Der Osten fängt Protassewitsch, der Westen foltert Assange

Ein Flugzeug der Airline Ryanair bekommt im Luftraum über Belarus Gesellschaft durch einen belarussischen Kampfjet und wird zur Landung in Minsk gezwungen. Offizieller Grund: An Bord soll sich eine Bombe befinden. Mutmaßlicher wahrer Grund: An Bord befand sich der Journalist, Blogger und Regimekritiker Roman Protassewitsch, der auf dem Weg von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius war, zusammen mit seiner Freundin Sofia Sapega. Beide hatten – sehr zum Ärger des belarussischen Regimes und des Diktators Alexander Lukaschenko – in der Vergangenheit über die belarussische Opposition und ihre Belange berichtet. Eine Bombe wird an Bord nicht gefunden, aber Sapega und Protassewitsch werden verhaftet. Das Flugzeug kann seinen Flug nach Vilnius fortsetzen. Wenige Stunden später veröffentlichen die belarussischen Behörden ein Video, das Protassewitsch zeigt, der ein Geständnis abzulegen scheint. Er ist stark gepudert, hat Flecken in Gesicht, möglicherweise wurde ihm die Nase gebrochen; er weist also Anzeichen von Gewalteinwirkung auf. Protassewitsch drohen mindestens 15 Jahre Gefängnis, wenn nicht das Todesurteil, da der belarussiche KGB ihn auf einer Liste mutmaßlicher Terroristen führt.

ryanair minskEin ungeheuerlicher, nie dagewesener Vorgang! Für das Lukaschenko-Regime gilt der junge Mann als Terrorist, weil er das gemacht hat, was Journalisten eben tun: Er hat berichtet. Seine Arbeit gemacht. (Du siehst Analogien zu den Verhältnissen in der Türkei, in China, Russland oder Saudi-Arabien? Dann sind wir schon zu zweit.) 126 Passagiere waren an Bord der Ryanair-Maschine und sechs Crew-Mitglieder. Nach einem Reuters-Bericht kamen jedoch nur 121 Passagiere in Vilnius an. D.h., dass außer Sapega und Protassewitsch noch drei weitere Menschen in Minski „ausgestiegen“ sind. Wurden Protassewitsch und Sapega bereits ab Athen „begleitet“, ohne es zu merken? Etwa von Agenten des belarussischen Geheimdienstes KGB? Die Sache mit der Bombendrohung, von der man in Belarus angeblich aus der Schweiz gehört hatte, klingt zu sehr nach Vorwand. Auch passt die Zeitspanne nicht dazu, die das Flugzeug am Boden bleiben musste, bevor es nach Vilnius abheben durfte. Die Suche nach einer Bombe hätte viele Stunden gedauert, das ganze Flugzeug hätte auf den Kopf gestellt werden müssen.

Die internationalen Reaktionen auf die erzwungene Landung sind fast einhellig verurteilend. Aus Moskau kommt allerdings nichts. Die EU reagiert überraschend schnell, sperrt den EU-Luftraum für belarussische Airlines und entzieht ihnen Landerechte. Ein deutliches, hartes Signal, das allerdings möglicherweise unbeabsichtigte negative Konsequenzen haben könnte. Derweil stellt sich der Diktator vor sein Scheinparlament und verteidigt die Aktion als völlig gerechtfertigt: Berichte, wonach das Passagierflugzeug durch einen Kampfjet zur Landung gezwungen worden sei, bezeichnete er als „Lüge“. Belarus habe aus Sicherheitsgründen gehandelt, weil das Flugzeug über das Atomkraftwerk des Landes geflogen sei. Belarus habe aus der Schweiz die Information bekommen, dass sich ein Sprengsatz an Bord des Flugzeugs befinde. Deshalb sei das Flugzeug, das auf dem Weg nach Litauen war, mit Unterstützung eines Kampfjets nach Minsk umgeleitet worden.

