Wir konnten sogar ein Ferkel großziehen
Von Gertrud Stawski
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Erste Maitage 1945. Plötzlich Stille. Die seit Ende Januar heulenden Stalinorgeln, mit denen die Rote Armee das von Hitler zur Festung erklärte Breslau beschoss, schwiegen. Sie hatten Tag und Nacht geheult. Ein beängstigendes Geräusch, das wir auch in Waldenburg, heute Wałbrzych, hören konnten. Ich wurde in dieser Stadt geboren und war damals 17 Jahre alt.
Obwohl die Front also nicht unweit verlief, legte ich noch im März meine Gesellenprüfung ab. Im April erhielt ich das erste und einzige Mal meinen Gesellenlohn. Ich arbeitete in einer Fleischerei.
Auch wenn es in meiner Heimatstadt keine unmittelbaren Kriegshandlungen gab, wurde ich zum Schanzen verpflichtet. Das heißt, dass Gräben ausgehoben wurden, die für mögliche sowjetische Panzer ein Hindernis sein sollten. Hier sah ich zum ersten Mal jüdische Menschen in ihrer an Pyjamas erinnernde Kleidung. Kleidung, ein beschönigendes Wort. Sie trugen gestreifte Lumpen, die keinen Schutz vor der Witterung boten. Als mein Vater im Winter in einem beheizten Bauwagen saß, wurde die Tür aufgerissen, und einer dieser fast erfrorenen Menschen riss die Ofenklappe auf und hielt seine Hände in die Glut.
Wir wussten vom Schicksal der jüdischen Menschen. Da wir regelmäßig die deutschsprachigen Sendungen aus London hörten, waren wir informiert. Lange Zeit schon war uns bekannt, dass sie in Massen ermordet wurden. Wer sagt, er habe damals nichts gewusst, lügt! Wer wollte, konnte sich informieren. Das Hören Londons war keine Heldentat. Man musste eben vorsichtig sein und nicht mit verbotenem Wissen prahlen. Aber auch das gab es. Menschen in der Nachbarschaft, die im KZ ihren Mordgeschäften nachgingen und sich ihrer Schandtaten rühmten.
Von Hitlers „Heldentod“ durch Selbstmord erfuhren wir am 1. Mai. Die Front kam Waldenburg näher. Der Besitzer der Fleischerei forderte uns auf, uns im Warenlager seines Betriebes zu bedienen. Ich entschied mich für zwei Seiten fetten Speck. Er war gepökelt und geräuchert. Speck war für meine Familie wichtiger als Frischfleisch, weil haltbar. Der Mai war heiß. Außerdem entschied ich mich für einen Sack Kochsalz. Das war uns in dem Jahr bis zur Vertreibung besonders nützlich. Salz wurde knapp. Menschen, die Vieh- oder Streusalz benutzen, erkrankten schwer, starben sogar.
Meine Eltern, meine zwei Brüder und ich hatten am 9. Mai, einem Mittwoch, unsere erste Begegnung mit der sowjetischen Armee. Wir standen am Waldrand zwei Rotarmisten gegenüber. Einer sagte knapp:“Hitler kaputt. Wojna (Krieg) kaputt“. Dann rannten beide schnell fort in den Wald. Sie hatten Angst; wir auch.
Die Rote Armee hatte das Sagen. Polnisches Personal kam später. Mein Vater arbeitete bis zum Kriegsende in einem Baugeschäft. Dem Besitzer gehörte auch ein Sägewerk. Es wurde von der Roten Armee beschlagnahmt. Der ehemalige Besitzer, mein Vater und ich waren in dieser Sägemühle beschäftigt.
Der Wochenlohn betrug 57 Złoty, Gegenwert für ein Brot. Außerdem erhielten wir von den Sowjets „Deputat“. Alle zehn Tage gab es: 10 g Tee, 100 g weißes Mehl, 1000 g dunkles Mehl und kleine Mengen Fleisch und Zucker. An die Mengen kann ich mich nicht mehr erinnern. Das Fleisch reichte für eine bescheidene Mahlzeit.
Gertrud Stawski nach der Flucht
im Jahr 1948 im niedersächsischen Kirchdorf
Wir wohnten ländlich, hatten eine Ziege, Kaninchen und Hühner. Die Ziege war geschlachtet, das Fleisch eingeweckt worden. Die Kaninchen hatten uns die immer schlecht versorgten Sowjetsoldaten gleich anfangs gestohlen.
Besonders wichtig war für uns der Stempel auf der Armbinde, die wir zu tragen verpflichtet waren. Er wies uns als bei der Roten Armee Beschäftigte aus, gewährte etwas Schutz, verhinderte Übergriffe durch Soldaten, später auch durch polnisches Militär- und Zivilpersonal. Der Hass auf Deutsche war verständlicherweise groß. Wir wussten, dass sich Russen und Polen nicht mochten. In kritischen Situationen konnte man sich an die einen oder anderen wenden. Man rief um Hilfe. Meist arbeiteten sich dann Russen und Polen aneinander ab und wir blieben außen vor.
Die weiße Armbinde machte uns als Deutsche kenntlich. Dieses System haben die Nazis in den von ihnen besetzten Gebieten eingeführt. Dass der Stoffstreifen das Gegenstück zum gelben Stern war, musste uns niemand erklären. Die schwarze deutsche Vergangenheit holte uns immer ein. Einiges wurde in diesem Jahr von der polnischen Verwaltung übernommen. So der O-Bus-Verkehr. Deutsche durften mitfahren, jedoch waren ihnen die Sitzplätze verwehrt. Kamen einem auf dem Trottoir Polen entgegen, musste man auf die Straße treten. Bei Russen war das nicht so. Klagten wir darüber, meinte mein Vater, dass kein Grund dazu bestünde; wir haben es ja vorgemacht.
