Ein eigenes Plumpsklo als Luxus

Von Rüdiger Hoffmann

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Die norddeutsche Kleinstadt Bockenem war nicht sonderlich von Kriegsfolgen betroffen. Flüchtlinge wurden naturgemäß bevorzugt untergebracht, wo etwas leer stand und was eigentlich unbewohnbar war. Durch eine Verkettung netter Zufälle hatte ich Gelegenheit, Plätze von damals aufzusuchen und fand einiges schmuck und zeitgemäß, anderes nahezu unverändert schäbig vor. Das Foto von 2013 zeigt sozusagen 1946 ff. in Farbe!

Hoffmann Schuppen 2Jeder Flüchtlingsfamilie wurde einer der abgebildeten Schuppen zugeteilt, die noch heute die Nummern von damals tragen. Meine Eltern hatten „irgendwie“ einen zweiten davon ergattert, den sie für einen Luxus der besonderen Art ausgebaut haben. Sie entflohen den Gemeinschaftstoiletten mit den anderen Flüchtlingen und bauten einen der Schuppen zum separaten Plumpsklo aus. Von schräg oberhalb schaute einen während des „Geschäfts“ öfter eine rötliche Ratte an. Neben den Kakerlaken in der Küche ist dies die wohl lebhafteste Ekel-Erinnerung aus der Kindheit.

Diese Ställe, noch durchnummeriert wie damals,
waren 1946 Unterkünfte für Flüchtlinge.
Foto: privat

„Die“ Flüchtlinge waren übrigens keine einheitliche Gruppe, die als ein „Wir“, eine „Schicksalsgemeinschaft“, wahrgenommen wurde. Der Lokus-Luxus war auch Abgrenzung gegen „diese Leute“. Und dass ein Kind, ich, später mal aufs Gymnasium kommen würde, war wohl schon damals ausgemachte Sache. Meine Eltern waren einfach entschlossen, sich wieder „hochzuarbeiten“ und „es“ zu schaffen.

In dem zweiten Schuppen wurde ein Haustier gehalten, das mit eiserner Logik den Weg vom Spielkameraden (das Schweinchen „Putscher“) zur Bereicherung des Speisezettels zu durchlaufen hatte. Aus Kindersicht war dieser Weg sehr ambivalent: das Zicklein akzeptierte mich als Chef und wich ständig meckernd nicht von meiner Seite. Ich war froh, als es weg kam.
Um Etagen höher in der Erinnerungshierarchie stehen allerdings die Erfahrungen von Zuwendung und Aufnahme der „Neubürger“ durch die Alteingesessenen aus dem Blickwinkel des Jungen von damals. Die Grundschule mit der sprichwörtlichen Unvoreingenommenheit von Kindern war eindeutig die entscheidende Instanz für Prozesse, die heute unter „Integration“ und „Eingliederung“ laufen. Mitschüler Gerhard hat das Flüchtlingskind mit in VatersTischlerwerkstatt genommen, wo wir unter liebevoller Aufsicht sägen und schnitzen durften; ein Messer aus unglaublich hartem Eichenholz habe ich heute noch. Mit Klassenkamerad Henning habe ich in der elterlichen Gärtnerei gespielt. Auf Betonfußboden kniend haben wir gemeinsam darum gerungen, uns nach dem Vorbild von Westernhelden und Indianern abzuhärten und Männer zu werden.

Dass alle von Haus aus die gleiche Sprache sprachen, war selbstverständlich: die Kinder untereinander, aber natürlich auch zwischen den Generationen. Diese Grundvoraussetzung fehlt heute oftmals, sie muss erst und unbedingt geschaffen werden.

Wir Flüchtlinge waren damals auch auf Spenden angewiesen, und dass die Kaffeekanne woanders ausrangiert worden war, wurde nicht als Demütigung empfunden.

Durch die allgemeine materielle Lage nach dem Krieg waren aber die Zwänge (zugleich Spielräume) zur Ertüchtigung durch eigene Leistungen ungleich größer als heute. Ein Ferkel oder Lamm aufziehen, einen Flecken Ackerland urbar machen, Beeren und Wildkräuter sammeln, den Rest eines Bäumchens zum Küchenquirl umarbeiten: all diese damals gängigen Dinge waren durch Not angetrieben, waren Teil eines Kampfes ums Überleben. Aber sie hatten auch den Aspekt von Tätigwerden, Lernen, sinnvollem Tun. Sie waren unfreiwillig, aber auch Beiträge zum Menschen als „homo faber“ und zum Leben als „vita activa“.

Diese wichtigen Dimensionen fehlen im Flüchtlingsdasein von heute weitgehend, sollten aber gerade in der wohlhabenden Gesellschaft der Gegenwart gefördert werden. Die späteren Rückwirkungen können auch für die zunächst Gebenden nur positiv sein: wer als Kind in einer Atmosphäre von Warten, Bitten, Anstehen und Erdulden aufgewachsen ist, tut sich wahrscheinlich auch später schwer mit dem Entwickeln von Qualitäten und Qualifikationen, die für ihn selbst wie auch im Arbeitsleben und in der Zivilgesellschaft von heute unerlässlich sind.

Rüdiger Hoffmann, Göttingen

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