Geschichte vom Fremdsein
von Renate Stoffer
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Ich wurde im November 1944 in einer Kleinstadt der ehemaligen Tschechoslowakei geboren. Bis zum Krieg lebte meine sudetendeutsche Familie nach eigenen Aussagen gut mit den tschechischen Nachbarn zusammen. Man hatte tschechische Freunde, meine Mutter besuchte eine tschechische Schule, meine Großeltern führten ein mittelständisches Unternehmen, Oma war Klavierlehrerin und hatte nebenbei eine kleine Landwirtschaft.
Solange, bis der zweite Weltkrieg alle bestehenden Strukturen und Beziehungen zerschlug.
Nach dem Krieg wurden meine Mutter, meine Oma, mein 5-jähriger Bruder und ich in ein Sammellager eingewiesen, wo mein Bruder an Diphterie verstarb. Mein Vater war im Krieg „gefallen“. Wir drei Frauen wurden schließlich halb verhungert, krank und – im Fall der Erwachsenen – sicher traumatisiert in einen Güterwaggon geladen und in einem kleinen oberhessischen Dorf wieder ausgekippt. Von diesem Zeitpunkt an wurden wir als „Flüchtlinge“ bezeichnet.
Die Dorfbevölkerung, von uns „Einheimische“ genannt, reagierte feindselig und ängstlich auf uns, meine Mutter und meine Oma ihrerseits fühlten sich innerlich den großenteils als ungebildet erlebten Dorfbewohnern überlegen, zeigten es aber nicht, sondern „krochen“ vor ihnen, um ein bisschen Nahrung zu erbetteln. Das führte unter anderem dazu, dass die Flüchtlinge als „falsch“ verschrien wurden. Bis heute erinnere ich mich daran, dass eine Bauersfrau auf mich zeigte und höhnisch sagte „die hat die Falschheit im Haar“. (Ich hatte als ganz kleines Mädchen ein Kränzchen aus Löwenzahn auf den Kopf geflochten).
Renate Knödl bei ihrer Einschulung
im Jahr 1951. Foto: Privat
„Dei schwätze viernehm“ („die reden vornehm“, wollen etwas besseres sein) war auch ein häufig gehörter Satz. In den Aufbaujahren hatten einige Sudetendeutsche im Dorf die Gelder des Lastenausgleichs und enorme eigene Arbeitskraft genutzt, sich bescheidene Häuschen zu bauen. Dieser Lastenausgleich war eine Quelle ständigen Neides bei der Dorfbevölkerung bis hin zur Unterstellung, die Gelder seien nur durch große Lügen der Betroffenen gezahlt worden; in Wirklichkeit seien sie zu Hause ganz arme Schweine gewesen. Die Straße, in der diese Häuser entstanden, wurden im Dorfjargon „Knödelberg“ und „Bittscheenstraße“ genannt.
Ich bin als Kind aufgewachsen in einer Umgebung, die mich und meine Familie eigentlich nicht wollte, abgelehnt hat, weil wir fremd und von daher bedrohlich waren, auch wenn wir dieselbe Muttersprache hatten.
Was hat schließlich bei der Integration und Akzeptanz geholfen?
Der große Ehrgeiz der „Flüchtlinge“, ganz neu anzufangen und etwas aus ihrem jetzigen Leben zu machen brachte, brachte nach und nach eine Wende in die Situation der bis dahin immer wieder diskriminierten Fremden. Auch Zeit und die Gewöhnung aneinander spielte wohl eine große Rolle.
Bei der Beschäftigung mit unseren heutigen Flüchtlingen fällt mir vieles von damals wieder ein; ich weiß wie man sich fühlt, wenn man als fremd abgelehnt wird und hoffe sehr, dass wenigstens die, die damals eine ähnliche Erfahrung gemacht haben, sich wieder daran erinnern.
Renate Stoffer
lebt heute in Frankfurt.
Foto: privat