Zum 3. Juni 1946 kam von der polnischen Militärkommandantur der Vertreibungsbefehl. Im Grunde genommen waren wir froh. Die Zeit der Ungewissheit endete. Dass die Ausweisung kommen würde, war uns klar. Nicht anders als bei den Vertreibungen der Tschechen aus dem Sudetenland oder der Polen aus dem Warthegau durch die Nazis, war die Menge an Gepäck, das wir mitnehmen durften, begrenzt: 20 kg pro Person. Den Schlüssel mussten wir in der Tür unseres Hauses stecken lassen.
Zwei Tage waren wir in einer Schule interniert. Der Ausweisungsbefehl kam kurzfristig. Wir hatten Wäsche gewaschen und mussten zusehen, dass wir sie trocken bekamen. Die Erinnerung daran kam mir Jahre später beim Lesen von Lenz‘ „Heimatmuseum“, wo bei der Flucht ein Honigeimer auslief.
Am 5. Juni 1946 marschierten wir zum Bahnhof. In Viehwaggons (alles wiederholt sich) begann die Fahrt in den Westen. Wir waren fünf Tage unterwegs. Rechts und links der Gleise lagen die Armbinden, die wir tragen mussten. In Erwartung der Vertreibung hatten wir über längere Zeit dünne Brotscheiben getrocknet, um Proviant zu haben. Der Zug stand mehrfach auf freier Strecke. Die Bahnstrecken waren marode. In Bahnhöfen wurde auf Abstellgleisen gehalten. Dort gab es Gelegenheit, seine menschlichen Bedürfnisse in Pferdetränken zu verrichten. Und immer wieder wurden wir mit Insektenpulver bestäubt, um Ungeziefer zu entfernen. Läusebefall war nicht ungewöhnlich. In der britischen Zone wurden wir im Gegensatz zur SBZ auch wieder versorgt.
Pfingstmontag, am 10. Juni 1946, trafen wir in Bremen ein. Von dort wurden wir mit Lkws in den Ort Kirchdorf bei Diepholz gefahren. Ich wohnte in einem ehemaligen Gasthof. Wir wurden freundlich und gut aufgenommen, kamen in eine ganz andere Region – aus dem Gebirge in flaches Moorland. Die Menschen sprachen Niederdeutsch. Morgens klapperten die Kinder in ihren Holzschuhen zur Schule, und durch mein Fenster konnte ich sehen, wie der Pastor seine Beine nacheinander auf das Fensterbrett schwang, um seine Schuhe zu putzen. Kleine Begebenheiten, die noch heute bei mir präsent sind. Rückblickend erinnert das Leben in Kirchdorf manchmal an die NDR-Schulfunkreihe „Neues aus Waldhagen“.
Gertrud Stawski in Kirchdorf mit drei Kindern,
die in ihrer Unterkunft wohnten. Sie waren 1945
in Osnabrück ausgebombt worden
Meine Eltern und Brüder wohnten in der Nachbarschaft, die Familie war beisammen, was wichtig war. Mein jüngster Bruder machte in Kirchdorf eine Lehre. Wir arbeiteten. In der Landwirtschaft und im Moor beim Torfstechen, um für den Winter das Heizmaterial zu gewinnen und den Küchenherd zu betreiben. Die Winter waren ungemütlicher als in den schlesischen Bergen. Aber die Sommer im Moor traumhaft schön.
Im Gegensatz zum Nachkriegsjahr in Waldenburg war die Versorgung in Niedersachsen gut, Hunger ein Fremdwort. Vom berüchtigten Hungerwinter erfuhren wir erst später. Unser Einsatz wurde in Naturalien entlohnt. Die Familie konnte ein Ferkel großziehen. Wie Pastor, Dorfpolizist oder Bürgermeister schlachteten wir schwarz. Die Zeit in Norddeutschland erinnere ich gern. Wir hatten viel Glück. Die meisten der Flüchtlinge und Vertriebenen wurden nicht so herzlich aufgenommen, obwohl es sich um Landsleute handelte. Heute wollen das viele angesichts der Flüchtlinge aus Syrien nicht wissen, wenn sie die Lage von damals verklärend erwähnen.
Meine Eltern gingen später nach Duisburg. Ich zog im März 1949 zu einer Tante nach Recklinghausen, weil ich dort Arbeit fand und später heiratete. Wir waren bei einer Frau einquartiert, die Kaffeeschmuggel betrieb und mit Kruzifixhandel tarnte. Der Kaffeegeruch hätte allen Rosenkränzen zum Trotz den Schwarzhandel auffliegen lassen. Wegen des Bergbaus und der Industrie erinnert mich die Stadt an Waldenburg.
Ich muss aber auch sagen, dass ich nie wirklich heimisch wurde. Doch niemand aus meiner Familie hatte je das Verlangen, zurück nach Schlesien zu gehen. Anfangs lehrten uns dies die nackten Tatsachen. Etwas später, als man Tritt gefasst hatte, kam die Erkenntnis hinzu, dass unser Schicksal selbst gemachter Bauchschmerzen war. Eine Erkenntnis, die meine Eltern viel früher hatten und uns zu vermitteln wussten.
Gertrud Stawski, ehem. Fuhrmann,
geb. 1928 in Waldenburg
(Niederschlesien, heute Walbrzych).
Seit 1949 in Recklinghausen,
verheiratet, ein Sohn.
Foto: privat.