„Da ist kein Platz mehr“

(Originaltitel: Im Kral *)

von Dietrich Stahlbaum

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Die Briten hatten die Halbinsel Wagrien im Norden Deutschlands zwischen Kiel und Lübeck zugemacht, um hier in Ostholstein und auf Fehmarn Hunderttausende, wenn nicht Millionen deutscher Soldaten gefangen zu halten. Sie sollten nach und nach entlassen werden, wurden aber oft monatelang ohne sichtbaren Grund festgehalten.

Mitten in diesem riesigen Kral liegt das Landgut, das meiner Familie zur zweiten Heimat werden sollte. Es gehörte dem „Alten Fritz“, einer Großtante, die von „ihren Leuten“, den Landarbeitern, so genannt wurde, weil sie mit ihrem zerknitterten Filzhut und ihrem Krückstock dem Greis aus Potsdam sehr ähnlich sah. Die Madame war auch so resolut wie er und wurde deshalb bewundert und gefürchtet.

Auf dem Hof und auf den Wiesen an den Scheunen standen große Zelte. In ihnen waren Offiziere untergebracht. Unteroffiziere und Mannschaften hatten kleine Zelte, aus Dreiecksplanen zusammengesetzt.

Die Wohngebäude waren mit Ostflüchtlingen „belegt“, wie es damals hieß. Ebenso alle Kammern und Stuben in den Scheunen und Schuppen. Menschen, die wir nicht kannten, nahe und entfernte Verwandte, wir aus Ostpreußen und ein ganzer Clan aus Pommern. Sie alle aufzunehmen, war für meine Großtante eine Selbstverständlichkeit. Wo Not war, da half sie, so gut sie konnte. Sie war fast achtzig, damals ein hohes Alter.

Ich hatte hier Gelegenheit, meine „Helden“ näher kennen zu lernen: die Herren Militärs. Sie waren mir bislang als Vorbilder vorgehalten worden. Nun hatten sie – in meinen Augen – mit ihren Insignien und ihrer Autorität den Status als Idole verloren. Einer von ihnen ließ sich von seinem Burschen Kippen sammeln, ein anderer Rosenblätter trocknen. Der Tobak wurde, in Zeitungspapier eingewickelt, geraucht. Das stank so fürchterlich, dass ich mir erst einmal das Rauchen abgewöhnt habe. Das Menschlich-Allzumenschliche, das ich zu sehen bekam, ließ mich ernüchtern und vom Glauben an jegliche Autorität abfallen.

Erzählt werden soll hier noch die Geschichte eines Mannes, der den ganzen Landkreis in Aufregung versetzt hat, am meisten die Wohlhabenden, und dann allen zeigte, wie man Feinde zu Freunden macht:

In der Mittagspause saß ich meistens auf der Veranda und schaute auf den großen, weiten, mit weißem Kies bestreuten Hof. Ich sah den Hühnern zu, den Gänsen, Spatzen, Tauben, der Entenmutter mit ihren Küken und den Ferkeln, die immer wieder um den „Pudding“, ein rundes Blumenbeet in der Mitte des Hofes, herumliefen und quietschten. Gegenüber, vorm Pferdestall, war ein Weg, der von der Hauptstraße über den Hof und weiter führte, zum nächsten Dorf. Er war mit großen Kopfsteinen gepflastert.

Es war ein heißer Sommertag. Ich war etwas eingeduselt und schreckte auf. Unser Schäferhund meldete unerwünschten Besuch, während eines der Pferde, das an der Stallwand angebunden war, freudig zu wiehern begann. Es kamen zwei Reiter herangeritten, Männer in britischen Uniformen, ein Offizier und ein Corporal.

Sie banden ihre Pferde an eine Teppichstange neben dem Gutshaus und steuerten auf mich zu. Ich war hinausgegangen und stand auf der Freitreppe, um sie zu empfangen. Ein kurzer militärischer Gruß, und der Corporal fragte auf Deutsch:

„Wo ist Madame B.?“

„Madame B. hält Mittagsschlaf“, sagte ich. „Sie ist achtzig Jahre alt, krank, und darf jetzt nicht gestört werden.“

Das schien sie nicht zu beeindrucken, denn der Offizier, ein Major, drängte mich zur Seite, öffnete die Verandatür und betrat die Diele. Ich ging hinterher. Schon hatte der Major die Türklinke zum Schlafzimmer meiner Großtante in der Hand.

„Ist sie hier?“

Ich konnte nicht mehr verhindern, dass er eintrat, die im Bett liegende Greisin sah, umkehrte und auf Englisch eine Entschuldigung stammelte.

Ich musste dem Major und seinem dolmetschenden Corporal alle Zimmer, Kammern und sonstigen Räume zeigen – sie wurden vermessen – und die Anzahl der Menschen nennen, die sie benutzten.

Am Ende sagte der Offizier, nun auf auf Deutsch: „Da ist kein Platz mehr“, und verabschiedete sich mit einem freundlichen Blick.

NissenhütteBald hörten wir, dass der Major die Stadtkommandantur befehligte und sich rigoros um eine menschenwürdige Unterbringung von (deutschen) Ostflüchtlingen kümmerte. Die Baracken, wir nannten sie „Nissenhütten“, waren überfüllt. Und sie suchten Quartier für weitere Flüchtlinge.

„Nissenhütte“
Foto: privat

Die wohlhabenden Einheimischen waren davon nicht begeistert, bis man sich persönlich näher kam und erfuhr, dass der Brite, ein Teppichhändler und ehemals deutscher Jude, bis auf einen Sohn seine Familie bei einem Bombenangriff auf London verloren hatte und die übrigen Verwandten in einem KZ. Er habe, sagte er selber, anfangs alle Deutschen gehasst, dann aber habe er gelernt, zu differenzieren.

Das Jugendamt der Kreisstadt veranstaltete Sommerlager an der Ostsee. Teilnehmen konnten Kinder und Jugendliche aus Flüchtlings- und anderen minderbemittelten Familien. Ich hatte mich als Betreuer gemeldet, und wir waren gerade dabei, den einzigen Ball, den wir besaßen, mit den Füßen zu bearbeiten, als ein Jeep vorfuhr. Am Steuer ein britischer Soldat, neben ihm ein etwa fünfzehnjähriger Junge. Sie brachten Hand-, Fuß- und Volleybälle zu uns und luden Kartons ab.

Es waren Gummistiefel und Turnschuhe, ein Cricket-Spiel und  anderes darin. Der Junge stellte sich uns vor, in gebrochenem Deutsch. Sein Vater, sagte er, habe ihn nach Deutschland kommen lassen, damit er besser deutsch sprechen lerne. Die Sachen stammten aus einer Spende seiner Schulklasse. Er blieb eine Woche lang bei uns im Lager. Es war der Sohn des Majors.

***

*Kral bezeichnet einen »umzäumten Hofraum«, in dem das Vieh gehalten wird (ndld. kraal, port. curral), auch »Viehhof«.

Aus: FRISCH IN ERINNERUNG, das Ende des Zweiten Weltkriegs und das erste Nachkriegsjahr In: Dietrich Stahlbaum: Der kleine Mann …und andere Geschichten, Satiren und Reportagen aus sechs Jahrzehnten, Recklinghausen 2005. Die Printausgabe ist vergriffen. eBook.

Dietrich Stahlbaum, Recklinghausen

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