Kampfjet oder nicht – im Wilden Osten scheinen internationale Rechtsstandards als Rangiermasse zu gelten: Man verfährt mit ihnen nach Belieben. Nach dem Chicagoer Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt dürfen Staaten, die überflogen werden, Landungen zwar anordnen, aber sie brauchen dafür einen guten Grund. Wie zum Beispiel eine Bombe in der Luft über einem Atomkraftwerk. Das war der offizielle Grund für die belarussischen Maßnahmen gegen das Flugzeug. Aber: Das betroffene Atomkraftwerk, das im November 2020 offiziell in Betrieb genommen worden ist, liegt in Astrawez (Astravets) auf ziemlich direkter Linie zwischen Minsk und Vilnius, nur 45 Kilometer südöstlich von Vilnius. Das Ryanair-Flugzeug befand sich jedoch auf direktem Kurs nach Norden, geradewegs von Süden kommend. Das kann sich jede und jeder auf Google Maps angucken: Die Maschine hätte das Kraftwerk nicht überflogen. Wenn sie gegen das Kraftwerk hätte eingesetzt werden sollen, hätte sie gekapert und auf das Ziel hin umgelenkt werden müssen. Die offizielle Darstellung Lukaschenkos klingt also nach Ausrede. Man brauchte einen Vorwand, um des Journalisten habhaft zu werden.

Es ist klar, dass ein solches Verhalten eines Staates nicht hingenommen werden kann. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, Norbert Röttgen (CDU), sprach gar von Staatsterrorismus. Wie soll man angemessen mit Regimen verfahren, die sich offenkundig an keinerlei Verträge und Vereinbarungen gebunden fühlen? Wie soll da eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit möglich sein? Lukaschenko hat soeben, das darf man wohl festhalten, die letzten Reste des Vertrauens verspielt, das ihm einige Wenige möglicherweise noch entgegengebracht haben. Und mit im Boot sitzen auch Russland und sein ebenfalls zunehmend autokratisch regierender Präsident Wladimir Putin, denn es gibt da offenbar eine ganze Reihe von offenen Fragen.

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Interessant bzw. irritierend sind in diesem Zusammenhang erste Reaktionen etwa von Gregor Gysi, der nach einem Bericht des „Neuen Deutschland“ die erzwungene Landung in Minsk mit der des bolivianischen Präsidenten Evo Morales 2013 in Wien verglich und nach einem Bericht des MDR hinzufügte: „Der Westen liefert immer das Beispiel und der Osten zieht nach.“ Für Gysi ist die Welt offenbar immer noch zwiegespalten in Ost und West, und die im Osten sind die, die das schlechte Vorbild lediglich nachahmen. Ich gehe aber mal davon aus, dass Gysi die belarussischen Anmaßung nicht relativieren wollte.

Denn sein Vergleich mit dem Vorfall von 2013 hinkt. Der bolivianische Präsident Evo Morales war damals auf dem Rückflug von Moskau nach Südamerika, als auf Betreiben der USA – so kann man es wohl bezeichnen – mehrere europäische Staaten den Luftraum für Morales‘ Maschine sperrten. Der Verdacht: Edward Snowden sei an Bord, den die USA wegen Hochverrats suchen. Nun muss man wissen: Für Staatsmaschinen gilt das oben bereits zitierte Chicagoer Abkommen nicht. Solche Flugzeuge müssen die Überflugerlaubnis pro Land einzeln erbitten. Normalerweise ein rein formaler Akt. Aber Spanien, Frankreich, Portugal und Italien machten dicht. Morales‘ Maschine wäre zu einem weiten Umweg gezwungen worden. Dafür reichte der Sprit nicht. Der offizielle Grund für die Landung in Wien war also: Auftanken! Dort wurde Morales dann 13 Stunden festgehalten. Ein ebenfalls beispielloser Vorgang! (Der übrigens hier im FR-Blog zu einer ausführlichen Diskussion mit 98 Kommentaren geführt hat; zum Nachsehen: Wir sind ein Volk, mit dem man machen kann, was man will.) Zur Vergleichbarkeit empfehle ich den Faktencheck der Deutschen Welle.

