Verschleierung wirklicher Absichten eignen.
Besonders Frau May hat den angeblichen „Respekt vor dem Volkswillen“ wie eine Monstranz vor sich hergetragen, wobei ihr der „Volkswille“ von 49 % der Bevölkerung erkennbar schnurzegal war.
Und ganz abstrus: Während das „Referendum“ schon längst in seinem Zustandekommen als alles andere als „demokratischen Regeln“ entsprechend entlarvt war, war das von den Brexit-Hardlinern mehrfach zerrissene Brexit Abkommen nicht nur ein echter Kompromiss (mit Mays Zustimmung), sondern auch von Verantwortung für den Frieden, insbesondere an der irisch-nordirischen Grenze, geprägt.
Mein Fazit:
Was hier im Unterhaus mehrfach vorexerziert wurde, entspricht ganz dem Kompositionsschema einer Farce, an deren Ende die Selbstentlarvung steht. Entlarvung der Verantwortungslosigkeit gegenüber den Interessen und dem Schicksal der eigenen Nation, darüber hinaus der Verachtung gegenüber (vermeintlichen) Minderheiten (die wohl inzwischen die Mehrheit bilden) sowie der fehlenden Fähigkeit zum Kompromiss – einem Kernelement demokratischen Verhaltens.
Dies erlaubt wohl mit Fug und Recht, wie Sie richtig schreiben, „Zweifel am Demokratieverständnis der Abgeordneten“.
Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – halte ich es für eine Chance, dass wir diese Farce miterleben durften/mussten. Denn die hat in einem Maße Denkweisen und Grenzen von Populisten vorgeführt, wie kein Brechtsches Lehrstück es besser kann.
Es kommt freilich darauf an, die eigentliche „Moral“ hinter dem Verwirrspiel auch sichtbar zu machen.
Ergänzend zu meinem letzten Beitrag unter dem Stichwort „Verantwortungslosigkeit“ hier ein Hinweis auf den ersten Beitrag des „Europamagazins“ in der ARD von heute Mittag: „Neue Aufenthaltsbestimmungen im UK“:
Berichtet wird von EU-Bürgern (über 3 Millionen), z.T. seit 25 Jahren in GB, die in einem diskriminierenden Verfahren in einem begrenzten Zeitraum eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen haben und denen sonst die Ausweisung droht. Geschätzt wird, dass dies bei ca. 20 % der Fall sein wird, schon wegen der chaotischen Zustände in einem Land, das nicht einmal ein Meldeamt kennt, und weil viele der Betroffenen gar nicht erreicht werden.
Schon heute berichten manche, die z.B. gerne in London leben, dass die Aggressivität ihnen gegenüber rasant im Steigen begriffen ist.