Es gibt widersprüchliche Berichte vom Geschehen bzw. davon, ob Morales eine Durchsuchung seines Flugzeugs erlaubt habe. Offiziell hat er. Die Durchsuchung ergab, dass sich Edward Snowden nicht an Bord befand. Wäre es anders gewesen, hätte der Vorgang ganz andere Dimensionen bekommen. Trotzdem stellt sich an diesem Beispiel die Frage: Wie geht der Westen, wie gehen insbesondere die USA mit missliebigen Journalist:innen um? Wobei man sich den Begriff vom Journalismus schon ein bisschen zurechtbiegen muss, um Edward Snowden als Journalisten bezeichnen zu können. Tatsächlich war er vorher Geheimdienstmitarbeiter und wurde dann zum Whistleblower. Das ist nicht dasselbe wie Journalist. Whistleblower sind aber Quellen für Journalist:innen. Insofern gehören sie dazu. Whistleblower sind per Definition unbeliebt bei den Mächtigen, da sie Geheimnisse verraten. So erwerben sie sich Verdienste um das Gemeinwohl – so wie Edward Snowden es mit seinen Enthüllungen tat. Die zur Folge hatten, dass er wohl nie in die USA zurückkehren darf. Ein anderer Fall, der eher passt, ist der von Julian Assange, dem Gründer von Wikileaks, dem wir wichtige Enthüllungen über Brüche des Völkerrechts durch die USA zu verdanken haben. Er ist zweifellos Journalist, und wie die USA, aber auch Großbritannien, mit ihm umgehen, wirft kein gutes Licht auf das Verhältnis der Mächtigen zur vierten Gewalt.

Doch das soll den Blick auf die Tatsachen nicht verstellen. Die USA beugen sich immerhin rechtsstaatlichen Regeln, wenn sie das Nein der britischen Gerichte zur Auslieferung von Assange an die USA insofern hinnehmen, dass sie daraufhin selbst rechtsstaatliche Wege nehmen und in Berufung bzw. Revision gehen. Um den Vergleich auf die Spitze zu treiben: Sie lassen keine Kampfjets aufsteigen, um Assange aus dem Gefängnis im UK zu entführen, in dem er einsitzt. Die USA halten sich an die Regeln, zumindest unter Präsidenten wie Biden und Obama. Dass ein Bush oder ein Trump sich die Regeln auch mal zurechtgebogen hat, bis es ihm passte, ist unbestritten. Da muss man natürlich an den Irakkrieg erinnern oder an die Ermordung des iranischen Generals Soleimani.

Doch was tragen solche Analogien zum Verständnis und zur Einordnung dessen bei, was Lukaschenko sich da geleistet hat? Wohin führt diese Art von „vergleichender Politikwissenschaft“? Dass das Spiel der Mächtigen ein skrupelloses sein kann? Binsenweisheit. Auf dem Weg zu einer zivilisierteren Welt waren wir schon mal weiter. Das Beispiellose am Vorfall von Minsk ist, dass ein Flugzeug der zivilen Luftfahrt betroffen war. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem solchen Flugzeug, sehen aus dem Fenster und erblicken draußen einen Kampfjet … Was würde Ihnen da durch den Kopf gehen? Gutes Gefühl, nicht wahr?

fr-debatteWir dürfen das also, aber die anderen nicht?

Die Entrüstung ist groß! Ein Flugzeug über dem weißrussischen Luftraum zur Landung zu zwingen, um ein Systemkritiker heraus zu entführen – welch unglaublich krimineller Vorgang! Ist es auch! Doch diejenigen, die nun am lautesten nach Konsequenzen und Bestrafung rufen haben selbst gebilligt, 2013 das Flugzeug von Boliviens Exprasident Morales in Wien zur Landung gezwungen zu haben, um ihrereseits den darin vermuteten Systemkritiker Edward Snowden dort heraus zu entführen – das ist keine 8 Jahre her – für mich immer noch eine Schande auch meiner eigenen Regierung! Wir dürfen das also, die anderen aber nicht? Ist das die Message, die uns die Politik gibt? Oder geht sie einfach davon aus, dass unser aller Kurzzeitgedächtnis auf der Strecke geblieben ist – kurz: sie uns für behindert hält?
Das gleiche gilt für den Fall Navalny – das Geschrei nach Konsequenzen für seine Behandlung ist riesig – ebenso von den gleichen westlichen Politikern, die sich heute über Lukaschenko erregen. Dabei ist Navalny kein besonderer Held – bloss ein Opponent des zum Weltfeind no 1 hochstilisierten ‚Teufels Putin‘. Spricht hindessen jemand der gleichen Fraktion über den inhaftierten und nun schon seit Jahren gefolterten eigenen Systemkritiker Julien Assange (in meinen Augen ein wirklicher Held!), der nichts weiter getan hat als die Kriegsverbrechen der USA publik zu machen – und das in einer selbst stolz präsentierten Welt der freien Meinungsäußerung? – NEIN!
Natürlich gibt niemand zu, dass unsere Machenschaften dieselben kriminellen sind, die wir den anderen verlogenerweise vorwerfen! Unsere westliche Propaganda steht der unserer ‚Gegner‘ in nichts nach! Business as usual – diesmal allerdings für jedermann (ohne Gedächtnisbehinderung) klar zu sehen!

Karel Walter, Sinzheim

fr-debatteDer Gipfel der Heuchelei

Ein Flugzeug zur Ladung zu zwingen, um einen Dissidenten festzusetzen geht natürlich gar nicht! ABER! 2013 haben europäische Staaten das Flugzeug des bolivianischen Präsidenten Morales in Wien zur Landung gezwungen. Im Auftrag des USA, weil man dachte, Julian Assange sei an Bord. Auch ein Dissident. Die Aufregung um den jetzigen Fallest für mich der Gipfel der Heuchelei.

Heinrich Mesch, Attendorn

fr-debatteJulian Assange ist immer noch eingekerkert

Das ist schon ein dreistes Schurkenstück, das der belarussische Diktator Lukaschenko der Weltöffentlichkeit präsentiert. Die prompte Antwort der EU und der UN mitsamt den angekündigten Sanktionen ist unbedingt notwendig und völlig gerechtfertigt, und Roman Protassewitsch und seine Freundin müssen umgehend freigelassen werden! So erfreulich es ist, dass die Regierungen der EU-Staaten schnell und sogar einmütig reagieren, so sollte doch nicht vergessen werden, dass auch andere Journalisten, die auch von „westlichen“ Staaten gefangengehalten werden, einer solchen Fürsprache durch EU-Staaten (auch mit Sanktionen) bedürfen. Ich erinnere an Julian Assange, der in England einer „weißen“ Form von Folter ausgesetzt und immer noch eingekerkert ist. Er saß in Haft u.a. wegen „Verstößen gegen Kautionsauflagen“. Wer denkt da nicht an Alexei Nawalny. Aber das ist sicher etwas ganz anderes, das sind nämlich die Bela- und die Russen. Auch Edward Snowdon kann sich nicht frei bewegen, der saudische Blogger Raif Badawi (so einer wie Protassewitsch) sitzt in Riad im Gefängnis, von den vielen, vielen Journalisten in unserem NATO-Partnerland Türkei ganz zu schweigen. Ja, schreien wir das Unrecht laut hinaus, klagen wir die Diktatoren und die Verletzung von Pressefreiheit und Menschenrechten vehement an, machen wir den Schurken das Leben schwer – aber bitte: weiten wir den Blick über den gerade aktuellen Fall Roman Protassewitsch hinaus.

Manfred Backhaus, Niederbrechen

fr-debatte

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10 Kommentare zu “Der Osten fängt Protassewitsch, der Westen foltert Assange

  1. Das Messen mit zweierlei Maß (passt zu Maas)scheint inzwischen zur Grundregel der Bundespolitik geworden zu sein. Und hier reihen sich die Grünen schon diese Haltung ein, wenn Baerbock höhere Kriegsausgaben, mehr Anlehnung an die USA und Harbeck Waffenlieferungen an die Ukraine fordert.

    Damit wollen diese sich wohl frühzeitig zu einer schwarz-grünen Koalition anbiedern. So sagte auch kürzlich der baden-württembergische SPD-Vorsitzende: „Wer grün wählt, wählt CDU.“

  2. Herr Walter spricht mir aus der Seele! Unsere verlogene Moral ist an diesem Beispiel gut zu sehen. Wenn zwei das Gleiche tun, ist das lange noch nicht dasselbe. Wir biegen uns unser Tun immer so zurecht, dass wir die Guten und die Anderen die Bösen sind. Beide Fälle (Snowden, Assange wie auch Navalny, Protassewitsch) sind unsäglich und müssten eigentlich von der „überlegenen“ westlichen, demokratischen Welt mit allen Mitteln verurteilt werden. Wobei ich für meinen Teil bei meinen „Freunden“ strengere Maßstäbe anlege als bei den Menschen, deren „Demokratieverständnis und Moral“ ich nicht teile. Warum bleiben wir so ruhig?
    Martin Niemöller hat es vor vielen Jahren so formuliert:

    Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist.
    Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschaftler.
    Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Jude.
    Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.
    Leider ist dies kein Einzelfall unserer Doppelmoral. Denken wir nur an die Flüchtlingspolitik, Rüstungspolitik, Massentierhaltung oder die Wirtschaftspolitik im Allgemeinen. Eigentlich geht es immer nur um Macht und Geld und die Moral wird nur vorgeschoben. Wir beruhigen unser Gewissen, und sagen bei jeder Sauerei die wir veranstalten, dass wir die Guten sind und auf der richtigen Seite stehen.

  3. Die Opposition in Belarus nennt Aljaksandr Lukaschenka „die Kakerlake“. Dessen Anordnung, ein Passagierflugzeug, das sich auf direktem Weg von Athen nach Vilnius befand, vom Kurs abzudrängen und zur Landung zu zwingen, war eine Kriegserklärung. Der Diktator hat mit dieser Gewalttat sowohl der zivilen Luftfahrt als auch der Europäischen Union den Fehdehandschuh hingeworfen. Denn die vorgeschobene Bombendrohung war eine Täuschung. Hätte es sie tatsächlich gegeben, wäre der Flughafen in Vilnius der nächstliegende für eine Evakuierung gewesen – nicht aber der in Minsk. Anlass für den Piratenakt war ganz offensichtlich die Absicht, sich des Regimegegners Roman Protasewitsch zu bemächtigen. Er und seine Freundin wurden festgenommen.

    Die Antwort der Europäischen Union auf den Terrorakt ließ nicht lange auf sich warten. Schließlich waren einige ihrer Bürger davon betroffen. Ab sofort dürfen Airlines aus der EU weder Belarus ansteuern noch das Land überfliegen. Ebenso ist der belarusischen Staatslinie das Anfliegen von Zielen in der Gemeinschaft verboten. Vielleicht werden diesen Maßnahmen Erfolge beschieden sein. Als wenig wirksam dürften sich hingegen die bestehenden wirtschaftlichen Sanktionen erweisen. Denn die ehemalige Sowjetrepublik hat sich auf Gedeih und Verderb wirtschaftlich an Russland gebunden. Die Unterbindung des Luftverkehrs könnte hingegen wirkungsvoller sein. Allerdings versperrt diese Maßnahme Oppositionellen den letzten Fluchtweg.

    Der Journalist Roman Protasewitsch genoss faktisch die Rechte eines EU-Bürgers, denn er arbeitete längst nicht mehr in Belarus. Ihm drohen in der Haft vermutlich Misshandlungen, insbesondere lebensbedrohende Folter und möglicherweise sogar in einem Schauprozess die Todesstrafe. Das Video, das am Tag nach seiner Festnahme veröffentlich wurde, zeigt einen Menschen, der massiv geschlagen worden war und der ständig Drohungen ausgesetzt zu sein scheint. Denn sonst hätte er sich nicht schuldig bekannt, Proteste organisiert zu haben. Es ist ebenso zu vermuten, dass die im Video gezeigten Äußerungen seiner Freundin mit Gewalt erpresst wurden. Proteste und Demonstrationen zählen zu den elementaren demokratischen Rechten – und diese und andere werden der belorusischen Bevölkerung vorenthalten.

    Ob die Flugverbote ausreichen werden, um Aljaksandr Lukaschenka zu entmachten, darf bezweifelt werden.

    Der Diktator, der sich gern mit einer Kalaschnikow in der Öffentlichkeit zeigt und sich dadurch als Gewaltanhänger zu erkennen gibt, hat durch das Kapern des Flugzeugs die EU herausgefordert – und zwar in ihrem Grundverständnis von Menschenwürde. Darum sollte die Gemeinschaft nicht mit gleicher Münze zurückzahlen, denn andernfalls würde man dem Unterdrücker die Wahl der Mittel überlassen. Vielmehr müssten ihre weiteren Maßnahmen von rationalen Überlegungen und zeitgemäßer Konfliktstrategie geprägt sein. Und von der Absicht, nicht das Leben derer zu gefährden, die man eigentlich schützen will.

    Ein autoritäres Regime ist üblicherweise auf lückenlose Information über das Denken, Tun und Handeln seiner Bürger angewiesen. Dieses Ausspionieren vollzieht sich längst in digitalisierter Weise. Und das gilt auch für die Information innerhalb der Befehlsstellen und Kader. Fällt die Elektronik aus, weil sie beispielsweise von außen manipuliert wird, ließen sich die Schlägerkommandos nicht mehr führen und koordinieren. Sie wären zwar noch dazu in der Lage, loszuschlagen. Doch auf wen, wo und wann? Auf welchen Wegen sollte die Obrigkeit noch ihre Befehle übermitteln, wenn die Kanäle gestört sind? Lukaschenka würde nie einer Truppe vorangehen, schon gar nicht an vorderster Front sein Leben riskieren. Er delegiert das Niederknüppeln und Morden und bestimmt, wer Gegner und Opfer ist.

    Russland und China haben vorgemacht, wie man mittels Internetrobotern Fake-News lancieren kann, um Meinungsbildungsprozesse in demokratischen Gesellschaften zu beeinflussen. Selbst das Eindringen (Hacken) in wichtige Informationszentren und in elektronisch gesteuerte Kernbereiche der Infrastruktur ist möglich geworden. EU und USA verfügen mit ihren digitalen Equipments über eine Technologie, welche die Kommunikation in autoritären Regimen entscheidend stören könnte. Wer Drohnen punktgenau manövrieren oder die Ziele von Bomben und Raketen über weite Entfernungen hin exakt anpeilen kann, wird auch in die Binnenkommunikation eines Landes eingreifen können.
    Wenn die „Kakerlake“ einen Schießbefehlt erteilt, der aber nirgendwo ankäme, bräche das System wie ein Kartenhaus zusammen. Die Entführung des Flugzeugs verleiht der EU das Recht zum Handeln. Und sie sollte im Namen der vielen Opfer und Inhaftieren unverzüglich handeln.

    Zum Abschluss noch eine Anmerkung zu Gregor Gysis unangemessenem Vergleich zwischen dem Piratenakt von Minsk und dem erzwungenen Zwischenstopp des Flugzeugs, in dem Boliviens Präsident Morales saß, aber der Whistleblower Assange vermutet worden war: Können die Linken in Ostdeutschland endlich mal realisieren, dass Putin und seine Freunde in der GUS weder Sozialisten waren noch zu solchen geworden sind und dass Autokraten und Diktatoren der AfD ideologisch näher stehen als Marx, Engels, Lenin oder Trotzki? Und dass es für diese Partei beschämend ist, dass ausgerechnet in ihrem Kernland der rechte Pöbel Erfolge feiert. Mit saudummen Sprüchen kann man der Kakerlakenplage nicht beikommen.

  4. @ Peter Boettel, Dieter Murmann

    ich bin wirklich erstaunt über Ihr Weltbild. Da fängt ein weißrussischer Diktator einen Journalisten, indem er gewaltsam ein ziviles Flugzeug zur Landung zwingt, und Ihnen beiden fällt nichts anderes ein, als den Westen zu kritisieren? Geht’s noch? Was geht denn in Ihren Köpfen bloß vor? Ist das Selbsthass, oder was soll das? Lukaschenko ist kein Underdog, sondern ein Aggressor und Menschenrechtsverächter! Jedermensch, dem die Menschenrechte wichtig sind, hat sich jetzt auf die Seite von Roman Protassewitsch zu stellen! Stattdessen machen Sie Pseudodebatten wegen eines Vorgangs auf, bei dem 2013 alles mit rechtsstaalichen Dingen zugegangen ist und bei dem niemand zu Schaden gekommen ist. Protassewitsch droht die Todesstrafe! Ist Ihnen das denn nicht klar? Aber selbstgefällig Niemöller zitieren.

    @ Klaus Philipp Mertens

    Vielen Dank für Ihre klare Einordnung.

  5. In seinem Leserbrief vom 27. Mai 2021 „Der Westen jagt Snowden und foltert Assange“ zeigt Karel Walter sehr gut auf, mit welch unterschiedlichen Ellen Vorgänge und Handlungsweisen gemessen werden. Recht und Gesetz werden gebrochen und die offenkundige Missachtung wird heftig angeklagt oder als gerechtfertigt verteidigt, je nachdem, welche Interessen jeweils verfolgt werden. Die Ausführungen von Herrn Walter stellen anschaulich dar, wie uns dies auch in den Medien vermittelt wird. Breite Entrüstung über die Vergiftung und Inhaftierung von Herrn Nawalny, so gut wie keine Informationen über die jahrelange Festsetzung und Einzelhaft von Julian Assange, die doch beide in keinster Weise nach rechtsstaatlichen Grundsätzen behandelt werden! Die Landung eines Flugzeuges in Minsk 2021ist schließlich auch nicht weniger erzwungen und zu verurteilen als eine in Wien im Jahr 2013! Was wäre wohl damals mit Edward Snowden geschehen?? Und noch eine Nachricht von heute in der FR: In dem Artikel „Macrons Reise in die finstere Vergangenheit“ auf Seite 6 wird erwähnt, dass der Machthaber von Ruanda den Oppositionsführer des Landes in Kigali festsetzen konnte, nachdem dessen von den Vereinigten Emiraten nach Burundi gebuchter Flug wegen Terrorgefahr“ nach Kigali (Hauptstadt von Ruanda) „umgeleitet“ worden war. Wer hat sich da entrüstet?

  6. Ich schließe mich den Beiträgen von Stefan Briem und Klaus Philipp Mertens an.
    Selbstkritische Haltung ist eine schöne Sache. Ich kann aber nichts davon in den Beiträgen von Peter Boettel und Dieter Murmann erkennen. Dagegen sehr viel Rechtfertigung für einen üblen Diktator. Vor allem, wenn der Beitrag mit der Sache nichts zu tun hat wie bei Peter Boettel oder so von Verallgemeinerungen strotzt wie der von Dieter Murmann. Und Martin Niemöller dafür zu missbrauchen ist schon ein starkes Stück.

  7. @ Werner Engelmann, Klaus Philipp Mertens

    Niemand hat bisher das Verhalten von Lukaschenko gerechtfertigt. Es wurde unter anderem auf die Tatsache hingewiesen, dass bei der Beurteilung von vergleichbaren Vorgängen, je nach dem ob diese der Osten oder der Westen zu verantworten hat, bei der Beurteilung Doppelstandards gelten. Wir sind per se die Guten und die anderen sind per se die Bösen. Ganz so einfach ist die Welt nicht.

    Dies trifft für die Vorgänge in Wien und Minsk zu und auch für die Art und Länge der Berichterstattung in den letzten 10 Jahren über Assange und seit einiger Zeit über Nawalny.

    Wer etwas über Rechtsstaatlichkeit und demokratische Kontrolle in westlichen Staaten wie den USA, Großbritannien oder Schweden erfahren will, dem empfehle ich das jetzt erschienene Buch von Nils Melzer „Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung“. Nils Melzer ist Professor für internationales Recht und wurde 2016 vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt. Er schreibt: „Der Fall Assange zeigt, dass es den Regierungen heute nicht mehr um legitime Vertraulichkeit geht, sondern um die Unterdrückung der Wahrheit zum Schutz von unkontrollierter Macht, Korruption und Straflosigkeit.“ Dies bezieht sich auf das Verhalten der Regierungen der USA, Großbritanniens und Schwedens.

    @ Klaus Philipp Mertens

    Ich bin schon erstaunt. Für Lukaschenko verwenden Sie die Bezeichnung „Kakerlake“. Dass die Opposition in Belarus angeblich dieselbe Wortwahl anwendet, macht es nicht besser. Die Entmenschlichung von Personen als Ungeziefer hat in unserem Wortschatz und in unserer Gedankenwelt nichts verloren. Sie verstößt gegen ein humanistisches Menschenbild und gegen den Respekt vor der Würde des Menschen. Dies gilt umfassend – auch für Verbrecher.

  8. @ Manfred Heinzmann:

    Danmke für die eindeutige Klarstellung unserer Kommentare.

    Weder Sie noch Dieter Murmann oder ich haben jemals Partei für Lukaschenko oder andere Diktatoren ergriffen, sondern lediglich

    – die unterschiedliche Behandlung

    – gleichgelagerter Fälle

    (Navalny oder Protasewitsch einerseits und Assange Snowdon andererseits) kritisiert.

  9. @Klaus Philipp Mertens schreibt:
    „Zum Abschluss noch eine Anmerkung zu Gregor Gysis unangemessenem Vergleich zwischen dem Piratenakt von Minsk und dem erzwungenen Zwischenstopp des Flugzeugs, in dem Boliviens Präsident Morales saß, aber der Whistleblower Assange vermutet worden war…“.
    Mich würde schon interessieren, weshalb der Vergleich unangemessen gewesen sein soll. Morales‘ Flugzeug wurde zum Landen gezwungen, indem einige EU-Staaten den Luftkorridor sperrten. Er war zu diesem Zeitpunkt immerhin Staatspräsident. Hätte sich der Gesuchte in dem Flugzeug befunden, wäre er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhaftet und an die USA ausgeliefert worden. Unangemessen ist der Vergleich deshalb, weil Nato-Staaten sich erdreisteten, ein gewähltes Staatsoberhaupt aufgrund einer Vermutung, wie Sie schreiben Herr Mertens, für rund zwölf Stunden festzuhalten.
    P.S.: Ich habe Ihren Leserbrief ziemlich gleichen Inhalts in der FR gelesen und fand online diese Möglichkeit, mir eine Anmerkung zu gestatten.

  10. Ich glaube, es wird Zeit, den kriminellen Block Minsk-Moskau einmal genauer zu untersuchen! Als Alt-Linkem fällt es mir schwer, diese Mail zu schreiben, sie ist aber notwendig!
    Mein technisches Verständnis lässt mich sehr stark vermuten, dass die Flugzeug-Piraterie in Minsk ohne Mitwirkung eines funktionierenden Geheimdienstes nicht möglich gewesen wäre. Politisch macht die Aktion in Minsk auch Sinn, man probiert halt einmal, wie die EU und andere Staaten reagieren. Man schaut scheinbar unbeteiligt und „überrascht“ zu… für mich hat die Verfahrensweise eine Ähnlichkeit zu den „Versuchsrepubliken“ im Donbas.
    Dann schreckt mich heute auf, dass sogenannten Influencern gegen Bezahlung negative „Gutachten“ zu Biontech-Pfizer-Präparaten von einer britischen Agentur angeboten wurden, deren Kontakte nach Moskau reichen! Diese gefälschten Gutachten wurden auch international angeboten und zum Teil (Indien) bereits veröffentlicht.
    Ich denke es wird Zeit, über einen existierenden politisch-kriminellen Komplex zu berichten! Wenn ich wie ein Querdenker veranlagt wäre, würde ich sofort vermuten, dass diese Idioten, die in München und bei Berlin mit Feuer zündeln, auch Geld bekommen haben. Ich meine den Brandanschlag im Münchener Osten, der angeblich gegen Rohde&Schwarz (militärischer Komplex! Was schon lange nicht mehr stimmt, 95% Mobilfunk!) gerichtet war und der heutige Anschlag gegen die Baustelle von TESLA, da kenne ich die genaue Begründung noch nicht.

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